Freitag, 29. Februar 2008

Hotel «The Doors» – Interview mit dem Hotelmanager Jack Wolf (Interview 2)




Globel Events: Jack Wolf, welche Idee, welches Konzept stecken hinter Ihrem Hotel?

Jack Wolf: «The Doors» ist mehr als ein Hotel. Ins «Doors» kommt man nicht primär, um zu übernachten. Ein klassisches Hotel dient als Mittel zu Zweck, es ermöglicht den Besuch einer interessanten Stadt oder einer spektakulären Landschaft, es ist Ausgangspunkt für Erlebnisse und Ausflüge. Das «Doors» hingegen ist selbst das Ziel und das Erlebnis. Das Wesentliche eines Urlaubs im «Doors» ist der Aufenthalt in diesem so genannten Hotel, das aber in Wirklichkeit Türen öffnet in ungeahnte Erlebniswelten.

Globel Events: Wie kam es zum Namen Ihres Hotels, das mehr sein will als ein Hotel, und welche Bedeutung hat dieser Name für das Konzept Ihres Hauses?

Jack Wolf: Wie ich schon gesagt habe, ist das Hotel selbst das Eingangstor in eine Welt, in der sich Sein und Schein, Realität und Fantasie, Ernst und Spass vermischen oder vielmehr ununterscheidbar werden. Unser Haus ist das Eingangstor in eine «Twighlight Zone», in eine Sphäre der Zwielichtigkeit. Der Name selbst geht auf eine Rockband des letzten Jahrhunderts zurück. Vielleicht erinnern Sie sich an einige ihrer Titel? Riders on the Storm, Break on through to the other Side, Light my fire, Not to touch the earth, Alabama Song... Vor allem ihr Sänger, Jim Morrison, verstand sich ja als ein Bewohner des Grenzlandes zwischen den Welten, als den Eidechsenmann, der die Wurmlöcher zwischen den Universen gefunden haben will. Türen verbinden das Drinnen mit dem Draussen, das Vorher mit dem Nachher. Es ist übrigens interessant, dass die Rockband ihren Namen von einem Buch geliehen hat («The Doors of Perceptions», die Türen der Wahrnehmung, von Aldous Huxley, das wiederum von Erfahrungen mit den psychedelischen Drogen Meskalin und LSD handelt – übrigens auch heute noch sehr interessant zu lesen. Huxley wiederum spielt damit auf ein Zitat von William Blake an: «If the doors of perceptions were cleansed, everything would appear to man as it is, infinite.» Wenn die Pforten der Wahrnehmung gereinigt wären, würde dem Menschen alles so erscheinen, wie es ist, nämlich unendlich.

Globel Events: Was haben die Gäste denn konkret in Ihrem Haus zu erwarten? LSD-Tripps?

Jack Wolf: Sie haben nichts zu erwarten – und alles! Was in Dantes Inferno über dem Eingang zur Hölle steht, könnte auch über dem Eingangstor zum Hotel «The Doors» stehen: Lasst also, die ihr hineingehet, alle Hoffnung fahren! Dieses Eingangstor kann aber auch ins Paradies führen: das ist alles offen und hängt ganz allein vom Besuchenden – oder vielleicht auch vom Zufall – ab. Vielleicht erwartet sie auch ein LSD-Tripp – vielleicht, vielleicht. Oder jede andere Möglichkeit der Berauschung, der Ausschweifung und des Exzesses. Es ist aber auch möglich, dass die Gäste unseres Hauses von ziemlich brutalen – ich würde sagen: texanischen – Cops inhaftiert, verhört und möglicherweise sogar gefoltert werden. Wobei lange, vielleicht bis ans wie auch immer geartete Ende, offen bleiben wird, ob dies Teil einer Inszenierung ist oder bitterer Ernst. Wie gesagt: Wir pflegen im Hotel «The Doors» die Uneindeutigkeit und lassen die Sachverhalte gerne in der Schwebe. Alles ist letztlich der Interpretation unserer Gäste überlassen. Wenn sie zu dumm sind, sich einen intelligenten Reim auf die Ereignisse zu machen, können wir schliesslich auch nichts dafür. Auch nicht für ihre Leichtgläubigkeit oder ihren übertriebenen Skeptizismus. Eine Geld-zurück-Garantie gibt es in unserem Hotel jedenfalls nicht – wie es auch keine Zurück-Garantie auf irgendetwas gibt.

Global Events: Das klingt aber, sagen wir mal, nicht sehr kundenfreundlich. Gibt es denn überhaupt Gäste, die sich auf das doch ziemlich risikoreich klingende Abenteuer eines Aufenthalts in Ihrem Haus einlassen – und wenn ja, was für Menschen sind das?

Jack Wolf: Es klingt vielleicht unglaubwürdig: Aber die Leute sind gerade zu verrückt danach, ins «Doors» zu kommen. Und zwar jede mögliche Art von Menschen. Wir sind auf Jahrzehnte hinaus ausgebucht. Wir brauchen uns deshalb weder um Zielgruppen noch um Marketing zu kümmern. Es gibt eine Biographie über den erwähnten Jim Morrison mit dem Titel: «Keiner kommt hier lebend raus.» Jeder Mensch, den es auf diese Erde geschleudert hat, weiss es: Keiner kommt hier lebend raus. Und das könnte ebenfalls über dem Eingangstor unseres Hotels stehen: Keiner kommt hier lebend raus. Unsere Gäste wissen das, und deshalb wollen sie wissen, was hier wirklich geschieht. Vielleicht läuft unser Hotel aber auch deshalb so gut, weil den Leuten letztlich gar nichts anderes übrig bleibt, als uns eines Tages zu besuchen.

Global Events: Und erfahren Ihre Kunden während des Aufenthaltes in Ihrem Haus, was wirklich geschieht?

