Mittwoch, 26. Januar 2011

Ein Tag wie jeder andere (4)

In diesem Moment erwachte Oesch; es dauerte lange, bis er sich daran erinnerte – oder zu erinnern glaubte – wo und in welcher Zeit er sich befand. Er befand sich in einem Bett, soviel war schon mal klar; und das Zimmer, in welchem das Bett stand, kam ihm auch nicht gerade unbekannt vor. Geweckt worden war er vom Piepsen eines Weckers. Er befreite sich von der Bettdecke und wankte ins Badezimmer: modern, Stil frühe Neunzigerjahre.

So etwas wie ein leises Erschrecken suchte ihn heim, als er in den Spiegel blickte. Das Gesicht kam ihm, genauso wie das Zimmer, nicht unbekannt vor – das war zweifellos er, dieses Gesicht trug zweifellos den Stempel seiner Identität, nur war es ein zu junges Gesicht. Er schätzte es auf 35, höchstens 38 Jahre. Das Gesicht war zwanzig Jahre zu jung für seinen Geschmack – oder vielmehr für sein Selbstverständnis. Beim Erwachen hatte er sich als 55-Jährigen in Erinnerung, aber das mochte der Nachhall eines Traums gewesen sein, der schon erheblich verblasst war. Ist doch schön, dachte er flüchtig, wenn man plötzlich zwanzig Jahre jünger ist, wer wünscht sich das nicht. Manch einer erwacht aus einem Alptraum, in dem er sich als Greis träumte, und nimmt erleichtert war, dass er wieder der Jüngling ist, als den er sich wähnte. Aber bei ihm war es eben nicht so. Bei ihm fühlte es sich eher so an, als würde der Alptraum hier und jetzt beginnen. Er erinnerte sich daran, dass er im Traum etwas gesucht hatte, etwas oder jemanden, und dass er auch etwas gefunden hatte, etwas oder jemanden, aber keinesfalls das oder den, das oder den er gesucht hatte. Er schüttelte den Kopf. Er begann sich bereits an sein vermeintlich neues, aber vermutlich altes, das heisst jüngeres, Ego zu gewöhnen. Er war ein Mann, der sich auf das mittlere Alter zu bewegte, nicht mehr ein Jüngling, bewahre, der Bonus der Jugend war längst schon verspielt, aber doch noch weit entfernt von der statistischen Mitte des Lebens. Obwohl er sich nicht wirklich fit fühlte heute morgen. Wahrscheinlich hatte er gestern Abend etwas zu intensiv ins Rotweinglas geschaut, das kam ja nicht eben selten vor. Klar, er wohnte im Zürcher Kreis 5, allein in einer recht geräumigen Zwei- oder Zweieinhalbzimmerwohnung, ein bisschen junggesellenhaft eingerichtet und ungeputzt, aber ganz bequem. Klar, er war beim Hilfswerk angestellt, seit Kurzem erst, als Redaktor einer Fachzeitschrift und eines Jahrbuchs für Jugendliche und als Assistent der Verlagsleitung. Ein idealer Job für Oesch, in dem er bei einem anständigen Gehalt nicht eben überfordert wurde und seine Freiheiten hatte. In eine Bank hätte Oesch nicht gepasst, genauso wenig wie in eine Werbeagentur. In einer Werbeagentur hatte er kurz gearbeitet, aber da gingen ihm die ewigen Bezeugungen der Mitarbeitenden, wie toll sie alle waren, und dass man wenigstens so tun musste, als wäre man permanent im Stress – der Tag hat 24 Stunden, die Woche sieben Tage – schon bald gehörig auf den Kecks. Nein, das gemächliche traditionsreiche Hilfswerk, das zudem über ein komfortables finanzielles Polster verfügte, passte da schon besser zu ihm. Oesch war nicht faul, aber er war wahrscheinlich weiter davon entfernt, ein Workaholic zu sein, als von der Faulheit. Und Oesch war auch nicht sehr ehrgeizig – er war wiederum weiter vom Ehrgeiz entfernt als von der Bequemlichkeit, genauso, wie seine Natur im Raum zwischen Askese und Genusssucht weit näher bei der Genusssucht als bei der Askese angesiedelt war. Das alles kam Oesch in den Sinn, als er sich rasierte. Ob er wohl regelmässig von solchen Phasen der Selbsterkenntnis heimgesucht wurde. Dabei fiel ihm auf, à propos Genusssucht, dass sein Bauch weit weniger dick war, als er ihn in Erinnerung hatte – er war eigentlich kaum ein Bäuchlein und hatte nicht viel gemeinsam mit dem Bild der Wampe, das ihm im Kopf herumspukte. Wenn ich mich tatsächlich als 55-Jährigen geträumt habe, dann muss ich vielleicht in Zukunft etwas auf mein Gewicht achten, dachte er, ohne dass es ihm wirklich ernst damit war. Auch das Pissen fiel ihm übrigens überraschend leicht. Wieder schüttelte Oesch den Kopf.

