Donnerstag, 29. April 2010

Traurige Jäger (30)

Ich, der Verfasser, befinde mich seit einiger Zeit schon in diesem Zimmer, in dem alles weiss und sauber ist. Der Tagesablauf ist streng geregelt. Gott sei Dank. Pünktlich um viertel vor sieben am Morgen bringt mir die Schwester das Frühstück. Dann werde ich angehalten, mich zu waschen und zu rasieren. Wenn ich mal keine Lust dazu habe, werde ich mit sanftem Zwang dazu überredet. Im besten oder im schlimmsten Fall brauche ich weder das eine noch das andere zu tun. Zweimal pro Woche werde ich gebadet. Irgendwann im verlauf des Vormittags gibt’s einen Apfel und ein Glas Tee. Um halb zwölf ist Mittagessen, dann muss ich wieder für zwei Stunden ins Bett. Um halb sechs Abendessen. Manchmal erzähle ich einem freundlichen Onkel im weissen Kittel aus meiner Kindheit. Auch darf ich zeichnen und malen, in dieses Heft hier schreiben. Alles, was ich tue, wird gern gesehen. Es geht mir gut, man mag mich, ich werde hier bleiben.

Montag, 26. April 2010

Traurige Jäger (29)

Die Geschichte ist nun bald zu Ende erzählt. Don Quichotte und Sancho Pansa wurden, lese ich im Krankenbericht des zuständigen Psychiaters, anderntags vom Arrestlokal in die Klinik und damit in den zivilen Bereich zurückgestellt. Sie leisteten ihrer erneuten Internierung offenbar keinen nennenswerten Widerstand. Natürlich trennte man die beiden ungleichen Freunde in der Folge. Sancho wurde sogar an einen anderen Ort verlegt, da es die Ärzteschaft als sozusagen sicher erachtetem dass entweder Don Quichotte auf Sancho Pansa oder aber Sancho Pansa auf Don Quichotte oder sowohl der eine auf den andern als auch der andere auf den einen einen ungünstigen Einfluss ausübe.

Was weiter mit den beiden geschehen ist, wird in den Papieren nicht mehr erwähnt und entzieht sich somit den Kenntnissen des Berichterstatters. Es bleibt offen, ob sie zum guten Ende als geheilt entlassen werden konnten, darf aber mit gutem Grund bezweifelt werden.

Samstag, 17. April 2010

Traurige Jäger (28)

Tausenderlei bunte Vögelein auf den Bäumen begannen zu trillern und schienen mit ihrem mannigfaltigen frohen Gesängen Willkomm und Gruss zu bieten der frischen Morgenröte, die bereits an den Pforten und Erkern des Ostens die Reize ihres Angesichts enthüllte und aus ihren Locken eine unzählige Menge feuchter Perlen schüttelte, in deren süssem Nass sich die Pflanzen badeten und nun aus ihrem Schosse weissen feinen Perlenstaub auszustreuen und nieder zu regnen schienen. Die biegsamen Weiden tröpfelten erquickliches Manna, das Brünnlein lachte plätschernd, die Bäche murmelten, die Wälder wurden heiter, und die Wiesen schmückte reicher der Glanz des kommenden Morgens.

Sancho dehnte und reckte sich, dann öffnete er das linke Auge, dann ganz schnell das rechte. Er war überzeugt davon, tot und gestorben zu sein, gefressen von den kannibalischen Urmenschen; aber als er an sich hinunter schaute, war alles noch da, sogar sein dicker Wanst. Dann glaubte er für einen Moment, dieser Wanst sei vielleicht ein ätherischer und er befinde sich im Paradies oder sonst einer Art Überwelt, aber dann knurrte dieser Wanst ganz unätherisch und unesoterisch, und da wusste er, dass er sich noch in irdischen Gefilden befand, was aber nicht weniger erstaunlich war, als wenn er sich Harfe spielend auf einer Wolke sitzend wieder gefunden hätte.