Jack Wolf: Das ist gut möglich. Die Reise ist ungewiss, nur das Ziel ist sicher, und wenn man so genau wissen würde, was unterwegs passiert, wäre das Ganze ja keine Überraschung mehr, oder? Nein, im Ernst – die Wirklichkeit ist doch definiert durch die Komplexität des Bewusstseins dessen, der mit ihr konfrontiert wird. Es gibt also nicht «die Wirklichkeit», sondern nur «meine eigene Wirklichkeit». Ich kann nun mal meinen Kopf nicht verlassen und beispielsweise in den Ihren schlüpfen, verehrter Interviewer. Deshalb hängt es von jedem eigenen Kunden selber ab, wie er den Aufenthalt in unserem Hotel erlebt und wie weit ihn seine Bewusstseinsreise dabei führt.
Aber verlassen wir diese eher theoretische Ebene nun wieder. Ein Aufenthalt im «Doors» ist durchaus auch mit Spass und Genuss und Unterhaltung vom Feinsten verbunden, und die Vergnügungen des Leibes kommen ebenso sehr zum Zug wie diejenigen des Geistes und der Seele. Auch dabei ist wiederum die individuelle Konstitution des Einzelnen entscheidend. Ein gänzlich humorloser Mensch wird seine Zeit in unserem Hotel natürlich ganz anders erleben als ein Spassvogel, und ein Asket wird ihn anders erleben als ein Gourmet oder auch ein Gourmand, wobei es durchaus sein kann, dass der Asket dabei seine geniesserische und der Geniesser seine asketische Seite entdeckt. Wie gesagt, im «Doors» ist alles möglich.

Und wie teuer kommt dieser ganze Spass den Kunden Ihres Hotels zu stehen?

Jack Wolf: Sagen wir es einmal so: Wir haben einkommensabhängige, gestaffelte Preise. Bei uns sind Arme und Reiche willkommen, und wir kennen keine Unterschiede der Haufarbe, der Kultur, des Alters, des Geschlechts oder der geschlechtlichen Präverenz. Sie sehen: unser Unternehmen basiert auf der Grundlage der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und des globalisierten Kapitalismus: Wir machen mit allen ein Geschäft, und jeder darf in seiner eigenen Währung bezahlen, und wer das, was er schuldig ist, nicht bezahlen kann, der muss seine Schuld eben abarbeiten – Gelegenheiten dazu gibt es genug im Hotel «The Doors». Aber eigentlich ist das auch gar nicht so wichtig, denn letztlich bezahlt jeder ohne Ausnahme den Preis für seinen Aufenthalt im «Hotel der Hotels» mit seinem Leben. Wir bezeichnen uns also in unseren Werbebroschüren nicht ganz zu Unrecht als «das ultimative Hotel» oder das «Hotel an sich» (auch wenn das, wie ich sehr wohl weiss, ein Widerspruch in sich selbst ist). Darf ich Sie jetzt zu einem Rundgang durch unsere Räumlichkeiten begleiten?

Global Event: Vielen Dank, Herr Wolf. Es ist uns eine grosse Ehre. In unserer nächsten Ausgabe können Sie die erste einer Serie von aussergewöhnlichen, reich bebilderten Reportagen aus dem «Doors»-Hotel lesen. Die Serie trägt den Übertitel «Menschen im Hotel».

Zitat des Tages



Der Mont Ventoux, "dessen Gipfel von einer Steinwüste bedeckt wird, die von einem so erstaunlichen Weiss ist, dass es auch im Sommer so aussieht, als ob dort oben Schnee liegen würde".

«Wenn ein Irrer etwas vorhat, verheimlicht er seinen Plan mit der grössten Geschicklichkeit, die man sich vorstellen kann, und die wunderbare Verstellungskunst, mit der er dabei den geistig Gesunden beinahe perfekt zu imitieren imstande ist, bildet denn auch eines der sonderbarsten Probleme, das es in der psychologischen Wissenschaft überhaupt gibt. Wenn ein Wahnsinniger ganz vernünftig scheint, wäre es eigentlich höchste Zeit, ihn in die Zwangsjacke zu stecken!»

E.Y. Meyer, «Das System des Doktor Maillard»

Montag, 18. Februar 2008

Mit Jürg Randegger im portugiesischen Frühling



LisboaTram, zu kurz geraten, aber ausser Rand und Band

Mit dem Flugzeug hüpft man nur so von einer Welt in die andere. In der Nacht hat Felix schlecht geschlafen – noch in seinem Bett in der WG in Bern notabene, obwohl ihm das nun bereits eine Ewigkeit her zu sein scheint. Birgit bricht zwischen drei und fünf in der Früh ziemlich hörbar ebenfalls auf – auch in die Ferien, nach Spanien. Alles fährt weg, dem Frühling entgegen.
Hier ist es in der Tat bereits Frühling. Die Bäume zeigen die ersten grünen Blättchen. Es ist zwar noch nicht heiss, aber doch so warm, dass man jederzeit im Freien sitzen kann.
Lisboa, die schöne Lisa, die weisse Stadt auf den Hügeln, wird Felix wahrscheinlich gefallen, das zeichnet sich bereits ab. Er hat in einer dritt- oder viertklassigen Pension mit schiefem Boden das schönste und grösste Zimmer bekommen, für etwa zehn oder zwölf Franken pro Nacht.
Natürlich kann Felix kein Portugiesisch, aber er versteht vom Spanischen und vom Italienischen her doch das eine oder andere Wort. Wenn die Leute reden, ist das ein weicher, wohlklingender Singsang in seinen Ohren.