Er machte sich auf den Weg zur nächsten Tramstation, den nördliche Teil der Langstrasse entlang, die am Limmatplatz endete, wo er mit dem Vierertram Richtung Bahnhof und dann den Limmatquai hinunter bis zum Bellevue und dann zur Tramhaltstelle Opernhaus fahren musste, wo er das Tram zu verlassen hatte, wenn er rechtzeitig an seinem Arbeitsplatz erscheinen wollte.

Sonntag, 9. Januar 2011

Ein Tag wie jeder andere (3)

Als Oesch aus seiner Erstarrung erwachte, war da immer noch dieser Fluchtimpuls, den er in sich spürte und den er nun unverzüglich in die Tat umsetzte. Ohne sich darum zu kümmern, dass er noch im blossen Hemd und in Hausschuhen war, verliess er seine Wohnung und lenkte die Schritte mit grosser Entschlossenheit in Richtung Stadt. Dabei fiel ihm auf, dass es draussen mittlerweile merklich wärmer geworden war. Obwohl ohne Schal und Jacke, war ihm nicht nur nicht kalt, sondern sogar richtig warm. Das musste ein ungewöhnlich starker Zustrom subtropischer Luft aus südlichen Gegenden sein, den da ein ziemlich stürmischer Föhn mit sich brachte. Plötzliches Tauwetter war im Dezember ja keine Seltenheit, aber ein Tauwetter, das mit diesem Tempo und mit derart hohen Temperaturen einsetzte – es war inzwischen mindestens 15 Grad – hatte Oesch noch nie erlebt. Auch schien dieser Wind mit einem Duft geschwängert zu sein, den Oesch einfach nicht identifizieren, geschweige denn dingfest machen konnte. Obwohl der Duft äusserst intensiv war, war sich Oesch nicht ganz sicher, ob er ihn sich nicht nur einbildete. Er war irgendwie süsslich – Schokolade, Erdbeere, Jasmin, Flieder, weiss der Teufel, dann wieder salzig wie ein Duft vom Meer, plötzlich auch auf eine unsagbare Art geschlechtlich, sexuell, erregend...

Inzwischen war Oesch beim Zehntenhausplatz angelangt, einer Art Zentrum des Ortsteils am Stadtrand, den er bewohnte, und bog – weg von der üblicherweise in anderen Zeitaltern oder auf anderen Realitätsebenen stark befahrenen Wehntalerstrasse – nach rechts ab, in Richtung Hönggerberg, weg von der Zivilisation, die jetzt eine Zivilisationswüste oder eine verwaiste Zivilisation war, Richtung Wald. Von dort, schien ihm, musste die Geruchsimmission kommen, dort musste die Quelle der Düfte sein. Warum Oesch das vermutete, wusste er selbst nicht; er war aber felsenfest davon überzeugt. Gleichzeitig schienen ihm die Gerüche wie Farben zu sein, ja, die Gerüche tauchten die Umgebung je nach Beschaffenheit in ein spezifisches Licht. Oesch musste lachen, denn das war eigenartig, aber auch faszinierend: Synästhesie nannte man das, ja genau, Oesch erinnerte sich daran, weil er dieses Phänomen einmal für ein Buch über Drogenkonsum recherchiert hatte. Und während er zwischen verlassenen Einfamilienhäusern dem Wald entgegenstrebte, mit einer insgesamt nur als «staunend» zu bezeichnenden inneren Haltung, glaubte er manchmal, im heftigen Wind Musikfetzen zu hören, Musikfetzen, die aus einem alten Led Zeppelin-Stück herausgerissen waren, einem Lieblingssong von Oesch, «When the Leeve Breaks», Oesch versuchte sich zu erinnern: «If it keeps on raining levee’s going to braek/When the Levee breaks have no place to stay». Oesch versuchte sich zu erinnern, was «Levee» hiess: Damm, Deich, Schutzwall... sofort zogen Bilder von Holland durch sein Hirn, Bilder von überschwemmten Ebenen, von braunen, weissen und schwarzen Kühen, die aufgedunsen mit dem Bauch nach oben auf den Fluten trieben, und wieder dieser Geruch, dieser Geruch, der im Wind lag und einerseits nach Lust, anderseits nach Tod roch...

