Samstag, 26. Dezember 2009

Mittwoch, 23. Dezember 2009

Wir befinden uns in einer Scheune im Nordosten unseres Landes,

in Amerika, im Hochsommer des Jahres, in dem der Präsident sich einem Amtsenthebungsgesuch gegenübersah, und bislang waren wir sowenig romanhaft wie die Kühe mythisch oder ausgestopft waren. Das Licht und die Hitze des Tages (dieser Segen), die gleichbleibende Geruhsamkeit des Lebens einer jeden Kuh, das dem Leben der anderen Kühe entsprach, der verliebte alte Mann, der die geschmeidigen Bewegungen dieser tüchtigen, energischen Frau verfolgte, die Verklärung, der er sich hingab, der Eindruck, als hätte er nie etwas Ergreifenderes erlebt, und auch mein eigenes bereitwilliges Warten, meine eigene Faszination angesichts der Vielfalt, der Variantionsbreite, der anarchischen Ungeregeltheit sexueller Verbindungen und angesichts des Gebots an Mensch und Vieh, an hochdifferenzierte ebenso wie an kaum differenzierte Lebensformen, zu leben und das Leben nicht bloss zu ertragen, sondern es zu l e b e n und seine sinnlose Bedeutsamkeit fortwährend hinzunehmen, weiterzugeben, zu füttern, zu melken und aus vollem Herzen als das Rätsel anzuerkennen, das es ist - all dies wurde von zehntausend winzigen Eindrücken als Teil der Wirklihkeit bestätigt. Die sinnliche Fülle, der Überfluss, die reichliche, überreichliche Vielfalt der Einzelheiten, die die Rhapsodie des Lebens ausmachen.
Philip Roth, in: Der menschliche Makel. Hanser 2002.

Dienstag, 22. Dezember 2009

Es rührt mich an...

... mit welcher Sorgfalt da Gartenwege angelegt, mit welcher Emphase Balkone möbliert sind, mit welcher Entschiedenheit Strassen überquert, mit welcher Inbrunst Stühle vor Tische gerückt werden. Ganz leicht kommt mir die Stadt vor, ein Hauch, die Einwohner Luftbläschen, die mit tiefem Ernst Brötchen tragen und Grillwürstchen im Rauch wenden. Mit welcher Würde, mit welcher Ergebenheit jeder sich selber spielt, bis zum bitteren Ende. Was für ein wunderschönes Gärtchen wir anpflanzen mit Bäumchen und Stühlchen und Sonnenschirmchen. Was für herrliche Wohnblöckchen mit zierlichen Treppenhäuschen und Schornsteinchen obendrauf, was für saftiggrüne Hügelchen dazwischen, was für Rutschbähnchen, was für Bierfläschchen, was für Messerchen! Die einen spielen torkelnde Säuferchen, die anderen spielen kurzgeschorene Muskelmännchen, krawattentragende Prokuristchen. Mütterchen tauchen auf, einigen perlen Tränchen über die Wangen, die Chromstahlteilchen an den Krankenhausbettchen blitzen kostbar, und nicht einer, der sagt, ich verstehe mich nicht; nicht einer, der zu flattern beginnt; nicht einer, der übers Wasser entwischt. Alle bleiben und sind ganz ernst in ihrem Tun, ganz sicher in ihrem Glauben, dass dies eine Stadt sei, dass sie einzig dazu da seien, auf diese Art zu leben, Kinder zu kriegen, sich nach Balkonen zu sehnen. Eine heisse Welle von Glück über diese Sicherheit steigt in mir auf. Gleichzeitig steht die gnadenlose Sonne der Angst über mir, und ein umfasender Zweifel beginnt mich zu würgen, ob wir uns nicht vielleicht alle gegenseitig im falschen Leben halten, indem jeder die Ahnung, dass dies nicht das richtige ist, auf so tapfere Weise für sich bewahrt. Wir können gefoltert werden bis zum äussersten und würden trotzdem nicht preisgeben, dass wir nicht wissen, wer oder was wir sind, dass wir so sind, um keine Zeit und keine Gedanken darüber verlieren zu müssen, ob wir nicht vielleicht ganz anders sein könnten.
Matthias Zschokke, in: Ein neuer Nachbar. Ammann Verlag, 2002

Mittwoch, 16. Dezember 2009

Der Engel vom Hauptbahnhof



Letzthin unterhielt ich mich mit Fendi, meinem indonesischen Lebenspartner, über die alte Frau, die immer im Rollstuhl in der Hauptbahnhofshalle sitzt. Er hatte mit seinen Freunden gerätselt, was diese Frau wohl den ganzen Tag mache und warum sie da sei. Es gebe ihm jedes mal einen Stich ins Herz, wenn er sie so dasitzen sehe, weil sie ihn an seine Mutter erinnere. Zuerst hatten sie gedacht, sie sitze da, weil sie kein Geld habe, aber dann beobachteten sie, dass die Frau Geld energisch zurückwies und höchstens eine Blume oder einen Apfel als Geschenk akzeptierte. Einer kam dann auf die folgende Idee: Die Frau sitze da, weil sie als junge Frau ihren Geliebten verloren habe. Er habe sie verlassen und sei mit dem Zug weggefahren. Und nun sitze sie da und erwarte seine Rückkehr. Ist das nicht eine schöne, traurige Geschichte? Ich erklärte ihm dann, dass sie meines Wissens da sitze, weil sie sich von Gott höchst persönlich beauftragt fühle, die Ankommenden und die Abfahrenden zu beschützen und zu segnen, als Schutzengel gewissermassen – eine Interpretation, die ihm ebenfalls unmittelbar einleuchtete.

Dienstag, 15. Dezember 2009

Traurige Jäger (21)



Ihn wunderte nicht, dass die Zollbeamten wie Ärzte gekleidet waren; er wusste, dass im Staate Misericordia die Repräsentanten des Gesundheitswesens – ein Clan von Ärzten, Psychotherapeuten, Krankenschwestern, Sozialarbeitern – die Macht in ihrer Hand hatten. Natürlich waren auch die Zollbeamten in Misericordia Zollbeamte wie anderswo auch und keine Ärzte; trotzdem musste man als Besucher von Misericordia damit rechnen, dass man sich einer peinlich genauen Untersuchung seines Gesundheitszustands zu unterziehen hatte. Auch im weitesten Sinn als Kranke geltende Personen durften die Grenzen von Misericordia nicht passieren. Und wer ist schon nicht im weitesten Sinn krank?

Sancho Pansa, Journalist mit Embonpoint, gut gekleideter Porschefahrer, liess die umfangreichen Untersuchungen seines Körpers mit Gleichmut über sich ergehen, beantwortete willig alle Fragen, die man ihm stellte, um heraus zu finden, ob auch in seinem Kopf alles in Ordnung sei. «Nun, zumindest ist er kein Seuchenträger», murmelte der ranghöchste Zollbeamten-Arzt schliesslich, das Auto und sämtliche Habseligkeiten waren inzwischen auch desinfiziertem und Sancho konnte die Grenze passieren. «Helfen und Heilen!» las er auf unzähligen Plakaten und Flaggen, die links und rechts die Autobahn flankierten. Misericordia war der weltgrösste Produzent und Exporteur aller Arten von Pharmazeutika. Jetzt, dachte Sancho, brauche ich etwas zu trinken.

Er hielt an der ersten Raststätte. Natürlich konnte man sich in Misericordia nicht einfach etwas zu trinken bestellen; Alkoholausschank war offiziell nicht nur in Autobahnraststätten strengstens verboten. Der Fusel, den man zu übersetzten Preisen auf dem Schwarzmarkt angeboten bekam, schmeckt scheusslich und ruinierte nicht nur die Leber. Gott sei Dank hatte Sancho sein Reservefläschchen dabei, für das man sich an der Grenze seltsamer- und glücklicherweise überhaupt nicht interessiert hatte und dessen Inhalt er nun diskret in die Cola kippen konnte.

Sancho war einer der wenigen Journalisten, die die Grenzen Misericordias überschreiten durften, um eine Reportage über das «verbotene Land» zu schreiben. Sogar ein Interview mit dem ersten Misericordianer, dem Staatschef oder Oberstchefarzt, wie er hier genannt wurde, war ihm zugestanden worden. Ein wichtiger Job, der sich als Karrieresprung erweisen konnte. Sancho war mächtig stolz, dass die Chefredaktion ihn für diese Mission ausgewählt hatte.

Aber während Sancho so sass und an seiner mit Wodka versetzten Cola nippte und ein wenig stolz auf sich war, schlossen sich vier kräftige Hände um seine Arme und rissen ihn brutal zurück in die Wirklichkeit und Gegenwart. Zwei fast noch milchgesichtig junge Männer schauten ihn nicht böse, sondern fast traurig an. «Was soll denn das?!» fragte Sancho empört. «Lassen Sie mich unverzüglich los! Ich bin Journalist und beauftragt, eine Reportage über Ihr Land zu schreiben – ein Auftrag, der mich fast ein wenig stolz macht. Sie können sich sicher vorstellen, dass Ihr Benehmen keinen guten Eindruck hinterlässt.» Die Psychiatriepflegerburschen, die übrigens beide auffallend gut gebaut und hübsch waren, verzogen keine Miene in ihren Milch-und-Honig-Gesichtern. «Wir müssen Sie leider einer Blutprobe unterziehen. Sie stehen im Verdacht des illegalen Alkoholkonsums und damit der eigenwilligen Gefährdung Ihrer Gesundheit. Da in unserem Land Rechtsgleichheit herrscht, werden misericordianische Gesetze auch auf ausländische Journalisten, so selten sie bei uns auch zu finden sind, angewandt. Bitte folgen Sie uns widerstandslos. Wir wollen nur das Beste für Sie!»

Da wurde Sancho, was sonst nicht seine Art war, beinahe hysterisch. Die beiden hübschen Burschen lösten in ihm ein ihm völlig neues Gefühl der Panik aus. Er verlangte nacheinander nach einem Anwalt, nach einem Kontakt mit seiner Botschaft, zuletzt absurderweise gar nach einem Arzt. Die beiden Weisskittel redeten besänftigend auf ihn ein, während er aus der Raststätte gezerrt, geschleift und getragen wurde, verfrachteten ihn in ein Dienstfahrzeug, dessen Türen mit dem Wappen Misericordias («Helfen und Heilen») geschmückt waren. Verpassten ihm eine Spritze. Sogleich war er bereit, sich in alles, was da auf ihn zukommen sollte, heiteren Sinnes zu schicken. Die Wärter hatten ihren harten Griff gelockert. Die Hand des einen ruhte nun warm auf Sanchos Oberschenkel, während der andere den Arm beinahe freundschaftlich um seine Schultern gelegt hatte. Sanchos Kopf glühte, so sehr schämte er sich der Erregung, die machtvoll von ihm Besitz ergriffen hatte.

Samstag, 12. Dezember 2009

Winter, am Rand der Stadt

Man schämt sich

Man schämt sich, ich zu sagen.
Man kann sich nur den Schädel einschlagen.
Das Leben lässt sich nüchtern nicht ertragen.
Man schämt sich, ich zu sagen.

Donnerstag, 10. Dezember 2009

Traurige Jäger (20)

Aber eine Stunde später schon ritten zwei uns wohlbekannte Gestalten – der lange Dünne mit dem Texanerhut auf dem Schädel auf einem klapperdürren Ross, der kleine Dicke auf einem kurzbeinigen Esel, beide mit Scheriffsstern auf der Brust – in die nächtliche Wüste hinaus. Der Himmel war von den vielen gut sichtbaren Sternen wirklich erstaunlich hell. Jetzt, in der Nacht, war es empfindlich kühl geworden, und Sancho und der Sheriff ritten in einem so flotten Tempo, wie es die Pferdestärken von Esel und Klappermähre gerade eben noch erlaubten.

Plötzlich hörte Sancho ein grässliches Schreien, das ihm sämtliches Blut in den Adern gerinnen liess. «Ach,das sind doch bloss die Affen», sagte der Sheriff, als er das Erschrecken seines Assistenten bemerkte. «Aha, nur die Affen», sagte Sancho und wiegte den Kopf.

Sie ritten die ganze Nacht, kreuz und quer, wie es Sancho schien (aber wie will man das in der Wüste beurteilen), ohne dass sich etwas Erzählenswertes ereignet hätte; ausser, dass der Sheriff einmal das ganze Magazin seiner Pistole auf einen harmlos dastehenden, wenngleich stacheligen Kaktus abfeuerte. Irgendetwas musste Don Quichotte an dem Kaktus erschreckt oder irritiert haben. Sancho war aber so taktvoll, den Sheriff nicht nach dem Grund dieser Irritation zu fragen. Trotzdem schien Don Quichotte für den Rest des nächtlichen Streifzuges etwas verlegen zu sein. «Du hast», sagte er zu Sancho, «wie alle allzu freundlichen Menschen etwas Schizophrenes an dir.» Ansonsten wurde zwischen den beiden nur noch wenig gesprochen.

Es dämmerte bereits der Tag, als sie müde und hungrig und staubig endlich wieder zuhause anlangten. Die Schwester des Sheriffs schlief wohl noch. Der Hund war bereits ausgeschlafen und bellte morgenfroh, nicht ahnend, dass er schon bald aus dieser Geschichte verschwinden muss. Sancho schlug vor, ein paar Eier zu braten, vorzüglich zu etwas Schinken und Speck, aber der Sheriff wollte wieder einmal nichts vom Essen hören. Deshalb beschränkten sie sich darauf, vor dem Schlafengehen ein letztes – oder vielmehr ein erstes – Glas zu trinken.