Felix hat gegessen und sitzt beim Kaffee mit Brandy. Er wird bedient wie ein Fürst (allerdings ist er, neben zwei alten Weiblein, auch der einzige Gast; rührend und etwas traurig warten all die weiss gedeckten Tische vergeblich auf hungrige und durstige zahlungskräftige Menschen). Das Essen war übrigens gut, auch der Wein schmeckte; nichts Ausserordentliches oder Exquisites, aber gut: mit rührender Sorgfalt, fast gastfreundlich, dargeboten. Obwohl die Laute dieser Sprache hier so weich sind, denkt Felix, rasen die Buschauffeure wie Bankräuber auf der Flucht durch die Strassen. Reizend sind die Trams: zu kurz geraten, aber ausser Rand und Band. Auf der Strasse fallen Felix Leute auf: unter anderem eine alte Frau, die vielleicht noch gar nicht so alt ist und einen anklagenden, weithin schallenden Monolog hält, den Felix natürlich nicht versteht.

Felix versucht, sich vorzustellen, wie diese Stadt vor vielleicht zweihundert Jahren fast untergehen musste, weil die Erde bebte, was den damals jungen Goethe in seine erste existentielle Krise stürzte. Goethe hätte, um hierher zu gelangen, monatelang reisen, in wanzenverseuchten Betten heruntergekommener Herbergen liegen und sich von Wegelagerern ausrauben lassen müssen. Und Felix fliegt in zweieinhalb Stunden hierher, über die Wolken, wie im Traum – verdammt, er kann es einfach nicht glauben!
Während Felix im Restaurant sitzt und schreibt, ohne sich im geringsten gestört oder missachtet zu fühlen, reden zwei Männer an der Bar in der weichen singenden Sprache und in der Küche singen die Frauen leise, schön.

Es ist der Abend des Auffahrtstages. Felix sitzt wieder in einer Beiz, wieder vor Wein, aber in einer anderen Beiz und vor anderem Wein. Am Fernsehen bringen sie die Leidensgeschichte Jesu, in der weichen portugiesischen Sprache. Felix bleibt davon nicht unberührt.
Am Nachmittag trinkt er nach einer Begehung der Stadt von Hügel zu Hügel mit zwei Portugiesen Wein. Sie sind der Meinung, Englisch mit ihm zu sprechen. Dass Felix sie trotzdem nicht versteht, ist eigentlich egal. Schliesslich haben sie etwas zu trinken und somit auch etwas zu lachen. Dann sieht Felix einen jungen Mann von hinten, mit schönen Beinen in kurzen Hosen, der eine irgendwie wilde Ausstrahlung hat. Felix verfolgt ihn und seinen Freund auf einen der Hügel, und plötzlich dreht sich der Wilde mit den schönen Beinen um. Seine Augen blitzen irgendwie drohend aus einem Gesicht, das von Narben und verheilten Brandwunden entstellt ist.
Jetzt ist Felix betrunken, an diesem heiligen Abend, nicht schwer, aber doch, ein Zustand, der sich über Stunden hinweg aufgebaut hat. Er hat getrunken, wie die Portugiesen und mit den Portugiesen, die seine Brüder sind, obwohl sie nicht die gleiche Sprache sprechen und das Englisch der Portugiesen beim besten Willen kein Englisch ist und sie Felix für einen Engländer oder für einen Schweden halten. Von der Schweiz, einem Einwanderungsland für Portugiesen, wollen diese Portugiesen seltsamerweise noch nie etwas gehört haben.



Grenzkaff zu Spanien inmitten von Maulwurfshügeln (oder hat Gott hier ein paar Häufchen gemacht?)

Penamacor ist ein Grenzkaff, und die haben es ja bekanntlich in sich. Am Sonntag trifft Felix Arthur, seinen archäologischen Grabungskollegen, um ein Uhr auf dem Praçade Luis Camões, dem Dichterplatz. Sie haben sich da verabredet. Am Montag fahren sie mit Fähre und Bahn nach Setubal, wo zwei Deutsche mit Kind seit bald zwei Jahren in einer kleinen Werft oder eigentlich einfach am Strand an einem 26 Meter langen alten Kahn aus massivem Holz herumbasteln, mit welchem sie dereinst nach Brasilien segeln wollen. Felix beurteilt dieses Vorhaben angesichts des Zustandes, in dem sich das Schiff befindet, eher skeptisch, enthält sich aber diesbezüglich jeden Kommentars. Die kleine Familie ist ganz nett und Felix ist von dem dreijährigen Knaben, der geschickt die Leiter rauf- und runterklettert, die in den Bauch der Schiffes führt, schwer beeindruckt, obwohl er diesem Gekrabbel nicht ganz entspannt zusehen kann. Arthur würde gern länger bleiben (er hat ein Auge auf die Frau in der Familie geworfen, dieser Möchtegerncasanova), aber in der Nähe des Schiffs stinkt ganz grässlich eine Fabrik – das kann nicht gut sein für das Kind –, die Fungizide oder Herbizide oder sonst was Giftiges herstellt, auf jeden Fall schlägt Felix diese Dreckluft auf die Lungen und er kriegt Lufthunger. Nein, hier kann Felix unmöglich übernachten. Also fahren sie wieder zurück nach Lisboa.
Am Dienstag Zugfahrt nach Castello-Branco, am Mittwoch Busfahrt nach Penamacor, portugiesische Estremadura. Nur wenige Kilometer von hier, aber auf der anderen, der spanischen Seite der Grenze, wohnt ein alter Kumpel von Felix aus Bauarbeiterzeiten, Juan de la Cruz, mit seiner Familie. Den wollte Felix eigentlich besuchen – deshalb überhaupt die Reise nach Penamacor –, aber sie sehen dann doch von diesem Ausflug ab, weil Arthur eine grössere Menge Gras und Hasch mit sich führt, die er nicht über die Grenze hin- und hertragen mag.
Sie fahren stattdessen mit dem Taxi von Penamacor nach Mont Santo, einem etwa zwanzig Kilometer entfernten kleinen Dorf auf einem ebenso benannten Berg. Der Berg ist von riesigen runden Felsen geradezu übersät, die sich auf teilweise groteske Weise übereinander türmen. Die Häuser des Dorfes sind um diese Steine herum oder auf diese Steine gebaut. Oben auf dem Berg steht eine riesige Burgruine, die sehr alt sein muss. Es gibt auch Kapellen, Gräber etc. auf diesem Berg. Ein rätselhafter Ort mit einem fantastischen Ausblick auf das an sich topfebene Land, aus dem im Sonnenuntergang wie überdimensionierte Maulwurfshügel kleine Berge ragen.