Inzwischen war es noch wärmer geworden. Oesch schwitzte, er war eindeutig zu warm angezogen. I am overdressed, sagte Oesch laut und lachte. Er lachte erst verhalten, dann überkam es ihn, und schliesslich wälzte er sich am Boden vor Lachen, das heisst, nein, er stellte sich nur vor, sich lachend auf dem Boden zu wälzen, When the Leeve Breaks when the Leeve Breaks... Wenn alle Dämme brechen, gibt’s keinen Ort mehr, wo man hingehen kann, nein nein, die grosse Flut setzt das ganze Land unter Wasser, die Gefühle überschwemmen ganz unsern Verstand und wir werden verrückt. Vielleicht war Oesch daran, verrückt zu werden, während ein Wind durch die Landschaft fuhr und an den Bäumen rüttelte, der nach Sperma und Scheisse roch und nach Achselschweiss und Pheromonen, ein inzwischen schon heisser Wind, der direkt aus dem Zentrum einer Wüste zu blasen schien, Oesch riss sich das Hemd vom Leib, wenn er verrückt wurde, wen juckte es? Don’t it make you feel bad/When you’re tryin’ to find your way home/You don’t know which way to go? sang Robert Plant, während der mit Düften geschwängerte heisse Wind die laublosen Bäume um ihn herum in die ein wildes Farbenspiel tauchte...

Es war ein Wunder: Von weitem sah Oesch an einem der Holztische vor der Waldhütte einen Mann sitzen. Oeschs Herz schlug schneller, und er rannte jetzt fast. Der Mann sass am Tisch, vor sich eine Flasche Wodka und ein Glas, und schaute in die Oesch entgegengesetzte Richtung. Er war ein Mann in den Fünfzigern, mittelgross, korpulent, ergraut wie Oesch selbst, aber mit grosser Glatze, einem vom Trinken gedunsenen, gelben, fast grünlichen Gesicht und geschwollenen Lidern, unter denen jetzt wie aus Spalten winzige, aber lebendige, gerötete Äuglein blitzten. Während er seinen Blick auf Oesch richtete, funkelte in seinem Blick etwas wie Begeisterung, als wäre er ebenso froh wie Oesch, auf ein anderes menschliches Wesen zu stossen – aber gleichzeitig glomm darin etwas wie Irrsinn. Sein Anzug bestand aus einem alten, zerlumpten schwarzen Frack, ohne Knöpfe. Ein einziger sass noch halbwegs fest, und diesen hatte er auch geschlossen, da er offenbar den Regeln des Anstands Genüge tun wollte. Unter der Nankingweste kam eine Hemdbrust zum Vorschein, völlig verknittert, verschmutzt und verschmiert. Auf seinem Gesicht sprossen dichte, schwarzbläuliche Stoppeln. Sein Gehabe war irgendwie würdevoll und beamtenhaft. Er hob das Glas Oesch zum Gruss und fragte ihn offenbar etwas, was Oesch jedoch nicht verstand. Welche Sprache war das? Oesch tippte auf ein östliches Idiom; wahrschenlich russisch. Auch war der Wodka keine Marke, die man in der Schweiz kaufen konnte. «Ich kann Sie leider nicht verstehen», stammelte Oesch verstört, «woher stammen Sie? Welche Sprache sprechen Sie? English? Français?» Der Russe sprach aufgeregt weiter und begann, jetzt schon wesentlich weniger würdevoll und beamtenhaft, zu gestikulieren. Offenbar war er stark betrunken. Er zeigte immer wieder auf sich, auf Oesch und auf den sie umgebenden Wald, auf den er sich offenbar keinen Reim machen konnte. Auch wurde sein Ton immer anklagender, ja geradezu aggressiv, so, als sei der Russe Oeschs wegen in irgendeine missliche Lage geraten und der solle jetzt gefälligst was tun. Immer wieder tippte er sich selbst auf die Brust und rief: «Marmeladow, Semjon Sacharytsch Marmeladow!» Schliesslich machte sich der Russe an Oesch heran, bis sie Brust an Brust standen, und hauchte ihm seinen Alkoholatem ins Gesicht, während er ihn anschrie.