Als Sancho, der lange – getrennt durch die Unendlichkeiten von Raum und Zeit – nicht mehr auf einem Bett gelegen, die Glieder wohlig ganz fest und zärtlich auf der Matratze liegen fühlte und die Müdigkeit einer holdseligen Entspannung wich, da dachte er: So könnte es ewig sein, dieses Liegen ist das ganze Glück (der Schlaf sei ewig, doch das Erwachen gewiss). Dann schlief er schon, sank in einen neuen Traum. Die Momente des Glücks sind auch für einen Sancho von flüchtiger Natur. Don Quichotte aber ging auf und nieder, schlaflos, murmelte etwas zwischen den Zähnen hindurch und dachte nach und dachte nach.

Freitag, 4. Dezember 2009

Traurige Jäger (19)

Der Sheriff lud Sancho samt Hund dazu ein, in seinem Haus zu wohnen, das er mit seiner unverheirateten Schwester zusammen besass. Das Haus war verlottert und irgendwie altmodisch und vielleicht gerade deshalb sehr gemütlich. Die Schwester war eine schweigsame, mürrisch scheinende Frau mittleren Alters, die aber, wenn sie etwas sagte, einen klaren, nüchtern-sachlichen Geist besass. Zweifellos hatte es der Sheriff einzig und allein ihr zu verdanken, dass er ein einigermassen vernünftiges Leben zu führen vermochte, oder eben: vermocht hätte. Denn es ist einem Don Quichotte nicht vergönnt, ein einigermassen vernünftiges Leben zu führen. Das wissen wir ja.

Der Sheriff hatte ein eigenartiges Hobby oder vielmehr eine ziemlich ausgefallene Leidenschaft: Er sammelte Engel. Die standen in allen Grössen, Farben, Formen und Geschmacksnuancen im ganzen Haus herum und bildeten einen Gegenstand stetigen Zankens und Streitens zwischen den beiden Geschwistern. Aber der Sheriff, obwohl sonst von sanfter, gütiger Wesensart, liess sich auf keine Weise dazu bringen, von den Engelsfiguren, deren älteste nach seiner eigenen Aussage mehrere tausend Jahre alt war, abzulassen. Die Engel waren nämlich ein Teil der Lebensphilosophie Don Quichottes und hatten mit dem Kampf oder Kreuzzug zu tun, den er führte. Abends, nach einem einfachen, aber wohlschmeckenden Mahl, das aus Maisfladen, Hammelfleisch, einer Sauce aus Tomaten, schwarzen Oliven, viel Knoblauch, Rosmarin und Basilikum bestand, versuchte der Sheriff, seinem neuen alten Assistenten diese Lebensphilosophie auseinander zu setzen:

«Die Engel», führte Don Quichotte aus, «sind ein Symbol für die Zukunft des Menschen über den Menschen hinaus. In den Engeln vollendet sich das, was im Menschen erst angelegt ist als Möglichkeit. Der Mensch von heute ist ein Schlachtfeld, auf welchem die Engel der Zukunft mit den Gespenstern der Vergangenheit einen erbitterten, aber fairen Kampf kämpfen. Fair nenne ich ihn deshalb, weil der Ausgang dieses Kampfes immer wieder und immer noch ungewiss ist, also beide Seiten die Chance haben, ihn zu gewinnen.»

Der Sheriff machte eine bedeutungsschwangere Pause, in der das verächtliche Schnauben seiner Schwester deutlich hörbar war. Dann dozierte er weiter: «Ich stehe im Dienst der Engel. Ich ringe für den Engel in mir mit dem Schatten des Engels in meiner Brust. Ich fühle mich – verzeiht mir das Bild – zur Hebamme berufen, insofern fühle ich mich mit dem grossen griechischen Philosophen Sokrates verwandt; ich bin Hebamme, aber auch Gebärmutter und Embryo. Das ist alles so schwierig auszudrücken.» Don Quichotte seufzte.

Sie tranken Burbon oder Scotch, Sancho konnte das nicht so genau entscheiden. Jedenfalls schmeckte es scheusslich. Zumindest wenn mqn es mit einem guten spanischen Brandy verglich. Der Hund schnarchte.

«Die Engel haben ihre Antithese, ihren Kontrapunkt, ihren Schatten. Dieser Schatten ist nicht das Tier, oder das Tierische im Menschen, das wir meinen, wenn wir vom Teufel reden und im Hinblick darauf, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei. Nein. Das Tierische in uns ist wie eine wehmütige Erinnerung an eine längst vergangene, altvertraute Zeit. Mit der Entwicklung vom Menschen zum Engel, wenn ich so sagen darf, ist auch das Böse im Begriff, einen entsprechenden Schritt zu tun und seine verlockende, entsetzliche Melodie auf einer höheren – oder tieferen – Oktave zu spielen. So, wie die Engel ein Entwurf des Guten im Menschen sind, so sind die Schattenengel eine Projektion des Ungeheuerlichen in die Zukunft hinein. Dass beide Entwicklungen zusammengehören und sich bedingen, um ein Ganzes zu geben, braucht uns hier nicht zu interessieren, Sancho. Der Kämpfer ergreift Partei. Und zwar ohne Vorbehalte.»

Der Sheriff schwieg und trank. Sancho trank und schwieg. Die Schwester Don Quichottes murmelte: «Hirngespinste!» und nahm ebenfalls einen Schluck.

«Und so, wie das Engelhafte der Zukunft kraft seiner Potenz schon jetzt im Gegenwärtigen und gar im Vergangenen wirkt, Sancho, schwappt auch die Ungeheuerlichkeit des Bösen zurück ins Gegenwärtige. Das ist die Krankheit, von der ich dir sprach!»

Die Schwester sagte: «Dass es Gut und Böse gibt, ist ein Gesetz des Lebens. Sogar der tödliche Kampf ist ein Spiel. Nur Idioten machen eine Idee zur Tyrannin ihres Lebens. Eine Idee ist wirklich eine gute Geliebte für einen Mann: so treu, dass sie ihm schliesslich die Luft zum Atmen nimmt!» Die Schwester lachte trocken.

«Es gibt hier», fuhr der Sheriff fort, ohne sich in seinem Gedankengang stören zu lassen, «ganz in der Nähe und mitten in der Wüste das, was ich das Bermudadreieck der Zukunft nenne: Eine chemische Fabrik, in der hinter Stacheldraht, Elektrozaun und scharf bewacht von Männern mit Maschinenpistolen und Schäferhunden, die Alchemie unserer Zeit vorangetrieben wird. Es gibt eine Energiefabrik, in welcher der Funken aus dem Stein geschlagen wird und der Mensch sich die Gewalt der Materie untertan macht. Und es gibt eine Weltraumbasis, von welcher aus die Menschen – vorerst noch langsam wie die Mücken _ in die unendlichen Tiefen des Alls vordringen.

Hier, in diesem Bermudadreieck der Zukunft, zeigt das, was wir den Fortschritt der Wissenschaft nennen, sein Janushaupt ganz deutlich. Der so genannte Fortschritt könnte uns vielleicht helfen, mit der stets wachsenden Zahl von Menschen auf der Erde fertig zu werden, sie zu ernähren und zu erhalten – er kann uns zum Beispiel helfen, neue Heimstätten im Weltraum zu finden, er uns sogar zu so etwas wie einer gewissen Weisheit und einem begrenzten Verständnis führen – er kann aber auch bewirken, dass die Menschheit endgültig zu einer Monstrosität wird, zu einer Krankheit, zu einem Fieberwahn, den die Erde, will sie gesunden, erst einmal ausschwitzen muss.

Die Brutalität und Grausamkeit, die Menschen an Menschen verüben können und wollen und verüben in den grossen Krieger der Völker und den kleinen Kriegen des alltäglichen Zusammenlebens, diese äusseren Zeichen des Bösen sind ein vergleichsweise harmloser Widerschein der wahren zerstörerischen Kraft.»

«Das Böse», sagte die Schwester des Sheriffs darauf nur trocken, «ist keine selbstständige Kraft. Es ist ein Teil der Kraft, die sich selbst in einer bestimmten Art und Weise interpretiert. Es gibt, wie auch die Physik es sagt, nur diese eine Kraft, allerdings in sehr verschiedenen Manifestationen. Gott, mein lieber Bruder, ist blind.»

Sancho ging die Theoretisiererei der beiden allmählich auf die Nerven. Er wollte wieder einmal etwas Konkretes hören. Die Anwesenheit der Schattenengel, erfuhr er auf sein Drängen, sei im «Bermuda-Dreieck» besonders stark zu bemerken; man spüre sie wie einen kalten Hauch, der ganz und gar durch einen hindurchgehe, so, als wäre man bloss ein Knochengerüst ohne Fleisch und Haut. Ausserdem werde das Denken bei der Berührung mit den Schattenengeln wie zu einem Stück Materie: Man denke plötzlich in kleinen Lehmklümpchen, die absonderliche Figuren ganz ohne Sinn ergeben würden, und dies reize einen zu einem ganz und gar nicht lustigen Lachen, es sei, als würde man an einer besonders unanständigen Stelle besonders hinterhältig gekitzelt. Auch habe man, mitten in der Wüste unter einem unnatürlich grossen Mond stehend und mit dieser erdrückenden Unzahl von Sternen über dem Kopf und der absurden Silhouette der Weltraumbasis im Gegenlicht der Scheinwerfer vor Augen, immer das Gefühl, als ob dicht hinter einem jemand stehe. Es sei dies ein sehr körperliches Gefühl. Es mache einen gelinde gesagt nervös. Er, der Sheriff, neige überhaupt zur Nervosität in letzter Zeit. Deshalb habe er auch Sancho als seinen Assistenten engagiert, denn der, mit seiner Statur und seiner Bodenständigkeit, mache den Eindruck eines nicht so leicht zu erschütternden Menschen.

Sancho wollte diese Komplimente (oder wie auch immer die Einschätzung des Sheriffs gemeint war) schleunigst abwehren und berichtigen, aber Don Quichotte war bereits nicht mehr zu bremsen. «Noch diese Nacht», rief er mit dem Feuer der bei ihm wieder neu erwachten Begeisterung aus, «wollen wir der Gefahr vereint ins Auge sehen.» Dabei hatte er, wie Sancho fand, vom Whiskey bereits den gewissen sehnsüchtigen glasigen Blick. Auch gefiel ihm der Gedanke gar nicht, heute noch einmal raus zu müssen mit seinem Herrn in die finstere Nacht, wo es doch hier so gemütlich war gerade.

Sonntag, 29. November 2009

Traurige Jäger (18)

Die Bar war angenehm schattig, aber die Luft wurde durch den Ventilator, der sich müde an der Decke drehte, im Grunde genommen überhaupt nicht gekühlt. Trotzdem herrschte in dem Raum ein tiefer Frieden. Der dunkle Mann hinter der Theke – ein Neger, dachte Sancho, oder ein Indianer – bewegte sich in keiner Weise und schien mit halb geschlossenen Augen tief und fest zu schlafen. Ein einziger Gast befand sich in der Bar, ein grosser hagerer Mann von ausgesprochen leptosomer Gestalt, mit breitem Texanerhut auf dem langezogenen Schädel. Der Hund war ganz brav und getraute sich nicht einmal zu winseln, geschweige denn nahm er sich die Freiheit heraus zu bellen. Sancho wagte fast wie in der Kirche kaum zu atmen.

Also hörte man nur das Summen der Mücken oder Fliegen unter dem Ventilator. Sancho zuckte hilflos mit den Achseln. Dann gab er sich einen Ruck, stellte sich neben den Hageren an die Bar und sagte mit fester, wenn auch etwas heiserer Stimme: «Una cerveza, por favor.» Unendlich langsam hoben sich die Augendeckel des Negers oder Indianers. Minuten später stand ein grosses kühles schäumendes Bier vor Sanchos Nase. Der Hund wedelte heftig mit dem Schwanz, während Sancho in langen Schlucken trank, bewegte die Ohren hin und her und schnüffelte mit der Nase an Sanchos Hosenbeinen.

Der Hagere wandte sich an Sancho und sagte mit einer Stimme, die wie eingerostete Eisenketten klang: «Ich bin der Sheriff in dieser gottverdammten Gegend. Sie befinden sich hier unter Geiern, mein Herr.» – «Sie sprechen Spanisch, Señor! Sie sprechen Spanisch, wenn auch mit einem gewissen Akzent: Gott hat Sie mir geschickt und alle Heiligen des Himmels. Lassen Sie mich Ihre Hände küssen!» Der Hagere liess das nicht zu, konnte aber nicht verhindern, dass ihm der Hund die Hosenbeine leckte. Sancho aber sprudelte los und erzählte seine Geschichte mit umso grösserer Vertrauensseligkeit, als er in den Zügen des Sheriffs eine nicht geringe Ähnlichkeit mit denen des Botschafters von Toboso entdecken konnte:

«Sie gleichen, verehrter Sheriff, Boss, Sir, in nicht unerheblichem Masse Don Quichotte, dem Botschafter von Toboso, der gekommen ist, die bösen Cerberaner zu bekämpfen.» – «Toboso?» sinnierte der Sheriff, «sagt mir nichts. Und Sie kommen tatsächlich aus Spanien mit Ihrem Hund?» – «Ich? Aus Spanien, ja. Mein Hund eher nicht. Oder vielmehr: Ich bin auch nicht mehr so sicher, woher wir eigentlich kommen. Es ist alles so verwirrend. Ursprünglich aus Eljas, Spanien, einem Dorf in der spanischen Estremadura, nahe Salamanca, nicht unweit der protugiesischen Grenze gelegen.» – «España!» seufzte der Hagere, «ein schönes, herbes Land.» Dann verfiel er wieder in sein dumpfes Schweigen.