Denn er konnte sich ganz und gar nicht erklären, wie er aus den Zähnen der Urmenschen so ganz und gar unbeschadet hatte hervor- und herausgehen können. Gewiss: es hatte in seinem Leben nun schon genug Wendungen gegeben, die nicht zu verstehen waren. Nicht mit dem Verstand, wenn man von eher durchschnittlicher Intelligenz war wie Sancho. Wenn er rekapitulierte: zuerst war da der Wachsaal mit der schlafenden Schwester gewesen (wie war er überhaupt in diesen gekommen? Er hatte sich ganz und gar nicht krank gefühlt), dann die Sache mit den Cerberanern, des Weiteren das Intermezzo als Weltdiktator, die schrecklich leeren, hell erleuchteten Strassen in der Nacht, Amerika und das Bermudadreieck des Fortschritts, die Schwester des Sheriffs und der Hund Idefix, der nur kurz seine Lebensbahn gekreuzt hatte, leider, Misericordia City, dieser Wahnsinn von einer Stadt, an die es nur ungern und mit Scham zurückdachte, die Schattenengel, das «Café Universum», ein Morde, den man auch als Sachbeschädigung verstehen konnte, die hungrigen Urmenschen und Urahnen – wenn man das alles so überblickte, dann war die momentane Situation an Harmlosigkeit und Heiterkeit gar nicht mehr so zu überbieten.

Sancho schaute sich um, ob er irgendwo seinen Herrn entdecken könne. Und richtig, nicht weit entfernt lag Don Quichotte mit weit offenem Mund im Gras, nur bekleidet mit einem Hemd, das ihm allerdings bis zu den Kniekehlen reichte, so dass man nur gerade die hageren und haarigen Unterschenkel sehen konnte, und schnarchte. Oben schaute sein Antlitz heraus mit leicht gekrümmter Adlernase, tief liegenden, jetzt geschlossenen Augen, lückenhaftem Gebiss und grossem melancholischem Schnurrbart, der noch ziemlich schwarz war und deshalb im Kontrast stand zu dem schütteren, ergrauten Haupthaar. Ein Gesicht, selbst jetzt, im Schlaf, voll feierlichem Ernst, und so hohlwangig, so wenig Backenzähne waren ihm verblieben, dass die Wangen einander im Innern zu berühren schienen.

Neben dem Ritter lag im Gras seine Kleidung: Ein Wams aus chamoisfarbenem Leder, an dem die Knöpfe entweder fehlten oder nicht zueinander passten, befleckt mit jenem Rost, den Regen und Schweiss auf dem löchrigen Panzer hinterlassen. Die enge braune Kniehose von lohfarbenen Flicken verunziert, die grünseidenen Strümpfe nur mehr ein Gitterwerk aus Laufmaschen. Und dann ein Sammelsurium aus Harnisch und Waffenzeug, eine von Schimmel befallene schwarze Ritterrüstung, der goldene Helm Mambrins in Form eines Bartbeckens, Schild, Lanze, Schwert.

Und richtig: Unter einem Baum weidete ein Pferd, hager und langhalsig wie sein Herr, man errät es, Rosinante, und neben ihm der Graue, sein liebes Eseltier.

Da machte Sanchos Herz einen Riesensprung. Ja, nun war man endlich daheim! Sofort musste er den Don wecken, um ihm die ungeheuerliche Tatsache dieser letzten und endgültigen Verwandlung vor Augen zu führen.

Don Quichotte richtete sich kerzengerade auf, als er von Sancho an den Schultern geschüttelt wurde, und schaute sich mit einem vom Schlaf noch etwas irren Blick um. «Wo sind wir?» Zum ersten Mal zeigte sein Gesicht einen Ausdruck von Unsicherheit und Verwirrung. «Aber mein Don!» rief Sancho da begeistert aus, «erkennen Sie denn unser gutes altes Spanien nicht wieder? Daheim sind wir, endlich wieder daheim, in unserem guten alten Buch!»

Don Quichotte liess sich indes von der Begeisterung seines Knappen nicht anstecken. Mit Befremden schaute er auf die im Gras liegenden Kleidungs- und Ritterstücke.