Oesch geriet in Panik. Er riss sich los von dem Verrückten, ergriff einen am Boden liegenden Ast und schlug auf den verrückten Russen ein, bis dieser zu Boden stürzte. Dann rannte er voller Entsetzen davon.

Sonntag, 2. Januar 2011

Ein Tag wie jeder andere (2)

Es dauerte eine Weile, bis Oesch sich begann, an seinen neuen Zustand zu gewöhnen oder ihn zumindest als Realität zu akzeptieren. Am Abend eines Tages, den Oesch weitgehend untätig verbracht hatte – er hatte ein wenig an seinem Computer herumgespielt, Golf Solitaire und Two of a Kind, ein wenig am Fernseher herumgezappt, hatte eine indonesische Nudelsuppe gekocht und gegessen, war von einem Zimmer ins andere gegangen, hatte sich dabei ertappt, wie er laut mit sich selber sprach – entdeckte Oesch, dass er der neuen Situation momentan beinahe etwas abgewinnen konnte. Das war aber allerdings erst, nachdem er eine Flasche Weisswein und eine halbe Falsche Roten intus hatte. Er hing vor dem Fernseher auf der Couch und sah sich die erste Folge der „Herr der Ringe“-Trilogie ab DVD an. Das plötzliche Gefühl des Wohlbehagens ging von dem (wahrscheinlich trügerischen) Bewusstsein aus, dass es absolut nichts und vor allem niemanden gab, der oder das ihn nun stören konnte – der Kern dieses Wohlbehagens war das (ganz bestimmt trügerische) Gefühl einer absoluten Freiheit. Er konnte tun und lassen, was er wollte – wer sollte ihn dafür kritisieren, wer ihn daran hindern? Höchstens seine eigene Erziehung oder Prägung oder Konditionierung oder wie man das nennen wollte. Er war frei! Niemand beobachtete ihn (ausser er sich selbst).

Nachdem er auch die Flasche Rotwein geleert hatte und eine zweite zur Hälfte geleert war, verflüchtigte sich sein Wohlbehagen allerdings rapide. Er konnte dem Film nicht mehr folgen; kalte Schauer jagten über seinen Rücken, sein Unterleib zog sich zusammen. Vielleicht wurde er krank? Ja, und dann? Es gab jetzt nicht nur keinen Aluk mehr, der ihm notfalls Tee kochte, ihm den Rücken mit Tigerbalsam einrieb und ihn tröstete, es gab auch keine Ärzte und Krankenschwestern mehr und keine 24-Stunden-Permanence-Praxis im Hauptbahnhof und keine Notfallstationen in den Spitälern, das heisst, die Notfallstationen gab es schon noch, einfach ohne Ärzte und Krankenschwestern und Patienten (nahm et jedenfalls an, gecheckt hatte er es ja noch nicht), notfalls musste er in eine Apotheke oder eine Praxis einbrechen, aber was hiess in diesem Fall schon einbrechen, juristische Tatbestände waren in der Welt, wie sie jetzt war, ganz irrelevant und nichtexistent geworden (denn es gab ja auch keine Polizisten und keine Richter mehr, wenngleich auch noch Polizeistationen und Gerichte), er, Oesch, musste also in Apotheken oder Arztpraxen einbrechen und sich Medikamente besorgen. Allerdings war sein medizinisches und pharmazeutisches Wissen beschränkt, sehr beschränkt. Dabei fiel ihm ein, dass er sich dann gleich mit ein paar Sachen aus dem Giftschrank versorgen konnte, die ihm dieses elende Leben hier ein wenig erleichtern konnten, zum Beispiel Valium oder Morphium, und überhaupt musste er daran denken, seinen Alltag zu organisieren. Er musste sich mit Lebensmitteln versorgen. Also zuerst einmal in einen Supermarkt einbrechen (aber was hiess da einbrechen?), das konnte er gleich morgen früh tun. Er könnte sich auch Geld beschaffen, aus der Ladenkasse oder vielleicht auch in einer Bank, was davon abhing, wie stark das Geld gesichert war. Geld hatte in den letzten Jahren seine materielle Seite sowieso zusehends verloren und zwar zum reinen Zahlenspiel verkommen. Sich Geld zu beschaffen machte momentan überhaupt keinen Sinn, aber da er natürlich durchaus damit rechnete, dass der momentane Zustand irgendwann ein Ende haben würde, war die Frage der Geldbeschaffung, sozusagen im Hinblick auf eine allerdings höchst ungewisse Zukunft, durchaus einen Gedanken wert. Der kluge Mann sorgt vor, sagte Oesch laut und lachte unfroh. Es wäre auch durchaus nicht ohne Reiz, in fremde Wohnungen einzusteigen und sich da ein wenig umzusehen. Er konnte morgen gleich bei seinen Nachbarn beginnen, die er noch nie besucht hatte; er hatte sich schon lange gefragt, wie die wohl eingerichtet waren.