Das «portugiesischste Dorf Portugals»

Recherchen über das Dorf fördern die folgenden Informationen zutage: Der Legende nach widerstand die Bevölkerung dieses Bollwerks im zweiten Jahrhundert vor Christus sieben Jahre lang der römischen Belagerung, eine Tat, die das Dorf alljährlich am 3. Mai in der Festa das Cruzes (Fest der Kreuze) feiert. Im zwölften Jahrhundert schenkte Dom Alfonso Henriques den von den Mauren eroberten Ort dem Templerorden, dessen Portugiesischer Meister Gualdim Pais die Burg wieder aufbauen liess. In diesem kriegerischen Bollwerk wurden einst in ausgehöhlten Felsen die tapferen Ritter aus der Zeit der Christlichen Eroberungen beerdigt. Das Dorf entwickelte sich auf dem Abhang des Hügels unter Ausnutzung der Granitfelsen für die Wände der Häuser. Verschiedentlich dient gar ein einziger Block als Dach. Mit Familienwappen gezierte Herrenhäuser, manuelinische Tore, das Haus, in dem der Schriftsteller und Arzt Fernando Namora wohnte und praktizierte, der sich hier zu seinem Roman «Retalhos da Vida de um Médico» inspirieren liess, machen einen Gang durch die steilen Gassen noch interessanter. Besondere Beachtung verdient die Torre de Lucano (14. Jahrhundert), gekrönt von einem silbernen Hahn, eine Trophäe, die Monsanto bei einem Wettbewerb im Jahre 1938 erhielt, bei dem es zum «portugiesischsten Dorf Portugals» gekürt wurde. Der spätgotische, mit Stilelementen der Frührenaissance und der orientalischen Welt ergänzte manuelinische Stil geht übrigens auf König Manuel I. den Glücklichen zurück (also gewissermassen einen Namensvetter von Felix), der im 15./16. Jahrhundert lebte.

Der Tag nach dem Tag in Monsanto ist ein Wandertag in der Pampa. Sie sind an diesem Tag etwa acht oder neun Stunden lang zu Fuss unterwegs, allerdings nicht ganz freiwillig. Als Proviant haben sie etwas Wasser dabei und ein paar Joints. Also ist es auch ein Fastentag, wenn auch nicht unbedingt ein Tag der Abstinenz. Sie wollten ja eigentlich nur ein bisschen spazieren, sich in dieser Maulwurflandschaft, in der sie sich wie die Liliputaner vorkommen, etwas ergehen – vielleicht sind sie aber auch normal gross und dafür die Maulwurfhügel gigantisch, von denen die einen sich üppig bewachsen präsentieren, während die anderen fast kahl sind –, aber sie verirren sich bald, weil es in der portugiesischen Pampa natürlich keine angeschriebenen gelben Wanderwege gibt wie in der Schweiz. Und fragen können sie auch niemanden, da die Gegend verdammt dünn besiedelt ist – sie begegnen insgesamt gerade mal drei Nasen, nämlich solchen von Hirten oder Bauern, die ihren einsamen Geschäften nachgehen. Unsere beiden Freunde gehen also fast verloren in dieser Pampa, wandern mal hügelaufwärts, mal hügelabwärts und so fort, das ist zwar schön und gut, aber schliesslich bekommen sie dann doch irgendwann einmal Hunger und Durst, denn das Wasser ist natürlich längst alle und es will sich nirgendwo auch nur ansatzweise ein angeschriebenes Haus zeigen (das ist auch nicht so wie in der Schweiz, wo man alle paar Meter, zumal in katholischen Gegenden, auf ein Wirtshaus stösst). Sie bekommen – oder sagen wir mal: Felix bekommt, denn Toni ist ein unerschrockener, furchtloser, verwegener Heteromann – etwas den Bammel. Auch sind sie ziemlich müde, als unverhofft vor ihrem Blick der Hügel mit dem gelobten Städtchen Penamacor darauf auftaucht und von unseren Wandervögeln mit nicht geringer Euphorie begrüsst wird. Der erste Schluck Bier, den sie in der ersten Kneipe von Penamacor zu sich nehmen, ist einfach köstlich, eine wahre Offenbarung, und das übliche und üblich langweilige Menu, das sie beide gleich zweimal bestellen, zur nicht geringen Verwunderung des Personals, ein kulinarischer Traum. Hunger, sagt man ja, sei der beste Koch, und in der Tat, Felix hat kaum je etwas Besseres gegessen als an diesem Abend in Penamacor.

Vor dem Rückflug auf dem Flughafen in Lissabon Jürg Randegger, ein Mitglied des legendären Cabarets Rotstift, umringt von einer Gruppe von Fans, erzählt lautstark Witze; da weiss Felix, dass er wieder in der Schweiz ist.

Mittwoch, 13. Februar 2008

Interview 1



Lieber Herr Felix, wir wollen uns heute mit Ihnen über Männer und Frauen unterhalten.

Nur zu!

Was ist für Sie eine typische Frau, ein typischer Mann?