«Aber erinnern Sie sich denn nicht, mein lieber Herr?» insistierte Sancho, «Sie sind ein fahrender Ritter, die Blüte und der Spiegel des fahrenden Rittertums! Beschützer der Jungfrauen, der Witwen und Waisen, derjenige, der kein Gesetz anerkennt ausser jenem, das ihm die ritterliche Ehre diktiert, ein Löwe an Kraft und vor allem an Mut – und nicht zuletzt natürlich ein ergebener Diener der Dame seines Herzens, der schönen und edlen und nicht zu überbietenden Dulcinea von Toboso!» – «Was schwätzt er da für einen Unsinn, Sancho? Ich glaube fast, das, was wir in letzter Zeit an Verzauberungen über uns ergehen lassen mussten, hat ihm das letzte Restchen Verstand geraubt! Ein fahrender Ritter soll ich sein, angetan mit diesem verlumpten Karnevalszeug?! Willst du einen Narren aus mir machen? Wohl bin ich ein Streiter; und mein Kampf ist Handlung zwar ohne Zweck, nicht aber ohne Sinn. Gestritten einzig deshalb weil das Schicksal, das ich Cerberus nenne, den Höllenhund, es so will und man dem Schicksal gerade dadurch, dass man sich ihm zu entziehen versucht, erst recht in die Arme läuft. Denn, Sancho, wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um. Es ist ein Paradox und eine tiefe Wahrheit, die du aber nicht verstehst, Sancho, dass man den Verstrickungen des irdischen Daseins nur dadurch entkommen kann, dass man sich bewusst in sie fügt. – Und geh mir weg mit deiner Dame Dulcinea, die die Dame meines Herzens und aus Toboso sein soll! Sancho, Sancho, wer hat dir das nur eingeredet! Auf Toboso, diesem Stern jenseits der Hoffnung, gibt es keine Damen mehr, gibt es keine Trennungen mehr, weder nach Geschlecht, Ansehen, Aussehen, Alter, Einkommen, noch nach Hautfarbe, Rasse, Gerissenheit, Bosheit und Macht wie in dieser jämmerlich verkommenen Menschenwelt. Toboso ist das Element, in das man eintaucht wie der Tropfen in den Ozean, um ununterscheidbar eins mit ihm zu werden, erlöst von der Vereinzelung und verbunden mit Allem.»

Sancho betrübte sich sehr, als er diese eigenartige Rede von Don Quichotte, seinem lieben Herrn, hören musste. Er hatte sich so gefreut darüber, wieder einmal auf festem Boden zu stehen, mit seinem Herrn in ganz normale Abenteuer zu geraten, in handfeste Prügeleien mit handfesten Menschen, die währschafte spanische Küche und dazu einen handfesten Schluck aus der Bota zu geniessen. Hätte doch nur sein Herr geglaubt, ein fahrender Ritter zu sein! Das wäre doch viel normaler als diese Hirngespinste hier!

Nur war immer noch alles so schwankend wie eh und je, erbarmungslos verwirrend, gnadenlos fremd. Wie gerne wäre Sancho Pansa einfach heimgekehrt auf das kleine Bauerngut zu seiner Frau Teresa Pansa und seiner Tochter Sanchita und seinem Sohn Sanchito. Aber dieser Weg, so ist zu fürchten, war ihm ein- für allemal versperrt. Der Mensch weiss zuviel und zuwenig: Das ist seine Qual. Wer sich einmal in den Zeiten umgetan hat, findet nicht mehr zurück in eine einfach, unkomplizierte Gegenwart.

Mittwoch, 14. April 2010

Letzte-Runde-Trübseligkeit

«Vor nicht allzu langer Zeit sass ich in meinem Büro an meinem Schreibtisch, hatte meine bestrumpften Füsse hochgelegt und las im landesweiten Makler-Bulletin einen öden Artikel aus der Forschungsredaktion darüber, dass Cap-Floaters (variabel verzinsliche Anleihen mit einer Höchstmarke für die Verzinsung, C.U.) der Trend der Zukunft seien - als mein Blick nach unten zu einer Glosse glitt, in der stand: "Danach gefragt, welchen praktischen Nutzen das Wissen hätte, ob Neutrinos eine Masse besitzen, gestand Dr. Dieter von Reichstag vom Mains-Institut in Heidelberg, er hätte nicht die leiseste Ahnung, doch was ihn wirklich erstaune, sei die Tatsache, dass sich auf einem kleineren Planeten (der Erde), der einen durchschnittlich grossen Stern umkreise, eine Spezies entwickelt habe, die in der Lage sei, diese Frage überhaupt zu stellen."
Bestimmt gab es da irgendwelche interessante Verbindungen zu den Cap-Floaters und dazu, welch erstaunliche Produktankurbler sie auf dem Markt der Wohnhypotheken darstellen (ich habe nicht zu Ende gelesen). Aber das Erstaunen, das Dr. von Reichstag eingestand, entspricht mehr oder weniger dem Gefühl, das ich zurzeit häufiger empfinde, auch wenn es weniger gewichtige Dinge betrifft. Dr. von Reichstag kennt vielleicht wie ich die Letzte-Runde-Trübseligkeit, denn alle neuen Empfindungen tragen in ihrer DNS eine Ahnung von ihrem eigenen Ende mit sich. Wenn ich das Neue in dieser Weise betrachte, steht das ziemlich sicher in Verbindung mit meinem Krebs und dazu, dass ich selber ein älterer, schnell verlöschender Stern bin.»