In den Laden, eine Filiale der österreichischen Spar-Kette gleich via-à-vis von seinem Haus, brauchte er gar nicht einzubrechen. Der Laden war zwar ebenfalls menschenleer, aber beleuchtet und offen. Auch die Kühlregale funktionierten tadellos, wie Oesch feststellen konnte. Die Energieversorgung war also trotz allem, was passiert sein mochte, nicht oder noch nicht zusammengebrochen. Sogar das Brot war, wie Oesch sich überzeugen konnte, noch einigermassen frisch oder sozusagen frisch. Ziemlich wahllos stopfte Oesch Lebensmittel in die mitgebrachten Taschen. Zu bezahlen brauchte er ja nicht. Er konnte gar nicht bezahlen. Trotzdem fühlte er sich unwohl bei seinem Tun. Streng genommen war die Aktion, die er hier vollzog, Ladendiebstahl, aber der Begriff verliert, wie überhaupt jede Moral, sozusagen jeden Sinn, wenn man schätzungsweise der einzige noch vorhandene Mensch auf dieser ganzen gottverdammten seelenlosen Erde ist. Das wusste Oesch natürlich nicht, musste aber immer mehr davon ausgehen, da sich bisher auch medienmässig kein menschliches Wesen aus der Zeit nach dem 10. Dezember zu Wort gemeldet hatte oder sonstwie bemerkbar machte.

Nachdem Oesch zu Hause die Lebensmittel im Kühlschrank und im Küchenkasten deponiert hatte, läutete er vorsichtshalber an der Tür seiner Nachbarn, aber es reagierte natürlich niemand und die Tür war verschlossen. Sämtliche Türen, die er im Haus ausprobierte, waren verschlossen, bis auf die Tür, die zu einer der Penthousewohnungen führte. Nachdem er, höflich, wie er nun mal war, aber leider völlig vergeblich geläutet hatte, konnte er das Appartement problemlos betreten. Die Wohnung sah aus, als sei sie eben erst verlassen worden, überall fanden sich Spuren des Alltagslebens, das sich in diesen Wänden abgespielt hatte: abgelegte Kleider, verwelkende Blumen auf dem Tisch, herumliegende Illustrierte, eine angebrochene Cornflakes-Packung auf dem Tisch, eine Tasse erkalteten Tees... Oesch betrat das fremde Schlafzimmer und entdeckte in sich einen Impuls, der ihm sogleich peinlich war: Er hatte das Bedürfnis, in Schubladen zu stöbern und Schränke zu durchwühlen. Doch da liess ihn ein Geräusch aufhorchen: ein Knacken und Schaben, vielleicht auch ein kurzes Schnauben oder Stöhnen... Oesch verharrte reglos, zutiefst erschrocken, schwankend zwischen Hoffnung und Furcht – so blieb er für vielleicht fünf Minuten stehen, war ganz Ohr, atmete nur flach, um ja kein Geräusch zu verpassen – aber nichts rührte sich mehr, und Oesch wollte seine Examination schon fortsetzen, kopfschüttelnd; da war er wohl einer Sinnestäuschung erlegen, einer akustischen Halluzination. Noch während er das dachte, hörte er weit entfernt, weit unten im Haus eine Tür zuschlagen.