Sancho trank sein Bier leer. Der Hund begann nun doch, von der Sehnsucht nach einer Wurst überwältigt, zu winseln. Der Sheriff klopfte mit seiner knochigen Hand auf die Theke. Die Augenlider des dunklen Mannes rutschten nach oben.

«Ein Bier für den Mann und eine Wurst für den Hund und einen Burbon für mich», bestellte der Sheriff. «Und etwas Hafer für mein treues Pferd.» Dann wurde getrunken und lange geschwiegen.

Schliesslich stellte der Hagere Sancho die folgende Frage: «Willst du mein Hilfssheriff werden?» – «Exakt genau das oder auch etwas Anderes», antwortete Sancho rasch. «Ich habe nämlich keinen müden Cent, keinen Sou und auch keine Pesete in der Tasche.» – «Dann lass dir diesen Stern an die Brust heften, mein Junge. Die Sterne sind ein Symbol für die Freiheit, aber auch für vollkommene Gesetzmässigkeit. Es ist dieselbe Gesetzmässigkeit, die die Sterne in unserem Innern regiert.» – «Das kann ich nicht entscheiden, Señor Sheriff, denn ich bin kein Mann von grosser Bildung. Aber da sie meinem Freund Don Quichotte vom Planeten Toboso so in allen Teilen gleichen wie ein Ei dem anderen, will ich Ihnen vertrauen. Sagen Sie mir nur, was ich zu tun und zu lassen habe, Boss, und ich werde mich sogleich anschicken, Ihnen zu gehorchen, Meister.» – «Zuallererst brauchst du, Hilfssheriff, ein Pferd; oder zumindest so etwas wie ein Pferd. Denn ich habe nur noch einen Esel im Stall. Natürlich hat man mir auch einen Dienstwagen mit Martinshorn zur Verfügung gestellt: doch der ist alt und rostig. Zudem ist Hafer billiger als Benzin und die Spesenordnung der hiesigen Behörden ist nicht gerade grosszügig ausgestaltet. Der Ort, den wir von Räubern, Banditen, Mördern und ähnlichem Gesindel sauber halten sollen, ist klein. Da gibt es bloss einen verlassenen Drugstore, eine leere Presbyterianerkirche und ein paar vergammelte Farmen. Die Gegend ist unwirtlicch, die Winde sind giftig, das Klima ist ungeniessbar. Kurz, dies hier ist ein Vorort zur Hölle. Bei uns in ‹Last Waterhole› lassen sich nicht einmal die Verbrecher gerne nieder.»
Don Quichotte schwieg gedankenverloren. Sancho dachte bei sich, dass das, was der gute Sheriff da ausgeführt hatte, einerseits schlecht, andererseits aber auch wieder gut war. Klar, dies hier war ein elendes Kaff. Klar, aber dafür gab es auch nicht so viel zu tun. «Den Kampf, den wir führen», fuhr der Sheriff da unvermittelt fort, «ist kein Kampf, in dem wir schnelle Autos und gefährliche Knarren brauchen. Schnelle Autos und feuerspeiende Waffen nützen uns in diesem Kampf gar nichts. Vergiss also schleunigst alle Kriminal- und Westernfilme, die du in deinem Leben gesehen hast, Sancho.» – «Ich bin weiss Gott schon lange nicht mehr dazu gekommen, mir einen gemütlichen Fernsehabend mit einem Krimi oder Western zu machen», seufzte Sancho mit tief empfundener Wehmut. Er musste sich auch eingestehen, dass der Sheriff wenig von einem John Wayne an sich hatte, eher im Gegenteil. «Wogegen oder wofür, Boss, kämpfen wir denn nun?» fragte er seinen neuen alten Vorgesetzten. «Wir kämpfen gegen etwas Unsichtbares», antworte Don Quichotte ernst. «Man kämpft immer gegen Unsichtbares. Das ist banal, ich weiss. Gegen einen Schatten. Gegen die Krankheit. Gegen eine Art Krankheit. Aber das brauchst du nicht zu verstehen. Folge mir einfach!» – «Ein Sheriff ist, wenn ich mich nicht täusche, so etwas wie eine Art Ritter. Ob Sie daneben auch noch so etwas wie ein Arzt sind, Boss, wage ich nicht zu entscheiden. Ich für meinen Teil kenn mich im Medizinischen nicht so aus. Schnupfen und überhaupt Erkältungen pflege ich mit einem kräftigen Schluck Brandy zu kurieren, ebenso nervöse Bauchschmerzen, die ich aber selten habe, und das dumpfe Völlegefühl, das sich nach einem ausgedehnten Mal einzustellen pflegt (das kommt bei mir schon häufiger vor). Man lebt zwar nur einmal, wie es heisst, muss aber im Leben für alles bezahlen, wie man mit den Jahren merkt. Unter Kopfschmerzen und Wetterfühligkeit leide ich glücklicherweise selten bis nie. Seit ein paar Jahren fühle ich allerdings manchmal ein Reissen in den Knochen. Das muss das Alter sein.» – «Das Alter oder nicht, Sancho, ich bin kein Arzt und rede auch nicht von Kopfweh oder Gliederreissen. Ich rede nicht von verschiedenen Krankheiten, sondern von der Krankheit schlechthin. Ich rede von der Wurzel des Übels, gegen die kein Kraut gewachsen ist und gegen die alle Ärzte der Welt nichts ausrichten können. Die Ärzte», Don Quichotte schnaubte verächtlich, «kleben Pflästerchen auf. – Die Krankheit, Sancho, ist ein intelligentes Wesen. Die Krankheit ist eine raffinierte Organisation. Verstehst du?»

Sancho verstand nicht im geringsten, was der Sheriff meinte, und er gab sich auch keine grosse Mühe, es zu verstehn, schliesslich ging es ihm nicht darum, seine Bildung zu vervollständigen, sondern einen Job zu bekommen und so sein Geld für Brot und Wein, Bett und Weib mit mehr oder weniger Mühe zu verdienen. Da es gegen einen unsichtbaren Feind ging, bestand die Aussicht, dass das Geld mit eher weniger Mühe verdient werden konnte. Andererseits wusste er aus Erfahrung, dass Menschen wie Don Quichotte oder der Sheriff hier als notorische Kämpfer gegen Windmühlen prinzipiell immer in Schwierigkeiten gerieten. Wenn auch meist in solche, die völlig unvorhersehbar waren. Das machte diese Schwierigkeiten aber jeweils auch nicht angenehmer. Undf auf ihn, Sancho, traf dann jeweils das Sprichwort zu: mitgefangen mitgehangen. Aber seis drum. Jetzt war er ha sowieso wieder in eine Kette von Unwägbarkeiten verstrickt. Und immerhin hatte ihn der Sheriff, der so verblüffend Don Quichotte ähnelte, ohne Weiteres auf die freundlichste Art zu einem Glas eingeladen. Also würde er dem Sheriff gegen unsichtbare Feinde in Gestalt oder in Gestaltlosigkeit von was auch immer kämpfen.

Samstag, 21. November 2009

Das Eigene und das Fremde

Manchmal, in einem unbedachten Moment, dachte Kafka, wird man sich selbst zum Anderen, zum Fremden. Das Ich sieht sich gleichsam im Spiegel und erkennt sich nicht. Je älter Kafka wird, desto weniger gelingt es ihm, sich heimisch zu fühlen in seiner Identität, die er als seine Person definiert. Kafka empfindet sich als Reisender oder vielmehr als unstetes Bewusstsein, das unterwegs ist, aber nicht auf ein bestimmtes Ziel zu, sondern gewissermassen frei schweifend. Wobei diese Freiheit keine ist - das Bewusstsein ist in den Körper geknechtet, und der Körper ist in die Vergänglichkeit gekenchtet, und Vergänglichkeit führt auf direktem Weg zur Auflösung, zur Negierung, ins Nichts. Die einzige Freiheit, die Kafka dabei sehen kann, ist die Freiheit des Buddhisten, der sich in alles schickt, der das Nichts akzeptiert, der es gar freudig als Nirwana begrüsst. Diese Freiheit ist die wunderbare Freiheit, den innersten Kern alles Seienden als Ilusion zu begreifen und das Leben als einzigartige Inszenierung der Leidenschaften und des Leidens. Die Welt ist eine Falle, denkt Kafka, die uns mit Irrlichtern der Schönheit lockt. Was wir suchen, sind Betäubung und Visionen. Was wir besitzen, ist der Käfig der Gefangenschaft. Uns lockt nicht, was wir ersehnen; wir lieben nicht, was uns die metaphorische Last des Lebens von den Schultern nimmt. Wir wollen genauso wenig sterben, denkt Kafka, wie wir geboren werden wollten. Die Fähigkeit, getröstet zu werden, ist uns mit dem Kinderglauben abhanden gekommen. "Ich beneide alle Leute darum, nicht ich zu sein." (Fernando Pessoa, "Buch der Unruhe").

Potsdam, im November





Berlin, im November





Mittwoch, 11. November 2009

Traurige Jäger (17)

Als rosig und kitschig und kalifornisch der Morgen sich am Himmel breitmachte, lag Sancho Pansa noch immer am Rand der Strasse, versunken in einen tiefen, komatösen Schlaf. Die Strasse war ein Highway, wenig befahren um diese Tageszeit, und von Mauern war weit und breit nichts zu sehen. Im Gegenteil – die Strasse führte durch eine Wüste.

Jetzt näherte sich ein struppiger Hund dem wie tot am Boden liegenden Sancho, um ausgiebig an ihm zu schnuppern und ihm das Gesicht und schliesslich auch das Gesicht abzulecken. Man sieht, dass der kleine struppige Hund sogleich eine tiefe Zuneigung zu unserem Sancho fasste. Durch die Berührung der warmen, raue und nassen Hundezunge wurde Sancho schliesslich wach. Er hatte soeben davon geträumt, in einer römischen Arena mit einem jungen Elefanten einen langsamen Tango zu tanzen. Das Publikum hatte getobt und gewiehert vor Lachen. Sancho konnte das nicht verstehn, Was war denn so komisch daran, wenn er in einer römischen Arena einen langsamen Tango mit einem jungen Elefanten tanzte?

Doch nun sah er ganz nah vor seinen Augen den Kopf des Hundes, der ihn mit verliebter Gier in den Augen anschaute. «Weg, weg da», ächzte Sancho und versuchte sich zu erheben, was ihm nach einiger Mühe, denn alle Glieder taten ihm fürchterlich weh, schliesslich auch gelang. Der Hund wedelte mit dem Schwanz und stiess kurze begeisterte Beller aus.

Als er verwundert um sich schaute, fragte sich Sancho besorgt, wo denn die Mauern, die Stadt, der Palast und vor allem sein Freund, der Botschafter Don Quichotte von Toboso, geblieben waren. Oder hatte er das alles bloss geträumt? Dass er jetzt in einer Wüste gelandet war, hatte gerade noch gefehlt und setzte dem ganzen die Krone auf. Und liess sich eiegntlich nur durch Zauberei erklären, obwohl Zauberei, Verzauberung und Magie weit besser zu Don Quichotte passten.

Jetzt, in der hellen, nun schon heissen Sonne, neigte Sancho Pansa weit mehr als bei Nacht zum philosophischen Sichdreinschicken in die momentane Situation. «Sei es wie es sei», sagte er zu dem Hund. «Man wählt sich sein Leben ja nicht aus. Wer fragt dich denn nur schon, ob du überhaupt geboren werden willst.» Der Hund bellte zustimmend, es schien ihm auch schon so einiges widerfahren zu sein in seinem Leben. «Ein Hundeleben», stellte Sancho fest und wischte sich den Schweiss von der Stirn. Er hatte Kopfschmerzen. Indessen näherte sich mit stets sich verstärkendem Brummen ein rasch grösser werdender Latwagen oder Truck von Süden oder Norden oder Westen oder Osten her, um mit lautem Tuten an Sancho und dem Hund vorbeizudonnern.