Richard Ford: Die Lage des Landes. Frank Bascombe ist fünfundfünfzig Jahre alt und freut sich mit schöner Strandvilla und zweiter Ehefrau auf ein ruhiges Leben. Völlig unvorbereitet bringen eine Ehekrise und eine Krebsdiagnose alles ins Wanken. Nachfolgeroman von «Der Sportreporter» und «Unabhängigkeitstag». «Pflichtlektüre» für alle Fünfundfünfzigjährigen (dieses Doppelte-Schnapszahl-Jahr - 2010 - haben alle Fünfundfünfzigjährigen den Jahrgang 55), aber evtl. auch für andere Jahrgänger interessant.

Donnerstag, 1. April 2010

Blues im Blut



Es gab einen verborgenen, nur ihm offensichtlichen Widerspruch zwischen seinem banalen Leben und seinem Lebensgefühl, das geprägt war von einem gewissermassen pathetischen Hang zur grossen Leidenschaft, erfüllt von heisser Lebenslust und abgrundtiefer Trauer, umflort von leiser Melancholie und erhoben von den Schwingen der Sehnsucht. Er war sich in diesem Gefühl seiner Bedeutungslosigkeit ebenso bewusst wie seiner Einzigartigkeit, seiner elementaren Unwissenheit ebenso sehr wie der grundsätzlichen Unbegrenztheit seines Bewusstseins. Kurz: er hatte den Blues nicht nur im Ohr, sondern auch im Gemüt, ja sogar im Blut. Dort kochte der seine dickflüssig-dunkelviolette, süss-saure Suppe.

Blues, das waren einmal schwarze Sklaven in Baumwollfeldern gewesen, die sich aus ihre Trauer und Wut ins wilde freie Leben spielten und sangen und schrieen und tanzten. Blues ist auch heute noch eine Beschwörung des Paradieses im irdischen Jammertal, ist der Sonnenstrahl, der durch den grau verhangenen Himmel bricht, ist ein Gefühl des Friedens nach einer langen Nacht in der blauen Stunde morgens um halb vier, in einer verrauchten Bar, mit Gästen, die wie die Geister ihrer selbst aussehen, während der Pianist, ganz in sich versunken und ganz für sich selbst, den schwarzweissen Tasten eine Melodie entlockt, eine Tonfolge, die direkt aus dem Herzen der Welt emporzusteigen scheint... Blues, das ist der Moment, der entschwindet, ist die Gegenwart, die sich nicht aufhalten lässt, sondern sich höflich empfiehlt, ist unsere Vergänglichkeit, das Erbärmliche, aber auch das Tröstliche unserer Vergänglichkeit, ist das Aufbegehren und der Schmerz, aber auch die Einsicht und das Annehmen. Blues, das ist jener Teil in uns, der sich nicht zähmen und domestizieren und verformen lässt, Blues ist unsere ureigenste Authentiziät, ist die Unvergänglichkeit unserer Jugend im Altsein und die Weisheit des Alters im Kind. Der Blues in uns ist subversiv, er unterläuft die Rollen, die uns zugedacht sind und die wir ausfüllen sollen, die aber nichts mit unserer echten Natur zu tun haben. Ja, Natur ist ein gutes Stichwort: Blues ist die Natur in uns, das Mineralische und das Pflanzliche und das Tierische in uns, das Salz unserer Tränen ebenso wie der Geschmack unseres Spermas und unseres Bluts.