Ich glaube nicht an diese Typisierungen, die machen höchstens einen statistischen Sinn. Es gibt wohl Eigenschaften und Merkmale, die bei Frauen und Männern gehäuft auftreten, aber das sagt noch wenig bis nichts über den individuellen Einzelfall aus. Natürlich könnte man sagen: Männer sind eher wie Hunde und Frauen eher wie Katzen. Ganz falsch läge man damit nicht. Ein aktuelles Beispiel: Die beiden Herren Couchepin (Bundespräsident der Schweiz) und Mörgeli (Nationalrat der Schweiz). Die kann man sich doch durchaus als Hunde vorstellen: der eine ein Herr kläffender Wadenbeisser, der andere ein Monsieur Kotzbrocken auf vier Beinen mit grinsenden Lefzen. Unter uns gesagt: Hunde sind Wesen, die ein bisschen einfach gestrickt sind, was sie aber auch irgendwie liebenswert machen kann (oder, wie in den vorgenannten Beispielen, eben gerade nicht; aber wenn sie einen so treuherzig anschauen und gestreichelt werden wollen? Da kann man schon schwach werden). Katzen sind viel raffinierter, sie können einen ganz schön bezirzen und um den Finger wickeln, und wenn sie bösartig sind, dann nicht auf eine so plumpe Weise wie meistens die Männer. Aber wie gesagt: das sind grobe Verallgemeinerungen. Im wirklichen Leben gibt es natürlich auch sehr katzenhafte Männer und hundeartige Frauen, um es mal so zu sagen.

Und, lieber Herr Felix, was sind Sie?

Da haben Sie es: Sie stellen mich mit Ihrer Frage vor ein Dilemma. Ich bin weder Hund noch Katze, oder vielmehr: sowohl als auch. Ich habe wohl mehr weibliche Züge als viele andere (und vor allem: viele heterosexuelle) Männer, aber ich fühle mich dennoch nicht als Frau. Gewisse Verhaltensweisen von Frauen sind mir sogar vollends fremd (zum Beispiel ihr Schuh- oder Kleidertick). Mit den meisten («klassischen») Männern verbindet mich: Komplizierte Beziehungsdiskussionen gehen mir auf den Geist. Für mich sind Liebe und Sex (meistens) zwei verschiedene Paar Schuhe. Andererseits interessiere ich mich für sehr viele «Frauenthemen» (Literatur, Kunst, Psychologie), habe nahe am Wasser gebaut, bin auch sonst sehr emotional und sehr sehr neugierig, so dass mich auch, aber nicht nur, Klatsch in den Bann ziehen kann. Viele Männerthemen (Autos, Sport, Frauen, Autos, Technik!!!, Computer) interessieren mich dagegen überhaupt nicht, und viele Herangehensweisen von Männern an die Herausforderungen des Lebens (Imponiergehabe, Konkurrenzgerangel, Kumpanei, Gewalttätigkeit) leuchten mir nicht unmittelbar ein. So weiss ich zum Beispiel nicht, ob ich eher einen Frauen- oder einen Männerhumor habe. Was ist Frauen-, was ist Männerhumor? Gehört ein Sinn für Ironie, für das Groteske und für die Alltagskomik tatsächlich eher zum Männerhumor, wie ich meine? Vielleicht sitze ich da einfach einem Vorurteil auf.

Fragen wir anders: Sind Sie eher vom Mars oder eher von der Venus?

Wenn Sie das so meinen, dass der Mann vom Mars dominant, aktiv, rücksichtslos, kriegerisch sei und die Frau von der Venus anschmiegsam, geschmeidig, passiv und lieb, dann kann ich wiederum keine eindeutige Antwort geben. Ich glaube nicht, dass viele Menschen mich für sehr dominant halten würden, aber ich kenne die herrschsüchtigen Züge meines Charakters durchaus. Ich will auch nicht bestreiten, dass ich anschmiegsam, passiv und lieb sein kann (und es manchmal auch sein will), aber andererseits liebe ich meine Freiheit und werde ausgesprochen ungern dominiert, vor allem dann, wenn ich es nicht selbst so will. Nein, dieses Mars-Venus-Geschwätz ist ein Chabis. Und überhaupt habe ich jetzt keine Zeit mehr, mich mit Ihnen zu unterhalten. Wenn schon, dann bin ich weder vom Mars noch von der Venus, sondern von einem ganz anderen Planeten aus einem ganz anderen Sonnensystem.