Einige hundert Meter weiter schien es sich der Lastwagenfahrer oder Trucker allerdings anders überlegt zu haben, denn er stoppte seinen Koloss ziemlich abrupt. «Gut», dachte Sancho, «gut. Latschen wir also hin. Wir können ja nicht ewig hierbleiben, wo immer hier auch ist.» Und er nahm zusammen mit seinem Hund den staubigen Weg unter ihre sechs Beine, einen ziemlich langen Weg, der sie von dem wie ein Weihnachtsbaum geschmückten riesigen Lastwagen trennte. Sancho kam es so vor, als hätte er inzwischen den ganzen Kopf voller grauer Haare. Wir könnten jetzt gemein sein und den Trucker, kurz bevor Sancho und sein Hund das Riesenbaby ereichten, davonfahren lassen, aber stattdessen lassen wir den Fahrer, dessen Haar im heissen Wüstenwind flattert, aus dem Fenster gelehnt schreien: «Hurry up, man, hurry up, I can’t wait for you this whole fucking day!». Sancho kletterte schnaufend in die Führerkabine, der Hund sprang ihm auf den Schoss. Ehrlicher, fadengerader, schörkelloser Südstaatenrock drang in seine Ohren. Der Fahrer war rotblond und kräftig und von irischer Abstammung. Er hatte natürlich tätowierte Arme und trug eine blaue Fliegermütze mit Schirm, die zu klein wirkte auf seinem riesigen runden Schädel. Ein Gringo, dachte Sancho, wieso begegne ich jetzt einem Gringo? Der Lastwagenfahrer begann, auf Sancho einzureden in seiner breiigen Sprache. «Where you go?» fragte der Trucker, «are you Mexican?» Und, als Sancho nur verständnislos schaute: «Tu Mexico?» – ;No Mexico», sagte Sancho darauf, «Elijas, Provinca di Salamanca, España.» Das verstand nun wiederum der Trucker nicht. Er war aber überzeugt davon, dass er sich einen illegalen Einwanderer aus dem Süden in den Wagen geholt hatte, den er schleunigst wieder loswerden musste. Er war zwar ein gutmütiger Mensch, aber nicht lebensmüde. Da musste nur eine Polizeistreife kommen. Doch tauchte glücklicherweise bloss eine Tankstelle auf, «The greatest Niagara». Eine Tankstelle mit Motel und allen Schickanen. Na ja, ein bisschen abgefuckt, aber immerhin.

«Du stiegst hier aus», sagte der Trucker unwirscher zu Sancho, als er es eigentlich wollte. Oft sind ja die Menschen im Grunde genommen besser als das Resultat, das die Umstände aus ihnen gemacht haben. Sancho verstand zwar nicht den genauen Wortlaut der wiederum amerikanisch gesprochenen Worte, aber es war ihm immerhin klar, dass er in diesem Gefärt zusammen mit seinem Hund nicht mehr erwünscht war. Erst nimmt er mich mit, um mich dann gleich wieder rauszuschmeissen, grummelte er in sich hinein. Soll einer diese Gringos verstehen, Die spinnen doch, die Amerikaner. Sancho schüttelte, aber vorsichthalber mehr innerlich, den Kopf.

Da stand er nun wieder mit seinem Hund auf der staubigen Strasse. Was jetzt? Sancho, der Weltenherrscher, hatte keinen Cent in der Tasche und sah aus wie ein Landstreicher. Ach, Weltenherrscher. Eier!

Er hatte keinen Cent, keinen Sou und auch keine müde Pesete in seinem Sack, dafür einen kleinen hungrigen und durstigen Hund am Hals. Eine unangenehme Situation für einen Mann in einem fremden Land. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als durch jene Tür zu treten, über welcher ein Schild mit dem Wort «Bar» hing. «Bar», das verstand er. Ein polyglottes Wort, fast in sämtlichen Sprachen der Welt zu Hause. Gott sei Dank gibt es solche Wörter, dachte Sancho. Gott sei Dank gibt es solche Wörter, die nicht nur leere Worte sind. Bars, die man wirklich betreten kann. Beim Lesen des Wortes «Bar» merkte Sancho, dass nicht nur der Hund, sondern auch er selbst ziemlich durstig war.

Vielleicht hatten die da ja eine Arbeit für ihn, Zapfsäule bedienen oder so was, Tellerwaschen meinetwegen, dachte Sancho. Für nicht mehr als ein Glas Bier und eine Wurst für den Hund. Schliesslich befand er sich offenbar in dem gelobten Land, wo man es vom Tellerwäscher zum Millionär bringen konnte.

Montag, 9. November 2009

Traurige Jäger (16)

Und der liebe Gott schaute mit seinem unerschütterlichen dritten Auge auf diese zwei Geschöpfe seiner Vorstellungskraft, das unglückliche und das glückliche, das verzweifelte und das zuversichtliche, das dicke kurze und das dünne lange, und Er sah, es war alles gut.

Freitag, 6. November 2009

Traurige Jäger (15)

Währenddessen kämpfte sich Don Quichotte, wie immer unerschrocken, durch das zähe Gestrüpp und Gebüsch eines reichlich ungepflegten Parkes, der bald in einen veritablen Wald zu münden schien. Das wunderte den Toboser, dass es mitten in einer Stadt mit solch strengen kalten geraden Strassen hinter einfachen, wenn auch hohen und glattwandigen Mauern plötzlich und unverhofft Wildnis und gar Wälder geben sollte. Jetzt sah er sogar friedliche Sterne zwischen den Baumkronen leuchten und einen zu einem Viertel vollen Mond. Er überlegte scharf, ob und gegebenenfalls wo sohl der Stern Toboso sein fernes Licht der Erde zeigen mochte. Aber es hatte so viele Sterne am Himmel, dass Don Quichotte nur vage und seufzend «irgendwo da oben» denken konnte. Irgendwo da oben? Plötzlich schien ihm der Himmel eher als eine Spiegelung des Oben, ein Meer, in das er, vollkommen und ganz und gar zur Kugel geworden, zweifellos dereinst einmal eintauchen würde, nicht mehr Teil, sondern ununterscheidbar Ganzes geworden. Und Don Quichotte wurde, gewissermassen auf Vorschuss, von einem Glücksgefühl durchströmt, das in sich vollkommen war wie ein Windstoss, der mit den Blättern und Ästen der Bäume spielt.

Mittwoch, 4. November 2009

Traurige Jäger (14)

Für Sancho war es, als wäre er allein in einem Alptraum zurückgeblieben. Das gleissende Licht der Strassenbeleuchtung brannte ihm in den Kopf. Die Leere Strasse war kalt und gefährlich, als wolle sie sich nächstens auftun und ihn verschlingen, zermalmen mit ihrem steinernen Gebiss. Er fühlte sich wieder wie der kleine Junge, der er einmal gewesen war. Als dieser kleine Junge hatte er sich jeweils in Situationen wie diesen unter dem Bett verkrochen oder sich im Schrank versteckt, voll banger Hoffnung, dass ES, das unbekannt Drohende, das immer näher kam, ihn nicht entdecken möge. Aber hier gab es weder ein Bett, unter das man kriechen, noch einen Schrank, indem man sich verstecken konnte. Auch näherte sich auf der leeren, hell erleuchteten Strasse nichts. Trotzdem schnatterten die panischen Stimmen in Sanchos Hirn wie verrückt. Sein Herz war eine hüpfende Eisenkugel, die ihn gefangen hielt. Er schiss sich in die Hosen, ohne es zu merken. Er hielt es nicht mehr aus, bei wachem Bewusstsein zu sein, und stürzte, in den Armen einer wohltätigen Ohnmacht landend, auf das harte Pflaster der Strasse. Für einmal hatten alle Heiligen des Himmels, die er so oft anzurufen pflegte, ein Einsehen gehabt.

Sonntag, 1. November 2009

Traurige Jäger (13)

Es war Nacht und neblig. In der Nähe des Regierungspalastes waren die Strassen praktisch menschenleer. Sie waren nicht nur praktisch, sie waren definitiv menschenleer. Und hell, sehr hell beleuchtet. Die grossen herrschaftlichen Häuser aber, die sich hinter hohen Mauern mehr erahnen als sehen liessen und in geräumigen Parks verbargen, dunkel und durch kein Lebenszeichen irgendwelche Bewohner verratend. Auch Geräusche waren nur als ein fernes Brummen und Summen zu hören. Es fuhren keine Autos oder andere Verkehrsmittel durch die hell erleuchteten Strassen. Der Stadtteil, den Don Wuichotte und Sancho Pansa durchwanderten, war flach und eben, was das Marschieren nicht weniger eintönig machte. Die beiden frischgebackenen Stadtwanderer waren in einfache Gewänder gehüllt, die an römische Tuniken gemahnten: Diese Kleidung hatten sie sich von Bediensteten geborgt oder vielmehr sie ihnen gestohlen, gezwungenermassen, denn paradoxerweise besassen sie beide kein Geld. Im Palast brauchte man ja auch kein Geld.

«Dies ist», sagte Don Quichotte, nachdem sie gut eine Stunde gegangen waren und sich die Kulisse, durch die sie schritten, noch immer nicht verändern wollte, «dies ist wirklich eine kuriose Stadt, die Ihr da habt. Sind alle Städte auf der Erde so? Wir in Toboso – ob kugelförmig oder nicht – bewegen uns, wie sie vielleicht wissen, in einem Gemisch aus Wasser und Luft. Angesichts dieser Strassen, Exzellenz, verstärken sich mein Heimweh und meine Sehnsucht nach den heimatlichen Gestaden sogar noch.» – «Fürwahr, mir scheint es auch eigenartig, dass wir auf keine Untertanen stossen. Ich habe pulsierendes Leben erwartet, ein Auf und Ab und Hin und Her, Frauen in glitzernden Kleidern, Männer mit schief im Mundwinkel hängenden Zigaretten, Zuhälter, Dirnen und Gangster, Halbwelt und Lichtreklamen, im Neonlicht blitzende Autokarossen, was weiss ich. Aber das kommt schon noch. Haben sie ein wenig Geduld, lieber Botschafter. Immerhin sind bis jetzt auch keine Cerberaner aufgetaucht.» – «Die Cerberaner sind da, wo Menschen sind. Mein Gott, ich beginne mich noch nach ihnen zu sehnen!»

Und missmutig schritten sie weiter durch die Nacht. Die absolute Gleichförmigkeit der Strassen und Häuser machte es ihnen übrigens bald genug unmöglich, sich zu orientieren und eine Richtung zu halten. Auch schien das leise, feine Brummen aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen und bot deshalb keinen Anhaltspunkt. Möglich, dass sie bereits wieder auf den Palast zu gingen oder sich in einem Kreis bewegten wie in dichtem Schneegestöber oder in der schattenlosen Wüste. Sancho, der schon lange nicht mehr zu Fuss gegangen war, taten die Füsse weh, Don Quichotte, seiner körperlichen Konstitution wegen, eher das Kreuz. Auch hätte für Sanchos Geschmack allmählich eine Gast- und Raststätte, und sei es auch eine miese verkommene Spelunke, auftauchen dürfen.

Es war ein Leichtes, in diesen leeren nebligen Strassen, obwohl sie beleuchtet waren, sang- und klanglos ganz einfach verloren zu gehen. Ein Totenreich war diese Stadt: kein Fetzchen Musik erklang, kein Fitzelchen von einer stimmen war zu vernehmen, nur das feine Brummen und Summen wie von einer gewaltigen Maschine. Sancho bekam plötzlich einen Wutanfall, er stampfte und schrie, weinte und tobte, bis er sich rot und zerzaust und echauufiert auf den sinnlosen Gehsteig setzen musste. «Dieser Schweinehund hat mich betrogen!» knirschte er zwischen den Zähnen hindurch, «die ganze Zeit über schamlos betrogen! Mein Weltreich existiert nicht. Die Massen, von denen ich in meinem Wahn glaubte, sie würden mir zujubeln, waren eine Fata Morgana. Zerstoben wie eine Geisterschar, ins Nichts verpufft, pulverisiert! Die Menschheit und ihre Geschichte war also ein Traum, ein leerer eitler Traum! Wahrscheinlich gibt es auch Herrn von Klumpfuss nicht, sind der Palast und das Harem der dicken Frauen dem syphilitischen Hirn eines versoffenen Dichters entsprungen, ja, auch die dicken Frauen, für die ich in meiner Schwäche nun mal eine Schwäche habe, und wahrscheinlich haben wir es nur noch nicht bemerkt, dass es auch uns nicht gibt.»

«Beruhigen Sie sich, Exzellenz, schschsch! Ich kann Ihnen versichern, dass Sie – wenn auch vielleicht nicht absolut, so doch relativ – ganz und gar vorhanden sind» versuchte Don Quichotte, der als Toboser menschliche Existenzängste nicht kannte, den unglücklichen Welt-Diktator zu trösten, und legte ihm einen Arm um die Schulter. «Ich vermute vielmehr, dass dieser Gürtel aus Niemandsland aus purer Berechnung, das heisst zu einem ganz konkreten Zweck, angelegt wurde. Da steckt Politik dahinter. Herr von Klumpfuss ist schon ein rechter Teufel!» Don Quichotte, der die Philosophie stets mit der Tat zu verbinden versuchte, dachte scharf nach. Dann beugte er sich zu Sanchon hinunter und flüsterte ihm ins Ohr: «Wir müssen über eine Mauer klettern! Wir müssen in einen Park einbrechen, ein Haus erobern! Aber vorsichtig: Die Nacht hat tausend Augen!»

Das war leichter gesagt und zur Absicht erklärt als getan. Die Mauer war hoch und glattwandig. Und nirgendwo stand etwas herum, das man als Hilfsmittel zum Klettern hätte benutzen können. Ausserdem kam es ihnen jetzt, wo sie ihren Vorsatz gefasst hatten, so vor, als würden sie von allen Seiten beobachtet. Das kalte künstliche Licht war womöglich noch heller geworden.

