Freitag, 4. Dezember 2009

Traurige Jäger (19)

Der Sheriff lud Sancho samt Hund dazu ein, in seinem Haus zu wohnen, das er mit seiner unverheirateten Schwester zusammen besass. Das Haus war verlottert und irgendwie altmodisch und vielleicht gerade deshalb sehr gemütlich. Die Schwester war eine schweigsame, mürrisch scheinende Frau mittleren Alters, die aber, wenn sie etwas sagte, einen klaren, nüchtern-sachlichen Geist besass. Zweifellos hatte es der Sheriff einzig und allein ihr zu verdanken, dass er ein einigermassen vernünftiges Leben zu führen vermochte, oder eben: vermocht hätte. Denn es ist einem Don Quichotte nicht vergönnt, ein einigermassen vernünftiges Leben zu führen. Das wissen wir ja.

Der Sheriff hatte ein eigenartiges Hobby oder vielmehr eine ziemlich ausgefallene Leidenschaft: Er sammelte Engel. Die standen in allen Grössen, Farben, Formen und Geschmacksnuancen im ganzen Haus herum und bildeten einen Gegenstand stetigen Zankens und Streitens zwischen den beiden Geschwistern. Aber der Sheriff, obwohl sonst von sanfter, gütiger Wesensart, liess sich auf keine Weise dazu bringen, von den Engelsfiguren, deren älteste nach seiner eigenen Aussage mehrere tausend Jahre alt war, abzulassen. Die Engel waren nämlich ein Teil der Lebensphilosophie Don Quichottes und hatten mit dem Kampf oder Kreuzzug zu tun, den er führte. Abends, nach einem einfachen, aber wohlschmeckenden Mahl, das aus Maisfladen, Hammelfleisch, einer Sauce aus Tomaten, schwarzen Oliven, viel Knoblauch, Rosmarin und Basilikum bestand, versuchte der Sheriff, seinem neuen alten Assistenten diese Lebensphilosophie auseinander zu setzen:

«Die Engel», führte Don Quichotte aus, «sind ein Symbol für die Zukunft des Menschen über den Menschen hinaus. In den Engeln vollendet sich das, was im Menschen erst angelegt ist als Möglichkeit. Der Mensch von heute ist ein Schlachtfeld, auf welchem die Engel der Zukunft mit den Gespenstern der Vergangenheit einen erbitterten, aber fairen Kampf kämpfen. Fair nenne ich ihn deshalb, weil der Ausgang dieses Kampfes immer wieder und immer noch ungewiss ist, also beide Seiten die Chance haben, ihn zu gewinnen.»

Der Sheriff machte eine bedeutungsschwangere Pause, in der das verächtliche Schnauben seiner Schwester deutlich hörbar war. Dann dozierte er weiter: «Ich stehe im Dienst der Engel. Ich ringe für den Engel in mir mit dem Schatten des Engels in meiner Brust. Ich fühle mich – verzeiht mir das Bild – zur Hebamme berufen, insofern fühle ich mich mit dem grossen griechischen Philosophen Sokrates verwandt; ich bin Hebamme, aber auch Gebärmutter und Embryo. Das ist alles so schwierig auszudrücken.» Don Quichotte seufzte.

Sie tranken Burbon oder Scotch, Sancho konnte das nicht so genau entscheiden. Jedenfalls schmeckte es scheusslich. Zumindest wenn mqn es mit einem guten spanischen Brandy verglich. Der Hund schnarchte.

«Die Engel haben ihre Antithese, ihren Kontrapunkt, ihren Schatten. Dieser Schatten ist nicht das Tier, oder das Tierische im Menschen, das wir meinen, wenn wir vom Teufel reden und im Hinblick darauf, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei. Nein. Das Tierische in uns ist wie eine wehmütige Erinnerung an eine längst vergangene, altvertraute Zeit. Mit der Entwicklung vom Menschen zum Engel, wenn ich so sagen darf, ist auch das Böse im Begriff, einen entsprechenden Schritt zu tun und seine verlockende, entsetzliche Melodie auf einer höheren – oder tieferen – Oktave zu spielen. So, wie die Engel ein Entwurf des Guten im Menschen sind, so sind die Schattenengel eine Projektion des Ungeheuerlichen in die Zukunft hinein. Dass beide Entwicklungen zusammengehören und sich bedingen, um ein Ganzes zu geben, braucht uns hier nicht zu interessieren, Sancho. Der Kämpfer ergreift Partei. Und zwar ohne Vorbehalte.»

Der Sheriff schwieg und trank. Sancho trank und schwieg. Die Schwester Don Quichottes murmelte: «Hirngespinste!» und nahm ebenfalls einen Schluck.

«Und so, wie das Engelhafte der Zukunft kraft seiner Potenz schon jetzt im Gegenwärtigen und gar im Vergangenen wirkt, Sancho, schwappt auch die Ungeheuerlichkeit des Bösen zurück ins Gegenwärtige. Das ist die Krankheit, von der ich dir sprach!»