Montag, 4. Februar 2008

Wiener Blues für den König der Fische




Felix sitzt wieder einmal im Café «Hummel» in Wien und hat sich einen Tee und eine Soda bestellt. Der Kellner hat ihn zwar komisch angeschaut, aber Felix findet, dass es um halb elf in der Früh noch entschieden zu früh für das erste Bier ist. Ausserdem hat er gestern Nacht im Zug über die Schnur gehauen. Er hat eine Flasche Wein geleert, es war ein guter Château-Neuf-du-Pape Jahrgang 1983. Er bestellte sich dann auch noch Bier und schluckte eine – zwar schwache – Schlaftablette. Daraufhin schlief er tief und fest, wahrscheinlich hat er entsetzlich geschnarcht. Als er erwacht, gleitet vor dem Fenster eine vom ersten blassen Februarsonnenschein erhellte schneebedeckte Landschaft vorbei. Er erinnert sich undeutlich an einen Traum von Bären, die ihn über einen offenen weiten Platz gejagt haben. Sein Hals schmerzt, das aufgequollene, entzündete Halszäpfchen klebt am ausgetrockneten Gaumen. Er bestellt beim Couchetier mit krächzender Stimme einen Kaffee und eine grosse Flasche Mineralwasser. Immerhin, Kopfschmerzen hat er keine. Über Nacht hat sich auch nicht der Weltuntergang ereignet, oder vielleicht doch, jedenfalls ist ihm dies wohltuend egal.
Er mietet sich im Hotel Concordia, einem Jugendstilhaus, zum reduzierten Winterpreis ein kleines Zimmerchen im fünften Stock. Nach einer unverhältnismässig langen Fahrt im altersschwachen Lift liegt er auf dem Bett, verkatert und völlig erschöpft, und ringt nach Atem. In seinem Kopf formen sich Erinnerungen an Gerüche, an Bilder und Gefühle zu einem geilen Brei. Mit einem Gefühl von unbefriedigbarem Durst auf der Zunge fällt er in einen unruhigen Schlummer.
Er sitzt nackt auf dem Bett. Seine Augen brennen hinter dem Dunkel der Hände. Plötzlich fühlt er, wie sanfte Finger über sein Haar streichen. Er lässt es einfach geschehen, ohne sich zu fragen. Lässt es geschehen, dass sich fremde Lippen auf seiner Haut niederlassen. Dass sich ein geschmeidiggliedriger, samthäutiger Körper an den seinen schmiegt. Seine Sinne werden von einem tiefen weichen Schwarz umschmeichelt, in das er sich bedingungslos hineinfallen lässt.
Vor seinen Augen dämmert es grünlich. Er befindet sich einige tausend Meter unter Meer, auf dem Grund, inmitten eines Waldes von schwänzelnden züngelnden Pflanzen. Umschwänzelt und umzüngelt von fischleibigen Jünglingen. Er selber ist ein fischleibiger züngelnder und schwänzelnder Jüngling.
«Majestät haben geträumt!», blubbert ihm eine Stimme zu. Es ist die Stimme des ersten königlichen Unterwasserhofnarren. Er erwacht und befindet sich in einem Hotelzimmer im achten Wiener Bezirk. Die Nacht des Ozeans, in die seine Sinne so wohltätig gebettet waren, hat sich gelichtet. Er nimmt neben sich die Umrisse eines schwarzen Körpers wahr, während er sich auf den linken Ellenbogen aufstützt.
«Wer bist du?», fragt er. Die schwarze Gestalt knurrt liebevoll und kitzelt ihn mit den Krallen ihrer Pfoten. Da schläft Felix wieder ein.
Am andern Morgen wird er durch ein heftiges Pochen geweckt. «Wir dulden keine Gäste bei den Gästen!» tönt die Stimme des Portiers in kräftigem Wienerdialekt durch die Tür. «Ich bin allein, bin doch so allein!», gibt Felix fast schreiend zur Antwort, von einem Moment auf den andern hellwach, und tastet mit den Händen panisch im Bett herum. «Ich bin allein, allein, allein!» Da bumsen aber schon starke Polizistenschultern gegen die Tür von Zimmer 502 im fünften Stock des Hotels Concordia im achten Wiener Bezirk. Felix sitzt aufrecht im Bett, mit nacktem Oberkörper und gesträubtem Haar. Vier Bullen mit Maschinengewehren im Anschlag – spezielle Eingreiftruppe oder so – stehen um ihn herum. «Wo hast du ihn versteckt?», schreit der Polizist, der offensichtlich der Anführer der Bande ist.
«Er sitzt im Kreuzpunkt, er hat sich verzogen», antwortet Felix darauf nicht ohne Würde. «Es gibt für euch nichts zu tun. Und überhaupt, ich hatte gedacht, Austria sei ein monarchistisch gesinntes Land. Ich bitte also um ein wenig Achtung für den König der Fische!» Worauf die Polizisten sich höflich und kratzfüssig empfehlen.

Quatsch, so spielt sich diese Geschichte natürlich nicht ab. Felix hat bloss geträumt. Allerdings ist die Luft im Abteil wirklich unglaublich trocken, und als der Couchette-Mann Felix fürs Frühstück weckt, ist sein Mund tatsächlich verklebt, das Halszäpfchen ist aufgequollen und tut beim Schlucken weh. Während des Frühstücks unterhält Felix sich mit einem Ungarn, der unzählige Tabletten – homöopathische, wie er betont, er habe einen kleinen Herzinfarkt gehabt – schluckt, über das Wetter, das immer ein dankbares Thema ist. Und Felix wohnt in der Tat im Hotel Concordia in der Josefstadt, da das Hotel Wolf geschlossen ist momentan, sonst würde Felix natürlich das Wolf wählen, wo er vor sieben Jahren logiert hat, Felix ist ein Gewohnheitstier und ausserdem ein wenig nostalgisch veranlagt. Man gibt ihm ein ruhiges Zimmer im fünften Stock des Jugendstilhauses, in dem das Hotel untergebracht ist, und das Felix ganz gut gefällt.

Felix flaniert in die Innenstadt, in den 1. Bezirk, isst im «Nordsee» etwas Fischiges und trinkt dazu ein grosses Bier; vorher, unterwegs, hat er sich sehr komisch gefühlt, irgendwie abgehoben, ähnlich, wie letztes Jahr in Cerbère. Tripartig, so, als würde er nächstens den Verstand oder wenigstens den gesunden Realitätssinn verlieren. Dabei war’s wohl einfach wieder Kater und Müdigkeit. Nach Fisch und Bier geht es ihm ein bisschen besser. Er beschliesst, da er doch nun Archäologe ist, dem Naturhistorischen Museum einen Besuch abzustatten. In den grossen Sälen ist er manchmal einer Ohnmacht nahe, aber er hält tapfer durch, nur die zoologische Abteilung durchquert er fast im Laufschritt. Die kalte Luft draussen tut gut – es hat heuer viel Schnee in Wien. Felix wird fast wieder frisch. Er geht zu Fuss alte Wege – in die Kreuzgasse, wo er, wie wir uns erinnern, einmal in einer WG gewohnt hat und von einem Verehrer gebadet wurde, lang ist es her. Er fährt dann mit der Strassenbahn zurück, Kopfhörer des Walkman übergestülpt, und trinkt im «Hummel» Bier, schlürft eine Leberknödelsuppe.