«Sie müssen sich mir auf die Schultern stellen, Exzellenz», sagte Don Quichotte. «Aber nein, Herr Botschafter, dieses Angebot kann ich unmöglich annehmen, bedenken Sie doch mein Gewicht. Sie müssen sich mir auf die Schulter stellen!» _ ;Ihr gewicht, Exzellenz, ist kein Argument. Ich bin ebenso schwer wie Sie, nur ist mein Gewicht anders verteilt. Mehr vertikal, sozusagen. Nein, ich muss Ihnen den Vortritt lassen: Schliesslich ist das Euer Hohheitsgebiet, in das wir hier eindringen!» - ,Eben, mein lieber Botschafter, eben! Sie sind mein Gast, und deshalb gehen Sie vor. Und jetzt Ende der Diskussion!»

Damit war der kleine höfliche Streit entschieden. Don Quichotte stellte sich also dem Weltenherrscher Sancho auf die Schultern (was leichter gesagt als getan ist, aber das ist eine andere Geschichte) und vermochte so den Mauerrand gerade eben zu erreichen. Obwohl er beträchtliche Kraft in den Fingern hatte, zog er sich nur mit viel Mühe hoch. Oben angekommen, sagte er zu Sancho, der weit unten ganz klein bei der Mauer stand: «Auf der anderen Seite scheint es ebenso steil wieder runterzugehn.» Er öffnete die Arme, als wolle er los fliegen, und verschwand hinter der Mauer, verschluckt von der Finsternis.

Montag, 26. Oktober 2009

Traurige Jäger (12)

Da ergab es sich, was selten geschah, dass Sancho Pansa, der Weltdiktator, und der ständig an seinem Hof akkreditierte Botschafter Tobosos, Don Quichotte, eines Abends allein zusammen dienierten. Es wurde wieder einmal eine Lachsmoussetarte zur Vorspeise serviert, die zwar exzellent zubereitet war, aber Sancho, im Herzen eher Gourmand als Gourmet, Liebhaber rustikaler Genüsse wie hausgemachter Tortilla und einer gut gewürzter, mit Knoblauch gespickter Chorizo-Wurst, inzwischen zum Hals heraushing.

Don Quichotte mochte einer Lachsmoussetarte erst recht nichts abzugewinnen. Er schaute sie mit seinen melancholischen, blutunterlaufenen Augen nur ganz verächtlich an. Ein paar Gänge später kam zu einem guten Burgunder (Meursault AC Dufouleur Père & Fils) ein Baron d’agneau de Lait auf den Tisch. Der dicke Diktator richtete zum ersten Mal sein Wort an den hageren, mit Appetitlosigkeit gestraften Botschafter. «Ich sehe», seufzte Sancho, «werte Exzellenz, famoser Botschafter, dass Sie auch keinen rechten Hunger haben. Wie sagt das Sprichwort schon wieder? Hunger ist der beste Koch. Und das Sprichwort hat ja ganz recht. Wie aber soll man, frage ich Sie, hier mal so richtig Hunger bekommen? – Ja ja», fuhr Sancho übergangslos fort, manchmal denke ich, dass ich zum Herrscher einfach nicht geboren bin. Ich bin zu sensibel für die Bürde dieses Amtes. Aber was will man? So einen Job kann man doch nicht einfach kündigen. Aber manchmal habe ich die Schnauze einfach voll davon, in diesem goldenen Käfig zu hocken. Unter uns gesagt, streng unter uns gesagt, mein lieber Botschafter, Sie verstehen. Für die Öffentlichkeit bin und bleibe ich natürlich kraftstrotzend, unerschütterlich, zuversichtlich. Der grosse Mann mit Durchblick. Der kleine grosse Mann mit Durchblick, von mir aus.» Sancho schwieg, um eine Träne um so wirkungsvoller aus dem Augenwinkel tropfen zu lassen. «Unter uns gesagt, streng unter uns gesagt, habe ich den Durchblick natürlich überhaupt nicht. Ich weiss nicht, wie meine Untertanen leben, kenne ihr Denken und Fühlen nicht, weiss nicht, was sie tun, was sie bewegt, freut und ärgert. Gar nichts weiss ich. Und dieser Klumpfuss, der meint, für mich denken und entscheiden zu müssen, der glaubt, für mich die Dinge und die Menschen und die Zusammenhänge zu kennen und den Durchblick zu haben, ist ein Scheusal. Ein Scheisskerl. Ein Hurensohn. Ein Mutterficker. Ein Grossmutterverkäufer. Sie sehen, streng unter uns gesagt: Er geht mir tierisch auf den Sack. Ausserdem weiss ich wohl, dass er mich verachtet. Benützt und verachtet, jawohl. Aber was kann ich schon tun? Ich kann ihn nicht entlassen, der Mann hat ja kein Amt. Er ist ein grauer Mann, und ich fürchte, es gibt noch viele von seiner Art am Hof.» Sancho schwieg, ermattet und gedankenschwer.

Don Quichotte wunderte sich über die lange Rede des Diktators, denn üblicherweise pflegte Sancho sich in Sprichwörtern zu ergehen, zu schnaufen oder zu schweigen. «Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen», fing er nach einigen Momenten des Nachdenkens an, «der vielleicht sowohl Ihnen als auch mir selbst einen noch nicht abschätzbaren Vorteil oder gar uns beiden einen plötzlichen Ausweg zeigen kann. Auch ich traue Herrn von Klumpfuss nicht über den Weg, auch wenn es den Anschein hat, dass wir beide die Cerberaner bekämpfen. Es heisst ja, der Feind deines Feindes ist dein Freund. Was man von solchen Sprüchen halten soll? Item. Item und wie dem auch sei. Ich muss die Angelegenheit endlich wieder in meine eigenen Hände nehmen. Ich habe vielleicht, ganz entgegen meiner Gewohnheit, schon allzu lange gezögert und gezaudert und zugewartet, und Sie, Exzellenz, wenn ich mir die Bemerkung untertänigst erlauben darf, wohl auch.» Sancho war plötzlich ungeduldig. «Sagen Sie schon, mein lieber Botschafter, was Sie zu sagen haben, und kommen Sie auf den Punkt!» – «Der Vorschlag ist wie jede Idee im Grunde genommen lächerlich einfach. Wir machen uns einfach aus dem Staub! Mischen uns inkognito unters Volk. Sie, um ihren Untertanen zu begegnen, ich, um auf meine Art die Sache der Toboser zu regeln.» Don Quichottes Augen glühten im alten Feuer. Aber Sancho hatte natürlich Bedenken anzumelden. Gewiss, er brannte darauf, inkognito durch die Welt zu wandern, wieder einmal richtig Hunger und Durst zu haben, wieder einmal richtig müde zu sein. Er hatte genug von dem falschen Märchen, in dem er lebte. Aber andererseits hatte er sich auch an das fette faule Leben im Palast gewöhnt, und die heimtückischen Gefahren, die von diesem ausgingen, schienen ihm weniger bedrohlich als die freie Wildbahn des Lebens draussen vor dem Palast. Und die Eitelkeit! Die Eitelkeit, ein Diktator und Weltbeherrscher zu sein, musste auch fallen gelassen werden. Das tat weh. Aber gut, dachte Sancho, lassen Wir die Eitelkeit fahren und werden wieder zu einem ich mit kleinem i, mehr noch: Scheissen Wir drauf. Er sagte: «Mein lieber Botschafter und Freund! Ihre Idee gefällt mir sogar ausnehmend gut. Allerdings gibt es noch einige Punkte zu klären. Diese Punkte gilt es dringend zu klären, bevor wir aufbrechen können. Zum Beispiel ist zu bedenken, dass ichj, soweit ich mich enrinnern kann, noch nie ausserhalb der Mauern dieses Palastes war. Genau wie der letzte chinesische Kaiser, Wu oder Pu oder Pipapo oder wie er hiess, befinde ich mich in der fatalen Situation, die Welt da draussen, die mein Reich ist, nur vom Hörensagen her zu kennen. Ich weiss nicht, welche Sprache mein Volk spricht. Ich weiss nicht, wie man sich als gewöhnlicher Mensch, sagen wir einmal als ein Mensch der Klasse F oder G, unter gewöhnlichen Menschen bewegt und benimmt, was sich ziemt oder nicht ziemt, wie und was man isst, wie und wen man liebt und überhaupt, etc. etc. etc. Dazu kommt, dass man mich kennt: Mein Gesicht flimmert über die Bildschirme, mein gesicht hängt, wie man mir immer wieder versichert hat, im jedem anständigen Wohnzimmer auf dieser Welt, ganz zu schweigen von den überlebensgrossen Porträts und Statuen, die die Räumlichkleiten der öffentlichen Gebäude und die Plätze schmücken. Man würde mich doch sofort erkennen! Wie kann ich da inkognito sein?» – «Aber nicht doch, Exzellenz! Sie haben, mit Verlaub, ein recht durchschnittliches Gesicht, das in einer gewöhnlichen Umgebung niemandem auffallen wird. Ausserdem haben sich die Leute schon dermassen an das omnipräsente Bild Ihrer Majestät gewöhnt, dass sie es inzwischen gar nicht mehr sehen. Allenfalls werden die Leute beim Anblick der einst hoheitlichen und jetzt normalsterblichen Exzellenz einen Moment lang denken: Den kenn ich doch von irgenwo her. Aber dann wird dieser Gedanke schon weitergewwandert sein, wie wir. Und was die Sitten und Bräuche in Ihrem Reich angeht, Hochwohlgeborener, das Leben draussen kennt nur einen Grundsatz: Versuch und Irrtum, also: Lernen, lernen, lernen!»

Einen Moment lang war Sancho arg gekränkt und wollte böse auf den Botschafter respektive auf Don Quichotte werden, wegen des gewöhnlichen Gesichts. Aber dann erinnerte er sich seines feierlichen Vorsatzes, aller Eitelkeit fortan abzuschwören. Zudem brachte nur schon der Gedanke an die Schwierigkeiten und und Entbehrungen der Zukunft Sanchos alten Appetit zurück: Er ass das Dessert, Poires «Palais Royal», seit langem wieder einmal mit Vergnügen und Lust. Der Diktator der Welt und der Botschafter Tobosos beschlossen, ihren Plan noch in derselben Nacht auszuführen. Ihre langen dünnen und kurzen breiten Schatten liessen sie dabei mit einem schälkischen Vergnügen in der Vergangenheit zurück.

Freitag, 9. Oktober 2009

Traurige Jäger (11)

Sancho Pansa, seines Zeichens Welt-Diktator, charismatische Identifikationsfigur, grosser Kommunikator und Lebemann, verbrachte seine Zeit inzwischen wie die Made im Speck. Zu regieren hatte er nicht viel und von dem nicht vielen immer weniger. Es ist zu vermuten, dass es ihn selbst nicht mehr brauchte – hatten sich doch die Medien seines Bildes bemächtigt. Es ist zu vermuten, dass sein Phantom ein Eigenleben zu führen begonnen hatte. Möglicherweise verfassten andere für ihn die Reden, die er nicht einmal mehr selbst zu halten brauchte. Möglicherweise fasste man in seinem Namen Beschlüsse, von denen er keine Ahnung hatte und deren Bedeutung er wahrscheinlich gar nicht verstanden hättte. Mit seinem Wort, das andere sprachen, bestimmte er über Bürger, mit denen er keinen Kontakt hatte, war überall präsent und doch ganz allein (im Glashaus seiner Lüste, umgeben von Lustdienerinnen und anderen Bediensteten, die ihm den Becher reichten, vielleicht auch die Füsse küsste, sicher ihm den Becher reichte, immer wieder, und ihm Schmeichelworte ins Ohr flüsteren).

Sancho ass mit immer geringerem Appetit, trank mit immer weniger Durst, triebs mit den dicken Frauen mit immer weniger Lust. Er fing an, sich vor Impotenz zu fürchten – eine Sache, die jeden Mann beunruhigen würde, erst recht aber einen spanischen Macho. Er wurde übellaunig und tyrannisch. Wenn er Nero – oder vielmehr Peter Ustinoff in der Rolle von Nero – gewesen wäre, hätte er sich ein Rom angezündet vor lauter Langeweile und ein Gedicht dazu verfasst oder eine Kantate. Aber es gab kein Rom mehr, das man hätte anzünden können, es gab überhaupt nichts mehr anzuzünden, wozu man hätte Tränen vergiessen und diese in einer Kanüle auffangen können. Ausserdem war Sancho (wie übrigens auch Nero anno dazumal) im Verseschmieden nur mässig begabt. Die Welt ist zu den Zeiten, in denen unsere Geschichte handelt, absolut sicher vor unbeherrschten oder hysterischen Tyrannen. Dafür sorgen Leute wie unser lieber Herr von und zu Klumpfuss schon.

Überhaupt fand von Klumpfuss, dass man auf Sancho eigentlich so langsam verzichten könnte. Dieser Sancho verschlang nur viel Geld. Es kostet Geld, sich einen Weltdiktator wie Sancho zu halten. Geld, das man besser in die Verbesserung der menschlichen Gensubstanz investieren würde. Auch war die Art des Sancho Pansa dem Herrn von Klumpfuss ganz persönlich sehr unsympathisch. Sancho war in den klumpfussschen Augen total vertiert. Und alles Tierische am Menschen war Klumpfuss zutiefst suspekt. Auf Tiere konnte Klumpfuss als Vegetarier generell verzichten. Das einzig Gute an der Natur, diesem Ungeheuer, war, dass sie einst den Menschen hervorgebracht hatte. Und der Mensch wiederum hatte einzig und allein die Pflicht, den vollkommenen Menschen zu zeugen, den Übermenschen. Und damit basta.