Die Schwester sagte: «Dass es Gut und Böse gibt, ist ein Gesetz des Lebens. Sogar der tödliche Kampf ist ein Spiel. Nur Idioten machen eine Idee zur Tyrannin ihres Lebens. Eine Idee ist wirklich eine gute Geliebte für einen Mann: so treu, dass sie ihm schliesslich die Luft zum Atmen nimmt!» Die Schwester lachte trocken.

«Es gibt hier», fuhr der Sheriff fort, ohne sich in seinem Gedankengang stören zu lassen, «ganz in der Nähe und mitten in der Wüste das, was ich das Bermudadreieck der Zukunft nenne: Eine chemische Fabrik, in der hinter Stacheldraht, Elektrozaun und scharf bewacht von Männern mit Maschinenpistolen und Schäferhunden, die Alchemie unserer Zeit vorangetrieben wird. Es gibt eine Energiefabrik, in welcher der Funken aus dem Stein geschlagen wird und der Mensch sich die Gewalt der Materie untertan macht. Und es gibt eine Weltraumbasis, von welcher aus die Menschen – vorerst noch langsam wie die Mücken _ in die unendlichen Tiefen des Alls vordringen.

Hier, in diesem Bermudadreieck der Zukunft, zeigt das, was wir den Fortschritt der Wissenschaft nennen, sein Janushaupt ganz deutlich. Der so genannte Fortschritt könnte uns vielleicht helfen, mit der stets wachsenden Zahl von Menschen auf der Erde fertig zu werden, sie zu ernähren und zu erhalten – er kann uns zum Beispiel helfen, neue Heimstätten im Weltraum zu finden, er uns sogar zu so etwas wie einer gewissen Weisheit und einem begrenzten Verständnis führen – er kann aber auch bewirken, dass die Menschheit endgültig zu einer Monstrosität wird, zu einer Krankheit, zu einem Fieberwahn, den die Erde, will sie gesunden, erst einmal ausschwitzen muss.

Die Brutalität und Grausamkeit, die Menschen an Menschen verüben können und wollen und verüben in den grossen Krieger der Völker und den kleinen Kriegen des alltäglichen Zusammenlebens, diese äusseren Zeichen des Bösen sind ein vergleichsweise harmloser Widerschein der wahren zerstörerischen Kraft.»

«Das Böse», sagte die Schwester des Sheriffs darauf nur trocken, «ist keine selbstständige Kraft. Es ist ein Teil der Kraft, die sich selbst in einer bestimmten Art und Weise interpretiert. Es gibt, wie auch die Physik es sagt, nur diese eine Kraft, allerdings in sehr verschiedenen Manifestationen. Gott, mein lieber Bruder, ist blind.»

Sancho ging die Theoretisiererei der beiden allmählich auf die Nerven. Er wollte wieder einmal etwas Konkretes hören. Die Anwesenheit der Schattenengel, erfuhr er auf sein Drängen, sei im «Bermuda-Dreieck» besonders stark zu bemerken; man spüre sie wie einen kalten Hauch, der ganz und gar durch einen hindurchgehe, so, als wäre man bloss ein Knochengerüst ohne Fleisch und Haut. Ausserdem werde das Denken bei der Berührung mit den Schattenengeln wie zu einem Stück Materie: Man denke plötzlich in kleinen Lehmklümpchen, die absonderliche Figuren ganz ohne Sinn ergeben würden, und dies reize einen zu einem ganz und gar nicht lustigen Lachen, es sei, als würde man an einer besonders unanständigen Stelle besonders hinterhältig gekitzelt. Auch habe man, mitten in der Wüste unter einem unnatürlich grossen Mond stehend und mit dieser erdrückenden Unzahl von Sternen über dem Kopf und der absurden Silhouette der Weltraumbasis im Gegenlicht der Scheinwerfer vor Augen, immer das Gefühl, als ob dicht hinter einem jemand stehe. Es sei dies ein sehr körperliches Gefühl. Es mache einen gelinde gesagt nervös. Er, der Sheriff, neige überhaupt zur Nervosität in letzter Zeit. Deshalb habe er auch Sancho als seinen Assistenten engagiert, denn der, mit seiner Statur und seiner Bodenständigkeit, mache den Eindruck eines nicht so leicht zu erschütternden Menschen.

Sancho wollte diese Komplimente (oder wie auch immer die Einschätzung des Sheriffs gemeint war) schleunigst abwehren und berichtigen, aber Don Quichotte war bereits nicht mehr zu bremsen. «Noch diese Nacht», rief er mit dem Feuer der bei ihm wieder neu erwachten Begeisterung aus, «wollen wir der Gefahr vereint ins Auge sehen.» Dabei hatte er, wie Sancho fand, vom Whiskey bereits den gewissen sehnsüchtigen glasigen Blick. Auch gefiel ihm der Gedanke gar nicht, heute noch einmal raus zu müssen mit seinem Herrn in die finstere Nacht, wo es doch hier so gemütlich war gerade.

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