Dann geht er aufs Hotelzimmer und schläft eine Runde – es ist wirklich ruhig hier, man schläft herrlich. Etwa zwei Stunden später erwacht er und fühlt sich nach wie vor komisch, irgendwie zerschlagen. Er hat noch keinen Hunger. Er liegt auf dem Bett und holt sich einen runter (nein, das hat er vor dem Einschlafen gemacht), er liegt also auf dem Bett und liest in einem Krimi (Sjöhwall/Wahlöo: Der Mann, der sich in Luft auflöste) und trinkt dann eine Dose Zirrer-Bier, die er sich eigentlich für die Nacht in einem Laden gekauft hat.



Der Roman, der in den Sechzigerjahren spielt, handelt von einem schwedischen Journalisten namens Alf Matsson, der spurlos in Ungarn verschwunden ist. Er war im Auftrag einer Schwedischen Zeitung nach Budapest geflogen, um dort ein Interview mit einem Boxer zu führen und über politische Ereignisse zu berichten. Da sich Alf Matsson seit einer Woche nicht zu Wort meldet und man ihn auch nicht im Hotel erreichen kann, erstattet man dem Aussenministerium Bericht über den Fall. Die Angelegenheit muss jedoch inoffiziell behandelt werden, da sonst politische Problemen zu befürchten oder gar zu erwarten wären. Die Stockholmer Polizei wird eingeschaltet und schickt Martin Beck, welcher wegen dieses Falles seinen Urlaub opfert, nach Budapest. Dort erfährt der Kommisar im Hotel, dass Alfred Matsson noch am Tag seiner Ankunft das Hotel verlassen hat, ohne Pass und Gepäck, und seitdem nicht mehr aufgetaucht ist. Martin Beck begegnet einem schwedischen Kollegen, der ihm bei dem Fall hilft. Da es weder Hinweise noch Spuren von dem Journalisten gibt, weiss Martin Beck nicht, was er tun soll. Doch eines Nachts wird er am Donaukai von Unbekannten zusammengeschlagen und plötzlich sieht die Sache anders aus.

Um etwa halb acht schlägt Felix das Buch zu und verlässt das Hotel. Durch die Strozzi- und Neubaugasse will er die Gegend an der Linken Wienzeile, wo sich die Schwulenlokale befinden, erreichen. Unterwegs stösst er auf ein chinesisches Lokal, das ihn sozusagen zum Eintreten auffordert. Es befinden sich nur wenige Gäste in dieser Gaststätte, dafür hängen chinesische Schlangen in der Luft herum. Felix bestellt zuerst eine Frühlingsrolle, dazu ein Viertel Rotwein, nicht ganz passend, dann Nasi Goreng, auch nicht gerade chinesisch, eine Riesenplatte voll und saugut, Felix überisst sich, bestellt, nachdem das Viertel Rotwein alle ist, noch warmen Reiswein zum Verdauen, merkt aber bald, dass Reiswein beim Verdauen wenig bis gar nichts hilft. Eher im Gegenteil. Dann geht er runter zur Linken Wienzeile. Zuerst, im Alfi, setzt er sich an die Bar. Junge und hübsche Knaben gibt es da und alte, dickbäuchige Freier, es ist, als sei er nie weggewesen. Felix schaut bloss zu, wie die Geschäfte abgewickelt werden, hat selber nichts im Sinn, fühlt sich zu alt, um als Stricher durchzugehen, und zu jung, um den Freier abzugeben (was freilich ein Irrtum ist; man ist nie zu jung, um Freier zu sein, bloss Geld muss man haben). Felix trinkt zuerst Kaffee und Clavados, dann ein Krügl Bier. Das Krügl (oder heisst es etwa der Krügl?) bedeutet in Wien ein grosses, das Seidl (der Seidl?) ein kleines Bier. So was weiss man natürlich, wenn man in Wien als Habitué durchgehen will (es heisst das Krügl, definitiv). Einer der Stricher fasst Felix so ziemlich ins Auge, aber dieser sagt Felix nicht zu – zu männlich, zu kräftig, mit Schnauz. Hingegen ist ihm der Barkeeper sehr sympathisch. Sonst hat Felix mit niemandem auch nur Augenkontakt.
Nächste Station ist das «Manhattan». Dieses Lokal kennt Felix nicht, weil es neunundsiebzig noch nicht existierte. Es hat genau einen Jungen da, der Felix gefällt, aber der ist schon vergeben. Felix trinkt ein Achtel Roten, er ist müde und es wird ihm bald langweilig. Er versucht es dann noch in einem letzten Lokal, das «Freddys Bar» heisst und sich auch irgendwo da in der Gegend befindet. Freddy – Felix nimmt an, dass der Glatzkopf hinter der Theke Freddy sein muss – hat nur wenige Gäste: ein paar ältere Herren. Felix kann ihren Klatsch ziemlich gut mitverfolgen, es ist, wenn er die Augen schliesst, wie ein Hörspiel in astreinem Wienerdialekt, das heisst, es schmäht nur so daher. Dazu furchtbarste Dudel-Schunkel-Musik. Felix trinkt ein Achtel Rotwein. An einem Würstlstand nimmt er dann noch ein so genanntes Frankfurter Würstl, wie man es nur in Wien bekommt, zu sich, als Bettmümpfeli, wenns denn schon kein Würstl von einem feschen Burschn sein soll. Schon vor zwölf ist er wieder im Bett und überlegt sich, warum es zum Beispiel in Wien keine Wiener Würstchen zu kaufen gibt oder in Berlin keine Berliner und in Paris auch keine Pariser. Und der Hamburger, den man in Hamburg immerhin bekommt, ist auch keine ausgesprochene Hamburger Spezialität.