Der Klumpfuss dachte also daran, Sancho, unseren Sancho, den er nun nicht mehr brauchte, der seine Pflicht und Schuldigkeit getan hatte, aus dem Weg zu räumen. Davon ahnte unser Sancho natürlich nichts. Und Don Quichotte, was ist mit dem? Der wurde immer magerer, schweigsamer, melancholischer. Wen wunderts.

Sonntag, 20. September 2009

20. September

Heute ist Id'ul Fitri, der Tag des Fastbrechens für Millionen von Muslimen in der ganzen Welt. Fendi, mein Partner, hat zwar nur spordaisch gefastet, gefestet wird heute gleichwohl. Während ich mit schmerzender Hüfte vor dem Computer sitze, gelangt eine bunte Geräuschkulisse aus javanischen Gesprächsfetzen, indonesischem Gesang und leisem Fernsehmurmeln an mein Ohr. Und es duftet! Leider ist meine Handykamera kaputt und die mit den Supercard bestellte Kamera noch nicht bei mir eingetroffen, so dass ich die Bilder zur Beschreibung leider nicht liefern kann. Die schmerzende Hüfte kommt übrigens nicht vom Sport oder von sonstigen Eskapaden, sondern wahrscheinlich von einem Reumathismus oder einem artritischen Schub, also vom Alter. Seit Freitagmorgen kann ich mich also kaum mehr dem täglichen Vergnügen des Bauchtanzes frönen. Und im Bett liegen - etwas, was ich sonst sehr gern mache - ist momentan auch kein ungetrübtes Vergnügen. Aber jetzt werde ich zum Essen gerufen.

Mittwoch, 16. September 2009

Traurige Jäger (10)

Ein weiteres Gerücht, von dem ich gehört habe, wenn Sie erlauben. Schauplatz Mumbai, im Büro von Phanishwa Singh. Einem vollgeklonten B-Typen, der für die Gebiete Finanzwesen und Controlling programmiert ist. Oder vielmehr war. Phanishwa Singh seit mehr als acht Stunden am Bildschirm, eine wichtige Revision musste abgeschlossen werden für eine Firma in Dubai, London oder Singapur. Was irgendwann während dieser acht Stunden mit Phanishwa Singh passiert ist, weiss bis heute niemand. Eine nachträgliche Überprüfung des Computers ergab nichts Aussergewöhnliches. Möglich, dass sich temporär ein Cerberaner in das System eingeschaltet, eingeschlichen oder eingehackt hat, später aber wieder spurlos daraus verschwunden ist. Andertags hielt Phanishwa Singh jedenfalls, statt die Resultate der Revision zu raportieren, ein Aufsehen erregendes Referat, das für viel Verwirrung sorgte. Phanishwa Singh sprach nämlich in fremden Zungen, einem altertümlichen Idiom, mit dem er sicherlich nie in seinem Leben in Berührung gekommen war. Auch schien es so, als hätte sich Phanishwa Singh gänzlich aus seiner Person und seiner Zeit entfernt und wäre ein völlig anderer geworden, unberührbar für die Gegenwart. Mit grossem Pathos hat er nämlich Folgendes rezitiert: „Friede den Hütten! Krieg den Palästen! Im Jahre 1834 siehet es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am fünften und die Fürsten und Vornehmen am sechsten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: Herrschet über alles Getier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt, undsoweiterundsofort der Unsinnigkeiten mehr. Phanishwa Singh ist seither überzeugt, der längst verstorbene Dichter und Naturwissenschaftler Georg Büchner zu sein und in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu leben. Derart, Herr von und zu Bockfuss, stiften die Cerberaner Verwirrung!»

«Gerüchte, Herr Botschafter von Toboso, Gerüchte», meinte Herr von Bockfuss cool. «Ich will ja nicht bestreiten, dass die Cerbereaner nach wie vor in einem gewissen Grad aktiv sind. Und sie können uns glauben, dass wir – allerdings auf unsere Weise – alles tun, um sie unschädlich zu machen.

Die Cerberaner Sind, sie sagen es selbst, verdammt geschickt darin, sich zu tarnen. Wie aus dem Nichts tauchen sie mal hier, mal dort auf. Mail in dieser, mal in jener Gestalt. Und dann verschwinden sie wieder im Nichts. Zurück bleibt eine unschuldige «Maschine». Das ist doch der Tatbestand.

Wir können nun diese «Maschine» – in Wirklichkeit ein komplziertes Netzwerk und Informationssystem – natürlich zerstören, ausschalten, löschen – aber was bringt es uns? Treffen wir damit die Cerberaner, wie sie auch etwa genannt werden? Sie sehen selbst, dass das eine rethorische Frage ist. Von dieser Seite her ist unserem gemeinsamen Feind nicht beizukommen. Unsere Methode hat – durchlachtigste Hohheit wird mir darin gewiss beipflichten – einen ganz anderen Ansatzpunkt.

Die Cerberaner sind unberechenbar, aber sie arbeiten mit System. Als Sender bleiben sie zunächst einmal unfassbar, unangreifbar. Ihr Medium – die Mittel, womit sie «arbeiten» – ist aber bekannt. Ich darf mich wiederholen: Sie bedienen sich der von uns erfundenen klaren, logisch aufgebaut sind, ganz selbstverständlich verlassen, und verändern sie für eine gewisse Zeit, indem sie als ein gleichsam Irreales oder Surreales die Gesetze der Logik und Folgerichtigkeit ausser Kraft setzen. Wir wissen leider noch nicht, wie sie das tun. Aber unsre Wissenschaft wird dieses Phänomen sicher mit der Zeit in den Griff (oder vielmehr die Begriffe) bekommen, so, wie sie vor langer Zeit so etwas wie die Relativität von Raum und Zeit, die Quantenphysik etc. in den Griff und die Begriffe zu bekommen hat.

Die Cerberaner treiebn ihre Possen und Kapriolen vielleicht nicht zu einem bestimmten Zweck, aber sicher ist, dass diese einen bestimmten Effekt, und zwar einen für uns äusserst unerwünschten, haben. Wie Sie wissen, versuchen wir die äusserst schwierig und für die Menschheit als Ganzes gar lebensbedrohlich gewordene Situation auf der Welt dadurch zu meistern, dass wir eben dieser Menschheit selbst zu einem auf Logik aufgebauten „Informationssystem“, oder, um das altmodische Bild zu gebrauchen, zu einer perfekt funktionierenden Maschine umzugestalten versuchen. Sie wissen: Genau dies ist das Fernziel unseres genetischen Programms. Wir können es uns heute einfach nicht mehr leisten, die Mneschheit in ihrer altgewohnten Dummheit und primitiven Art vor sich hinwursteln zu lassen – verzeihen Sie meine saloppe Ausdrucksweise. Soll die Menschheit als solche überleben, dann muss sie veredelt werden. So einfach ist das.

Der Effekt des Wirkens der Cerebraner ist doch der, dass er unser Genprojekt durcheinanderbringt. Diese Störung ist verheerend, eine Katastrophe! Das Wirken der Cerberaner bringt das Irreale und Surreale im einzelnen Menschen und in Menschengruppen, aber auch in der Menschheit als grosser Familie, sozusagen, wieder zum Vorschein – nachdem wir es längst überwunden und gebannt glaubten, wieder zum Vorschein. Die Cerberaner sind wie Viren in einem Organismus, die dasImmunsystem des Gesellschaftskörpers lahm legen. Deshalb, Herr Botschafter, sind Mittel des Verteidigungsministeriums, das wir für unser Programm beanspruchen, auch Mitel für die Verteidigung gegen Cerberus. Nur darin können wir die Cerberaner treffen, dass wir unser Menschenmaterial gegen sie immunisieren. Und wir können diese humane Biomasse dadurch gegen sie immunisieren, dass wir unser Programm verbessern. Das Unberechenbare, Herr Botschafter, ist unser wirklicher Feind!»

Herr von Klumpfuss schwieg, beeindruckt und erschöpft von der eigenen Rede. Don Quichotte vermochte nicht so recht Gefallen an ihr zu finden, aber der konnte der Logik des Gesagten nicht widersprechen. Es fehlte ihm jedoch eindeutig das Heroische in der lange Rede kurzem Sinn. Herr von Klumpfuss verfocht im Grunde keinen anderen ethischen Gedanken als den, das nackte Überleben der Menschenrasse als Menschenmasse zu sichern. Das war ihm, zumal er ja Toboser und damit kein Erdling oder Mensch war, zu dürftig, zu mager, Was gingen ihn also die Menschen an? Und waren denn die Menschen ohne ihre Fehler und Mängel, ohne das Primitive an ihnen, als perfekte Teile einer Gesellschaftsmaschine überhaupt noch Menschen? Eine zu komplizierte und zu bedeutungslose Frage für Don Quichotte. Er kämpfte gegen die Cerberaner aus einer Lebenseinstellung heraus. Im Grunde ging es ihm gar nicht darum, sie zu besiegen. So rigoros sind Toboser nicht. Denn für ihre Lebenshaltung brauchen die Toboser die Cerberaner geradezu, ebenso, wie das Licht den Schatten braucht, um Licht zu sein: sonst ist es einfach Leere.

Aber das alles sagte Don Quichotte dem Herrn von Klumpfuss nicht. Herr von Klumpfuss war ein unernbittlicher, ein praktisch denkender Philosoph.

«Ja, ja, Sie haben ja Recht», seufzte Don Quichotte deshalb nur; eigentlich sehnte er sich danach, weiter zu reisen, und bedauerte nur, dass sein Begleiter Sancho, der inzwischen unbemerkt in seinem Harem verschwunden war, offenbar Gefallen an seiner Rolle als der grosse Diktator gefunden hatte. Ausserdem erinnerte er sich gar nicht mehr daran, wo er die Lufthunde gelassen hatte.

Montag, 31. August 2009

Traurige Jäger (9)

Aber der Adjutant ignorierte diese Einwände und sagte, zu Don Quichotte gewandt:«Natürlich wird Herr von Bockfuss gleichzeitig eine Lagebeurteilung von der Kampffront Cerberus abgeben, Herr Botschafter:» Der Ausdruck höchster Aufmerksamkeit verstärkte sich noch in Don Quichottes Miene, auch wenn er nach wie vor äusserlich ganz ruhig blieb.

Sancho ergab sich resigniert in das Erscheinen von Herrn Bockfuss. Inzwischen stand der unerwünschte Besucher nämlich im Raum und entbot ebenfalls, wenn auch lockerer und legerer als der Adjutant, den Führergruss. Er war klein und mager, hatte ein unsympathisches, raubvogelartiges Gesicht, dem alle Gefühle und Leidenschaften fremd zu sein schienen. Seltsamerweise trug er Alpentracht, irgendwas Besticktes und Krachledernes und Kariertes. «Also, was gibt’s?» fragte Sancho weinerlich und alles andere als neugierig. «Ich komme direkt von unserem Einsatz- und Forschungszentrum Uri Rotstock mit der Bitte, uns den Rücken zu stärken, Führer. Gerade jetzt, wo wir in unserem Bemühen so schöne Fortschritte machen, versucht eine Gruppe von Humanitätsduslern, Schwächlingen und Gutmenschen uns in den Rücken zu fallen. Ich glaube kaum, mein Führer, dass das in Ihrem Sinn und Geist ist. Sie sind uns als ein Mann der grossen Entwürfe, als ein Mann mit Visionen bekannt. Nicht umsonst werden Sie "Baumeister des Zehntausendjährigen Reichs" genannt. Sie sind also mit uns der Ansicht, dass diese Störenfriede umgehend zu eliminieren sind. Auszureissen wie Unkraut, das sonst überhand zu nehmen droht. Ich fordere Sie deshalb auf, uns, das heisst mir, freie Hand zu lassen, und, was das Finanzielle betrifft, alles Nötige zu veranlassen. Da es Waffen im herkömmlichen Sinn als Kampfflugzeuge, Marschhflugkörper, Raketensysteme etc. jetzt glücklicherweise oder auch bedauerlicherweise nicht mehr gibt, muss der Etat des Vertedigungsministeriums vollumfänglich uns zur Verfügung gestellt werden.

Wie Sie wissen, Herr Botschafter», wandte sich Bockfuss nun wieder Don Quichotte als dem eigentlich Adressat seiner Botschaft zu, «sind wir daran, grosse Fortschritte in der Erzeugung einer effizienten und störungsfreien Menschheit zu machen. Ferner ist es uns bekanntlich gelungen, den Anteil asozialer Elemente in der Gesamtbevölkerung mittels hochwirksamer und äusserst suchtintensiver Drogengifte – das gute alte Heroin ist im Vergleich das reinste Baldrian –, ferner mittels unheilbarer, epidemisch in unerwünschten Bevölkerungsgruppen sich verbreitender Krankheiten signifikant zu senken. Sie sehen also, dass unser Volkskörper als Ganzes daran ist, allmählich zu gesunden. Wir haben dies in unseren Geheimberichten dokumentiert. Natürlich braucht die gentechnologische Spezifikation noch etwas Zeit. Aber auch die letzten noch existierenden Ghettos, in denen sich die totale innere Ordnung noch nicht ganz durchgesetzt hat, werden in einigen Jahren verschwunden sein. Natürlich nur dann, wenn man uns machen lässt. Ich sage immer, dass wir den Krieg erst dann gewonnen haben werden, wenn der letzte Ordnungshüter überflüssig geworden sein wird. Und wenn das, was einst als Jurisprudenz Recht und Gesetz war, endgültig in den Mistkübel der Geschichte geworfen wird.»