Er hatte zwar den Blues im Blut, aber gleichzeitig war er sehr kompliziert. Ich will nicht gerade behaupten, dass er ein Intellektueller war – dagegen hätte er bestimmt Einspruch erhoben, wie ein Anwalt, der die Unschuld seines Klienten beteuert -, aber er hatte unzweifelhaft einen zum Komplizierten neigenden Geist, dem alles Eindeutige zuwider war – und deshalb auch eine eindeutige Selbstwahrnehmung seiner Gefühle. Das – eindeutige Gefühle zu haben oder eindeutige Gefühle zu sein -, dachte er, müsste man schon fast als psychologischen Kitsch wahrnehmen. Ich habe den Blues im Blut – lächerlich! Ich lasse mich von Sonnenstrahlen entzücken, die durch graue Wolkenmassen brechen – mehr als verdächtig einer geradezu esoterischen Gesinnung, nah angesiedelt bei der vollkommenen geistigen Verblödung. Der melancholische alte Barpianist klimpert am Klavier, während die besoffenen Gäste über dem Tresen träumen – ein Klischee, in tausend Schwarz-weiss-Filmen festgehalten, in tausend Songs beschworen. Singende Schwarze in Baumwollfeldern, die sich während der Arbeit im Rhythmus der schwermütigen Musik bewegen, und irgendwo spielt traurig eine Mundharmonika – geht es eigentlich noch? Vom Salz der Tränen zu schwärmen, vom süss-sauren Geschmack des Spermas und des Bluts – übelste Blut-und-Boden-Romantik! Jedesmal, wenn er einen echten Blueser sah – keinen intellektuellen Pseudoblueser, sondern zum Beispiel einen Rocker in schweissftriefender Lederkluft, oder einen echten, stinkenden Penner, der sich ein tatsächliches und nicht bloss eingebildetes Elend wegsoff, ergriff ihn so etwas wie eine falsche und auch vergebliche Sehnsucht. Niemals gelang es ihm, wirklich in das Klischee einzutauchen (oder das, was er dafür hielt). Er blieb draussen, auf seinem Beobachtungsposten. Er beobachtete andere, das wohl, aber er beobachtete vor allem auch sich selbst (und zwar vor allem dabei, wie er andere und sich selbst beobachtete). Nur selten gelang es ihm, sich einer kleinen Illusion hinzugeben. Von wegen Blues im Blut – diese Eier hatten vielleicht andere. Wenn überhaupt. Wäre ja schön.

Letzte Nacht träumte er, Janis Joplin zu begegnen. Und zwar nicht als der Zeitgenosse der Sängerin mit der rauen Stimme, der er tatsächlich war – die Joplin, obwohl schon lange tot, wäre tatsächlich nur wenige Jahre älter als er, würde sie noch leben -, sondern als ein Bote aus der Zukunft gewissermassen, als ein aus dem Strom der Zeit herausgerissener Beobachter, der alles von einer höheren Warte aus beurteilen kann. Die Sängerin war gutgelaunt und sah sogar glücklich aus. Er sagte anerkennend zu ihr: «Weisst du, Janis, ein paar von deinen Songs sind zu richtigen Klassikern geworden, die noch immer gespielt werden. Sie haben die kurzfristige Aktualität überdauert und sind in die Musikgeschichte eingegangen.» Worauf Janis nur ihr kehliges, durch Burbon, Zigaretten und Joints veredelte Lachen lachte und ihm den Vogel zeigte. Der war es so was von egal, ob sie in die Musikgeschichte eingegangen war oder nicht. So was!

In Baumwollfelder schuftende Sklaven, die wehmütige Lieder singen... Auch heute schuften Sklaven und machen sich andere ein fettes Leben auf deren Kosten, worauf man ihnen auch noch ihren mehr als verständlichen Neid vorzuwerfen die Stirn hat. Nicht weniger absurd sind die Zustände im heutigen Kapitalismus als die feudalen Zustände im 30jährigen Krieg oder meinetwegen auch im alten Rom oder eben auf den Baumwollfelder der 20er-Jahre im Süden des nördlichen Amerikas. Nicht weniger absurd und nicht weniger ungerecht. Nur das, das darf man heute nicht mehr beklagen. Klagelieder sind verboten; schliesslich leben wir in der besten aller Zeiten. Und aller politischen Systeme. Und aller wirtschaftlichen Systeme sowieso. Nein, wer die Zustände beklagt, macht sich verdächtig der hoffnungslosen Rückwärtserei. Optimismus ist angesagt. Blues, das gibt es heute bloss noch als Nostalgie.