Am nächsten Tag fährt Felix mit der Stadt- und der Strassenbahn raus nach Grinzing und dann durch die verschneiten Rebkulturen zum Kahlenberg hoch. Das ist ziemlich schön. Im Restaurant auf dem Kahlenberg trinkt er ein Viertel Weisswein. Dann steigt er runter nach Nussdorf. Daselbst in einer Kneipe ein weiteres Viertel. Dann mit der U-Bahn vom Bahnhof Heiligenstadt aus (graue leere Häuserfronten, trostlos) zur U-Bahn-Station Schwedenplatz und von da aus quer durch den 1. Bezirk in «seine» Josefstätter-Strasse und ins Hummel, wo Felix gebackene Champignons, eine Spezialität des Hauses, isst und ein weiteres Viertel trinkt. Dann zwei Stunden schlafen. Duschen, rasieren, wichsen, oder nein: wichsen, duschen, rasieren. Ein Bier im «Strozzihof», eine, zwei Codein-/Ephedrin-Tabletten. Felix fühlt sich jetzt in Form. Dann runter an die Wienzeile, rein in die «Gärtnerinsel», ein verrücktes Lokal, hohe Räume, bisserl düster, alter Bullerofen, surrealistische Bilder an der Wand, paar übriggebliebene langhaarige Wiener Freaks. Klaus Naomi singt, opernhaft. Sehr verladene Vibrationen. Felix bestellt Rindfleischsalat pikant und Bier. (Noch nie was gehört von Klaus Naomi? Macht nichts, der ist auch in den Achzigerjahren nicht mehr als ein Geheimtipp, ein deutscher Untergrunder in New York, und wir meinen, gehört zu haben, dass der schon vor einigen Jahren das Zeitliche gesegnet hat, Aids, Überdosis, so was. Schwul war er natürlich auch, ein schwuler Untergrundsänger. Couscous Poulette schreibt in seinem/ihrem Blog über Klaus Naomi: «Ce gay-lurron, aux faux airs du Petit Prince, posait sa tessiture de ténor mix castrat sur des airs de cabarets. Mmmm, de Simple man à Waisting my time, difficile de définir le style Naomi. Androïde du côté vestimentaire, maquillage de geisha, voix d’opéra, être bizarre … tout cela à la fois.» Das kann man gelten lassen. Und fragen Sie uns bloss nicht, wer zum Teufel Couscous Poulette ist.)



Manhattan. Ein alter Rechtsanwalt, scharf auf junge Boys, aus Jersey, Kanalinsel, kippt einen Scotch nach dem anderen, korrigiert das Englisch von Felix, treibt Schweizer Geographie mit ihm und will wissen, wie Felix es mag, von vorn oder von hinten, mit oder ohne Rohrstöckchen. Immerhin zahlt er Felix ein Bier. Codein/Ephedrin. Ein Amerikaner erzählt, dass im wahren Manhattan, also dem am anderen Ende des grossen Teichs, alle Saunen und viele Bars geschlossen worden seien, wegen Aids, da müssten die Schwulen aus dem Big Apple eben nach good old Europe rüberschippern, um Scenelife zu erleben. Der sadistische Engländer mit dem Lehrerkomplex meint, Aids sei von den Kommunisten in die westliche Welt eingeschleust worden. Nuts! ruft Felix, shit!
Es schneit. Felix will noch in die Disco «Why Not», im ersten Bezirk. Er ist schon ziemlich verladen. Felix hat das Gefühl, man wolle ihn in diesem Etablissement verarschen und übers Ohr hauen (will man auch, aber so besoffen ist Felix denn doch nicht, dass er zweimal fürs gleiche Bier bezahlt). In der Disco hat es anfangs wenige Leute, aber so gegen eins trudeln die Gäste ein. Disco-Scheiss-Musik und stiere Videoclips. Der Ami von vorhin schmust mit einem süssen Thaiboy. Felix denkt mit Wehmut an Tuj. Er hat bei all den knackigen jungen Männern aber nicht den Hauch einer Chance. Keiner schaut ihn auch nur mit dem Arsch an.
Felix geht zu Fuss nach Hause oder vielmehr zurück ins Hotel, nach Hause wär ja wohl ein bisschen weit, verirrt sich in den eisigen, einsamen sibirischen Strassen voller Eis und Schnee, zerreisst in einem Wutanfall den Stadtplan, den er nicht mehr deuten kann. Er findet dann, gegen halb vier und völlig durchfroren, aber wieder halbwegs nüchtern, doch noch und wie durch ein Wunder zum Hotel zurück, allerdings von einer ganz anderen Seite her, als er erwartet hätte. Er schläft mit einem Gefühl der Enttäuschung ein.
Am nächsten Abend, kurz vor sieben, sitzt Felix wieder in der «Gätnerinsel» vor einem Viertel Roten. Es ist saukalt draussen jetzt. Felix war heute in Schönbrunn, zu Fuss. Plötzlich – nein, nicht plötzlich, schon gestern tat es ihm ein bisschen weh – schmerzt sein Knie so stark, dass er kaum mehr gehen kann. Felix humpelt also zur nächsten U-Bahn-Station und fährt zurück in die Innenstadt, um zuerst im «Bräunerhof» zu sitzen…



… und dann ins Kino zu gehen. Es läuft «La cage aux folles», Teil 3. Der erste Teil war ja noch lustig, aber die Story dieses dritten Teils ist dünn und dümmlich. Irgendwie passend zu diesem Wienaufenthalt, der kein sehr gelungenes Revival darstellt.