Sancho, der sich den Generalshut vom runden Kopf genommen hatte, kratzte sich intensiv am selbigen. Er war eher eine charismatische als eine intellektuelle Persönlichkeit, ganz im Gegensatz zu Herrn Bockfuss, dem er gern das Denken überliess. «Was meinen Sie, Herr Botschafter?» fragte er deshalb etwas ratlos den hageren Herrn zu seiner Rechten. Dieser antwortete heiser mit vom langen Schweigen etwas eingerosteter Stimme: «Sie wissen, verehrte Exzellenz, dass ich mich als offizieller Vertreter Tobosos nicht erfrechen darf, mich in Ihre innenpolitischen Anngelegenheiten einzumischen. Unser gemeinsames Interesse liegt in der Bekämpfung der Bedrohung durch die Infiltration der Kräfte vom Planeten Cerberus. Die Cerberaner gelten geradezu als Synonym für das irrationale Element auf dieser Welt – und, in Klammern bemerkt, auch in anderen Welten. Für die grelle Dissonanz in der allgemeinen Harmonie. Cerberus ist die boshafte Tücke der Objekte. Der Inbegriff der Aufsässigkeit im allgemeinen Glück. Wir Toboser haben andere Motive – sie sind ihrem menschlichen Verstehen nicht zugänglich -, die Cerberaner, wo immer sie auftauchen, mit allen Mitteln zu bekämpfen. Gleichviel. Unser Hauptaugenmerk muss auf jeden Fall sozusagen auf die Aussenpolitik gerichtet bleiben. Ich bitte Sie, das auch bei der Ausgestaltung Ihres Verteidigungsetats in Rechnung zu stellen. Verzeihen Sie mir bitte diesen Hinweis.» Herr von Bockfuss schenkte Don Quichotte einen bitterbösen Blick. «Die Cerberaner, Herr Botschafter, sind für uns ein höchst marginales Problem», sagte er mit verächtlich heruntergezogenen Mundwinkeln. «Sie sind leicht in Schach zu halten, gerade ihre Aufsässigkeit verrät sie ja.» – «Da habe ich aber anderes gehört», entgegnete Don Quichotte ruhig. «Nun ja, es sind Gerüchte... Vor einigen Wochen soll einer der Hochgeschwindigkeitszüge, die zwischen Paris und London verkehren, mitten im Tunnel, der unter dem Ärmelkanal hindurchführt, einfach stehengeblieben sein. Stellen Sie sich vor! Die Türen des Zuges waren blockiert, alle Lichter, bis auf einige Notlichter, fielen aus. Eine Szene wie aus den Kindertagen unseres hochtechnisierten Zeitalters. Niemand fand eine einleuchtende Erklärung für diese Panne des perfekten Funktionierens. Der «Stromausfall» oder was es auch immer war konnte nicht behoben werden, das Energieverteilungssystem widersetzte sich bockig allen Versuchen, es dazu zu bringen, seinen Job zu tun, Blut in die Adern des Gesellschaftskörpers zu pumpen. Nach etwa fünf Stunden behob sich der Schaden wie von selbst.

Das Resultat war nicht nur ein gigantisches Verkehrschaos. Im Zug befanden sich etwa 300 Exemplare der Menschenklasse F, die auf dem Weg zu einem Arbeitseinsatz in den Minen Nordenglands waren, ferner 170 japanische Exemplare der Menschenklasse D, alles Physiker und Chemiker, ein gutes Dutzend Typen A bis C, sowie fast tausend unklassifizierte Einheiten, die zu einem Laborversuch in den Spitälern Grosslondons abdetachiert waren. Während des unplanmässigen Aufenthaltes im Tunnel müssen sich an Bord des Zuges unvorstellbare Dinge abgespielt haben. Das Mobiliar wurde zerfetzt wie von einer Horde Wilder, die Verpflegungswagen leergefressen und –gesoffen. Wüste Schlägereien fanden statt, zuhauf wurden Ohren abgerissen, Nasen abgebissen, Beine und Arme gebrochen, Zähne ausgeschlagen – überall Blut, Kot, Tomatenketchup. Und Orgien hatten stattgefunden, sogar widernatürliche, das Schlimmste aber war, dass man später feststellen musste, dass die klassifizierten Exermplare unter den Passagieren auf rätselhafte Art und Weise wieder iin ihren vorklassifizierten Urzustand zurückgefallen waren, ja gerade die Typen A-C, die japanischen Physiker und Chemiker der Klasse D hatten es besonders schlimm getrieben. Als der Zug endlich in Londons Victoria-Station eintraf und sich die Passagiere als eine gröhlende, vandalisierende Horde in die Strassen ergossen, hatte die Weltregierung offenbar für einige Zeit mehr als alle Hände voll zu tun, da nämlich die Unordnung die Tendenz hat, ansteckend zu wirken und sich auszubreiten wie ein Flächenbrand. Sie werden wohl nicht bestreiten, Herr von Bockfuss, dass dieses Ereignis die Handschrift von Cerberus trägt.

Mittwoch, 12. August 2009

Traurige Jäger (8)

Als die beiden, Sanchon Pansa und Don Quichotte, wieder zu sich gekommen waren und es ihnen gelungen war, ihre Sinne zusammenzuraffen, gerieten sie sogleich nicht schlecht ins Staunen hinein. Das heisst, es blieb ihnen nicht viel Zeit zum Staunen, da, wie beim Übergang vom Traum ins Wachbewusstsein, die eine Normalität rasch von der anderen überdeckt wird und der Kipppunkt, an dem das Staunen ausgelöst wird, eben nur sehr kurz dauert. In der neuen Realität befanden sie sich in einem prachtvoll ausgestatteten Raum, vergleichbar mit der Fürstensuite eines Fünfsterne-Hotels (von einer solchn hatten sowohl Sancho Pansa wie auch Don Quichotte bisher eine Vorstellung nicht aus eigener Anschauung, sondern lediglich aus einschlägigen Spielfilmen und Soap-Operas am Fernsehen gewonnen). Sie befanden sich in einem grossen Raum, der farblich von Zartrosa bis Lachsig von Pastelltönen dominiert wurde. Den Raum, der fast schon ein Saal war, leuchteten grosszügig von der Decke hängende ausladende Kristalllüster aus. Sanchon fand sich auf einem Ruhebett oder einer Chaislongue halb liegen, halb sitzen. Er hielt, wie er erst jetzt bemerkte, ein kelchförmiges Glas in der Hand – ohne Zweifel eine Perle der Glasbläserkunst, wie er hätte bemerken können - , das mit einer goldfarbenen, perlenden Flüssigkeit gefüllt war und ihm gar angenehm in die Nase moussierte, so dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als zu niesen oder zu schlückeln. Vor diese Wahl gestellt, fiel ihm die Entscheidung nicht schwer, und er leerte das Glas mit einem einzigen, genussvollen Schluck bis auf den Grund: Mmh, Champagner, ein teurer Markenchampagner zweifellos, Sancho kannte sich da nicht aus, hatte bisher nur Cava oder Freixenet getrunken, dies aber mousste Moet & Chandon, Dom Perignon, Bollinger Special Cuvée Brut, Tattinger oder gar Roederer Cristal sein (Zahlungen der erwähnten Firmen bitte auf das Konto des Autors). Eine weitere Überraschung war, dass er sich in eine Uniform gesteckt fand, und zwar in eine Uniform, die selbst die Fantasieuniformen eines Oberst Muammar Abu Minyar al-Gaddafi weit in den Schatten stellte. Sancho hatte seinen Lebtag noch nie eine Uniform getragen. Er schaute an sich runter und sah gewichste Stiefel, schwarze Hosen mit breiten roten Längsstreifen, einen Uniformrock mit Achselpaletten und goldenen Knöpfen, ein breites Ordensband und zahlreiche Orden, die im Licht der Kristalllüster verführerisch blitzten. So, wie er auf dem Ruhebett halb lag, halb sass, erinnerte Sanchon wenn schon nicht von der Ausstaffierung, so doch vom gesamten Habitus her ein wenig an Peter Ustinoff als Nero in «Quo vadis?» (Quo vadis, was zu deutsch so viel heisst wie «wohin gehst du?», ist übrigens nicht nur ein gutes Motto für unsere Geschichte und eine echte Kern- und Lebrensfrage für die Weiterentwicklung ihrer Helden, sondern für das Leben der Menschen und der Menschheit überhaupt. Aber das nur nebenbei).

Don Quichotte sass _ wie immer recht würdevoll – in einem lachsfarbenen Sessel mit zierlich geschwungenen Beinen und wäre eine zum Lachen reizende Figur gewesen, wenn ihm in dieser neuen Aufmachung nicht etwas Unheimlich angehaftet wäre. Auch er war vornehmlich schwarz gekleidet, allerdings nicht militärisch, sondern zivil in einem Anzug, der ihm viel zu weit um die mageren Glieder schlotterte. Ferner trug er ein weisses Hemd, dazu eine schwarze Krawatte und eine auffällige Krawattenadel mit einem blauen T auf gelbem Grund. Seine Schuhe waren zwar keine Stiefel, aber ebenfalls blitzblank gewichst. Von den Kufthunden war übrigens nichts mehr zu sehen, die hatten sich offenbar in Luft aufgelöst. Dafür lagen zwei Leoparden faul wie grosase Katzen auf dem kostbaren Teppich herum. Jetzt klopfte es an der Tür, und es trat ein ein ebenfalls Schwarzuniformierter herein, der jetzt die Haken zusammenschlug, den Arm samt Hand und ausgestreckten Fingern so heftig vom Körper wegschleuderte, das es in den Gelenken knackte, und schnarrte und knarrte: «Führer, das Bad in der Menge ist angerichtet. Bitte untertänigst, sich auf den Balkon zu begeben!» Sancho seufzte und stöhnte, lustvoll und angewidert, und quälte sich vom Ruhebett oder der Chaislogue auf die blankgewichsten Stiefel, während Don Quichotte noch immer schweigend auf seinem lachsfarbenen Sessel sass und kerzengerade fanatisch ins Leere schaute. Inzwischen hatte der schwarzuniformierte Schnarrer und Knarrer mit den knackenden Gelenken Sancho in einen knöchellangen Ledermantel hineingeholfen. Draussen hörte man von weit weg und tief unten die Menge und das Volk den Namen Sanchos skandieren. Der Kammerdiener oder persönliche Adjutant öffnete die Flügeltüren des Balkons. Sancho räusperte sich, straffte den Rücken, warf sein Gesicht in Falten und marschierte langsam auf den Balkon hinaus. Wie eine Erlösung ergoss sich die Spannung der Menge da unten in einem Schrei, der langsam gen Himmel fuhr, als Sancho seine Hand zum Führergruss erhob. Er schloss die Augen. Der Ausdruck seines Gesichts war reine Verzückung, doch das konnte aus der Distanz natürlich niemand erkennen. Dies dauerte einige Minuten, die gar nicht verstreichen und in die Vergangenheit verschwinden wollten. Dann riss sich Sancho aus seiner Trance heraus, machte kehrt, verschwand vom Balkon, löste sich auf wie eine Fata Morgana. Die Menge wand sich wie in peinigendem Schmerz.. Sancho hingegen warf sich erschöpft und befriedigt auf die Chaislongue. Das Tagwerk war getan. Der Adjutant eilte mit einem Kelch voll perlender, prickelnder goldfarbener Flüssigkeit herbei. Der Führer dachte flüchtig daran, dass es bald an der Zeit sei, sich in die privaten Gemächer zurück zu ziehen, um mit seinen fetten Weibern eine wüste Orgie zu feiern. Das Bad in der Menge erzeugte in ihm immer eine gewisse geschlechtliche Erregung. Er stellte sich vor, wie ihn die Frauen mit ihren grossen dicken Brüsten ganz bedeckten, auf dass er herzhaft und mit grossem Appetit in sie hineinbeissen konnte. Aber er konnte sich nicht lange bei solchen süssen Gedanken aufhalten. Der Adjutant sagte nämlich höflich, aber mit einer gewissen Bestimmtheit: «Exzellenz, Führer und Majestät, Herr von und zu Bockfuss ist jetzt bereit zum Rapport.» «Was!» brauste Sancho da auf, «wer ist dieser Bockfuss, dass er es wagt, meine Ruhe zu stören?! Siehst du denn nicht, du Hund, dass ich in Gedanken versunken bin? Die Nacht ist tief, und tiefer als der Tag gedacht. Merk dir das! Verstanden?!»

Montag, 3. August 2009

Traurige Jäger (7)

Inzwischen lagen sich in der Arrestzelle Don Quichotte und Sancho Pansa in den Armen, gerührt darüber, endlich wieder vereint zu sein. Don Quichotte erzählte ausführlich, was vorgefallen war, Wie er sich einem Indianer gleich an den Maschinenpark herangeschlichen habe, Iein schwarzer Schatten in der Nacht; wie er, Don Quichotte, langsam und ohne auch nur zu atmen seine Laserpistole gehoben habe und mit einer Salve aus Licht und Lärm über de Cerebraner hergefallen sei, so dass dieser fast augenblicklich seinen Geist habe aufgeben müssen. Die Menschen aber seien undankbare Ignoranten, eingebildete Schwachköpfe, cabrones und calabazos. So sässen sie beide denn nun in Gottes Namen hier in diesem Loch, nicht einmal mit dem Nötigsten, nämlich Wasser und Brot, versehen. Aber Don Quichotte sprach schon seit einiger Zeit ins Leere, denn Sancho, für den es ein langer und ereignisreicher Tag gewesen war, war nun sanft eingeschlafen, was sich an langen, regelmässigen Atemzügen erkennen liess, die allmählich in ein fürchterliches Schnarchen übergingen, ein Geräusch, das Don Quichotte so vertraut und lieb war, dass auch ihn der Schlummer übermannte.