Ohne dass er hätte begründen können, warum, war Oesch in höchstem Mass alarmiert. Er eilte über das Treppenhaus in seine im vierte Stock gelegene Wohnung hinunter – den Lift zu nehmen getraute er, der unter Klaustrophobie litt, sich nun, da sich alles so verändert hatte, erst recht nicht mehr, das fehlte noch, dass er im Lift stecken blieb, und kein Alarmknopf der Welt konnte ihn aus dieser Zwangslage befreien – er eilte also zu Fuss zu seiner Wohnung hinunter, seine Wohnungstür, die er offen gelassen hatte – warum auch nicht? – war zu, daher also das Geräusch; wahrscheinlich ein Windstoss, aber woher? Es gab im Inneren dieses gut isolierten Hauses keine geheimen Winde! Und als Oesch seine Wohnung betreten wollte, musste er feststellen, dass die Tür abgeschlossen war.

Zunächst war Oesch einfach nur perplex. Total verblüfft. Der erste Gedanke, der ihm spontan durch Hirn fuhr, galt Aluk: Aluk ist nach Hause gekommen, irgendwie hat sich der Spuk verflüchtigt und alles ist wieder normal. Oeschs Herz pochte und hämmerte. Er läutete an seiner Tür. Nichts rührte sich. Oeschs Hände fuhren in seine Hosentaschen, aber da war nichts, nur ein Papiertaschentuch und ein Feuerzeug und ein nutzloses Handy, aber kein Schlüssel, natürlich nicht, denn der Schlüssel befand sich ja in der Wohnung, aus der er nun ausgeschlossen war. Das konnte doch nicht sein! Oesch hämmerte mit seinen Fäusten an die Tür, rief «Aluk, Aluk!», so lange, bis er, völlig ausser Atem, die offensichtliche Sinnlosigkeit seines Tun erkannte. Er wählte – zum xten Mal seit der rätselhaften Verwandlung der Welt und der Versteinerung der Zeit – auf seinem Handy die Nummer von Aluks Handy und zum xten Mal meldete sich lediglich die Mailbox.

Ganz plötzlich wurde Oesch von einem tiefen Gefühl der Einsamkeit und des Verlusts ergriffen. Die Flut im Meer der Trauer, das auch sonst an die Gestade seiner Seele brandete, stieg ins Uferlose. Diese Trauer galt weniger ihm selbst als Aluk, nicht seiner eigenen Einsamkeit, sondern dem Umstand, dass er Aluk irgendwo allein zurückgelassen hatte. Er empfand ein brennendes Schuldgefühl, so, als habe er Aluk bewusst und willentlich im Stich gelassen. Die Art seiner Gefühle für Aluk war so, dass er Aluk nicht leiden sehen konnte. So, als sei er ihm buchstäblich ans Herz gewachsen, empfand er Schmerz und Verzweiflung seines Gefährten um ein vielfaches verstärkt bei sich selbst. Er wusste, dass das sentimental war, aber er empfand es so, als habe Gott – an den er im Übrigen nicht einmal glaubte – ihm das Schicksal von Aluk persönlich anvertraut. Er verstand das als die Bewährungsprobe seines Lebens – konnte er seinen Bruder tragen? Insofern war die Beziehung zu Aluk für Oesch weit mehr als eine normale Beziehungskiste. Aluk war für Oesch – natürlich in einem übertragenen Sinn – zu einem Teil seiner selbst geworden. Und zwar zum wichtigsten Teil seiner selbst.

Oesch sass auf einer Stufe im Treppenhaus vor seiner abgeschlossenen Wohung, während ein solcher Gefühlsstrum durch seine Brust jagte, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Er sass da, bis er es nicht mehr aushielt. Die Wohnungstür mit Gewalt zu öffnen, schien ihm absolut sinnlos – ohne dass er hätte sagen können, warum. Wie im Traum wusste er, dass ihn in seiner Wohnung alles Mögliche erwarten konnte – so, wie es seit dem ominösen 10 Dezember schliesslich dauernd passierte –, aber sicher nicht Aluk. Was also wollte er in seiner Wohnung? Die Vorstellung, seine Wohnung jemals wieder zu betreten, erfüllte ihn mit Widerwillen, ja Ekel. Eine Wohnung mag in der normalen Welt ein Ort der Geborgenheit sein – in der Welt, in der Oesch sich jetzt befand, war die eigene Wohnung ein Gefängnis oder gar ein Grab.