Don Quichotte träumte (aber vielleicht war es gar kein Traum, sondern durch Zauberei möglich gewordene Wirklichkeit), das es ihnen, nämlich ihm selbst und seinem Assistenten Sancho Pansa, gelang, ihr Gefängnis zu verlassen. Und zwar gelang es ihnen unter Zuhilfenahme solcher Phänomene wie Unsichtbarsein, Durchdiewändegehenkönnen etc., die Arrestzelle und auch den Maschinenpark unbeschadet und ohne von Kugeln durchlöchert zu werden zu verlassen. Natürlich mussten sie als erstes ihre Lufthunde finden. Die hatten ihre Gestalt inzwischen auch gewandelt und sahen nun nicht mehr wie Fahrräder aus, sondern präsentierten sich, wie Sancho fand, in einer äusserst kuriosen Form. Ihrer wahren Form, wie Don Quichotte erklärte. Lufthunde seiner Fahrzeuge oder Reittiere – gleichviel: einfach Fortbewegungsmittel –, mit denen man nicht nur durchs Wasser, durch die Luft und auf der Erde reisen, sondern auch durch die Zeit, vorwärts und rückwärts, mehr noch, sogar durch den n-dimensionalen Raum. Was ein n-dimensionaler Raum sei, verstehe er, Sancho Pansa, mit seinem schlichten Gemüt wohl kaum, falle es doch sogar ihm selbst, Don Quichotte, schwer, sich diesen Raum ganz plastisch vorzustellen. Das gebe er ganz unumwunden zu. Sancho bestätigte gern, dass er von n-dimensionalen Räumen nichts verstand. Verwundert und mit einigem Respekt begutachtete er die verwandelten Fahrräder, die sich da so wundersam teleologisch entfaltet und zu ihrer wahren Form gefunden hatten (Sancho dachte natürlich nicht in Begriffen wie der der teleologischen Entfaltung und der wahren Form, sondern staunte einfach bloss). Die Lufthunde hatten jetzt als Vorderleib, gewissermassen, die Form eines Hundes, und zwar eher eines Windhundes oder noch eher eines Greyhounds als eines Schäferhundes oder gar eines Dackels. Allerdings wuchsen ihnen Flügel aus den Schulterblättern, was sonst bei Hunden ja eher nicht vorkommt. Der hintere Teil der Lufthunde endete nicht in einem Schwanz, jedenfalls nicht in einem Hundeschwanz, sondern viel eher in einem Fischschwanz oder einer Schwanzflosse, wie man sie gemeinhin bei Meerjungfrauen und anderen Vertretern der Gattung der Pisces findet. Um den Hals trugen sie überdimensionierte Armbanduhren aus einem weichen, nachgiebigen Material wie die zerfliessenden Uhren von Salvador Dalì, welcher ein spanischer Maler und damit ein Landsmann von Don Quichotte und Sancho Pansa war. Item. Diese zerfliessenden Armbanduhren, die man in diesem Fall korrekt als Halsbanduhren bezeichnen sollte, und das Zifferblatt in den Farben des Regenbogens lag auf der oberen Seite des Halses.

So standen die Lufthunde also da und wedelten einladend mit dem meerjungfrauenhaften Fischschwanz. Aber Sancho, wie sich die geneigte und mit einem feinen psychologischen Gespühr ausgestattete Leserschaft sicher schon selber denkt, dachte natürlich gar nicht daran, sich in den Sattel zu schwingen. Er fand tausend Gründe, die gegen das Besteigen von Lufthunden sprachen, hielt dafür, dass er zu schwer sei für das zierliche Tier (oder Ding), führte an, dass ihm in der Luft und vornehmlich in grosser Höhe schwindlig werde, dass er noch nie einen Lufthund gefahren oder geritten habe und deshalb nicht wisse, wie die Sache zu steuern sei, und überhaupt, er sei weder John Wayne noch Old Shatterhand, sondern Sancho Pansa und darauf geschissen. Aber Don Quichotte mit seinem schier unbegrenzten Vertrauen auch in Erscheinungen, Vorkommnisse und Ereignisse ausserhalb der Norm und seiner wahrhaft übermenschlichen Überzeugungskraft brachte Sancho schliesslich doch noch dazu wenigstens einen Flug-, Reit- oder Schwimmversuch zu wagen.

Kaum, dass sie mehr oder weniger bequem auf dem Rücken der braven Fortbewegungsmittel sassen, fühlten sie sich auf die seltsamste Art und Weise durch die Luft und den Raum eher gesogen als geflogen, auch war die Geschwindigkeit, mit der sie reisten, so enorm, dass es ihnen alle Gedanken, ja den allergrössten Teil der bewussten Wahrnehmung überhaupt, aus dem Hirn heraus blies, so dass sie später weder sagen konnten, ob die Reise lang oder kurz gewesen, angenehm oder unangenehm verlaufen sei.

Mittwoch, 29. Juli 2009

Traurige Jäger (6)

Sancho war inzwischen wirklich ein wenig in seiner Gartenwirtschaft hängen geblieben. Es gab ja auch einiges zu tun, diesen gewaltigen Durst zu löschen. Die beiden jungen Burschen waren schon längst weg und die neuen Tischnachbarn ganz nett. Zwei alte Säufer, Pensionierte aus dem Nachbardorf, die es sich hoch anrechneten, einer Dame ein paar Biere zu offerieren. Man redete über Gott und die Welt, hechelte die nationale Politik und die Cervelatprominenz durch und Sancha musste von ihrer Heimat erzählen. Spanien! Sangria und Flamenco und Stierkampf und heissblütige Senoritas und Olé! Da tut sich manchem alten Säufer die Vorstellungskraft weit auf. Doch plötzlich erinnerte sich Sancho seiner Mission. «Ach Gott, ich habe ja meinen Herrn ganz vergessen! Ich muss sofort gehen. Ahora mismo.» – «Was! Einen Herrn hast du! Das ist aber schade!» meinte einer der pensionierten Säufer, der sich in wenig in die stark gebaute spanische Dame mit dem wohlklingenden Bariton verguckt hatte – man könnte sagen, er hatte sie sich schöngesoffen –, aber Sancho liess sich jetzt nicht mehr aufhalten. «Hijcho de puta!» meinte er, wenig damenhaft, nur, und machte sich mit einem leichten Seemanns- oder Seefrausgang auf und davon und aus dem Staub.

Aber es gab da eine Schwierigkeit. Sancho hatte nämlich ganz vergessen, wo er seinen Herrn zurückgelassen hatte. Das Luftross oder den Lufthund hatte er auch vergessen und schwankte zu Fuss. «Don Quichoooote!» rief er, alle Sicherheitsmassnahmen in den Wind schlagend, «Don Quichooote!» Ihm war plötzlich weinerlich zu Mut, ganz einsam fühlte er sich, so allein in dieser fremden, kalten Welt. Er wollte nur noch eins: zurück unter die Fittiche seines Herrn, der immer wusste, was zu tun und in welche Richtung das Lebensschiffchen zu steuern war. Derart vom Instinkt geleitet kam er in die Nähe des Maschinenparks der Armee, wo inzwischen der Brand am Jeep gelöscht worden war. Mit dem Mut oder der Verzweiflung der Betrunkenen machte er sich bemerkbar. «Halt, stehen bleiben!» rief darauf die Wache reglementsgemäss und befehlskonforn unserem armen Sancho zu. «Mein Herr Soldat», erwiderte dieser mit eindeutig fremdländischem Akzent, «verzeihen Sie bitte die späte Störung, und seien Sie versichert, dass ich ein ganz harmloser Mann oder in Gottes Namen auch eine ganz harmlose Frau bin, die nur eine kleine Auskunft von Ihnen erbittet. Ich suche nämlich Don Quichotte, meinen Herrn und Gebieter. Könnte es sein, dass er ganz zufälligerweise hier vorbei gekommen ist? Er ist lang und hager, sowohl sein Körper als auch sein Kopf sind eigenartig in die Länge gezogen; unter der Nase spriesst ihm ein Schnurrbart, der traurig über seine Mundwinkel fällt; sein Blick ist fest und bestimmt; er hält sich aufrecht und würdig, obgleich er kurze Hosen trägt wie ein Pfadfinder; seine Beine sind aber nicht die glatten Beine eines Knaben, sondern dürr und knorpelig und mit grauen Haaren überwachsen…» Sancho hätte, zunehmend ins Feuer geratend, wohl seine Beschriebung mit noch vielen weiteren Details ausschmücken können, aber der Soldat wusste längst Bescheid. «Und ob wir diesen feinen Herrn kennen!» meinte er barsch. «Wenn Sie seine Bekannte sind, dann kommen Sie am besten gleich mit!» Davor fürchtete sich unser Sancho verständlicherweise zwar sehr (und es kam ihm so vor, las sei er David kurz vor dem Gang in die Löwengrube), aber die Hoffnung, das der Löwe schliesslich die Gestalt seines Herrn haben würde, war grösser aös die Furcht.

Inzwischen war im Wachlokal der Korporal von seiner Meinung, der Delinquent sei ein Spion, wieder abgekommen. Im Radio war nämlich eben die Meldung durchgegeben worden, dass aus der hiesigen psychiatrischen Klinik zwei Patienten entwichen seien, und die Beschreibung des einen Patienten passte so genau auf seinen Gefangenen, dass kein Zweifel an der Identität des vermeintlichen Spions oder Terroristen übrig blieb. Der Korporal hatte sich lautstark darüber empört, das in der Radiomeldung die beiden Ausreisser als zwar skurril, aber durch und durch harmlos beschrieben wurden, was es ohne Gefahr erlaube, die beiden um schonenedes Anhalten zu beten. Der Korporal hatte wiederum einen seiner Soldaten ins Restaurant Sonne geschickt, obwohl er wusste, dass ihm das bei seinem vorgesetzten Offizier keine Punkte einbrachte. Er war zwar der Meinung, dass man unverzüglich mit der Irrenanstalt telefonieren müsse, wagte aber doch nicht, das selber zu entscheiden, insbesondere, da die Irrenanstalt eine zivile Institution war und sich der Verkehr zwischen der militärischen und zivilen Sphäre vor allem in Manöverzeiten nicht so ohne weiteres bewerkstelligen liess.

Als nun der Wachabende den zweiten Verrückten hereinführte, löste das bei unserem wackeren Korporal beinahe eine Nervenkrise aus. Schon leicht hysterisch liess er Sancho, der wieder mit seinen Erklärungen anfangen wollte, gar nicht zu Wort kommen, sondern schrie: «Weg mit ihm, aus den Augen mit ihm! Werft ihn zum anderen hinein oder macht mit ihm, was ihr wollt! Ja ist denn das ein Irrenhaus hier?» Die Soldaten, die nicht nur das Verhalten ihres Korporals, sondern vor allem das Aussehen Sanchos im geblümten Rovck und mit schief auf dem Kopf sitzendem Sonnenhut, eines Sancho, der stark aus dem Mund nach Bier roch und Reden hielt, ddie beinahe noch geblümter waren als sein Rock. Ziemlich witzig fanden, gerieten mit dem Korporal beinahe in eine handfeste, zu einer Schlägerei ausartende Auseinanderstezung. Der Korporal fand nämlich das aufkeimende Gelächter gar nicht lustig und wurde noch rabiater.

Doch da erschien zum zweiten Mal an diesem Abend der diensthabende Offizier auf der Bildfläche, nun noch viel röter von der Hitze, dem gekühlten Rosé und dem nie abbrechenden Ärger dieses Tages.

Als er die Neuigkeit vernahm, nämlich dass Don Quichotte, der Delinquent, mit dessen Gefangennahme er sich vor seinen Kameraden schon gebrüstet hatte, gar kein Spion und Terrorist, sondern ein ganz gewöhnlicher Verrückter sei, begann er seinerseits herumzuschreien und herumzutoben, bezeichnete den Korporal als Hornochsen und Rindvieh, auch das Wort Arschloch fiel. Ihn, den Deinsthabenden, wegen einer solchen Lappalie zweimal aus einer wichtigen Lagebesprechung zu sprengen, grenze an Insubordination. «Den Irrenarzt hätten Sie holen müssen, aber das fällt einem Kamel und Esel wie Ihnen ja nicht ein. Ein Kamel und Esel sind Sie, Korporal, und ein Spatzenhirn haben Sie, Korporal, verstanden?» Worauf der Korporal mit vor Wut gespresster Stimme zwischen den Zähnen hervorstiess: «Jawohl, Herr Major, ich bin ein Hornochs und ein Rindvieh, ferner ein Esel und Hornochse, ferner ein Arschloch mit Spatzenhirn, habe verstanden, Herr General!» Worauf sich der Oberleutnant zackig um 180 Grad drehte und ohne zu salutieren mit wütenden Schritten im Dunkel verschwand, der «Sonne entgegen, wo der Rosé wartete, der leider inzwischen warm geworden war.