Mittwoch, 29. Juli 2009

Traurige Jäger (6)

Sancho war inzwischen wirklich ein wenig in seiner Gartenwirtschaft hängen geblieben. Es gab ja auch einiges zu tun, diesen gewaltigen Durst zu löschen. Die beiden jungen Burschen waren schon längst weg und die neuen Tischnachbarn ganz nett. Zwei alte Säufer, Pensionierte aus dem Nachbardorf, die es sich hoch anrechneten, einer Dame ein paar Biere zu offerieren. Man redete über Gott und die Welt, hechelte die nationale Politik und die Cervelatprominenz durch und Sancha musste von ihrer Heimat erzählen. Spanien! Sangria und Flamenco und Stierkampf und heissblütige Senoritas und Olé! Da tut sich manchem alten Säufer die Vorstellungskraft weit auf. Doch plötzlich erinnerte sich Sancho seiner Mission. «Ach Gott, ich habe ja meinen Herrn ganz vergessen! Ich muss sofort gehen. Ahora mismo.» – «Was! Einen Herrn hast du! Das ist aber schade!» meinte einer der pensionierten Säufer, der sich in wenig in die stark gebaute spanische Dame mit dem wohlklingenden Bariton verguckt hatte – man könnte sagen, er hatte sie sich schöngesoffen –, aber Sancho liess sich jetzt nicht mehr aufhalten. «Hijcho de puta!» meinte er, wenig damenhaft, nur, und machte sich mit einem leichten Seemanns- oder Seefrausgang auf und davon und aus dem Staub.

Aber es gab da eine Schwierigkeit. Sancho hatte nämlich ganz vergessen, wo er seinen Herrn zurückgelassen hatte. Das Luftross oder den Lufthund hatte er auch vergessen und schwankte zu Fuss. «Don Quichoooote!» rief er, alle Sicherheitsmassnahmen in den Wind schlagend, «Don Quichooote!» Ihm war plötzlich weinerlich zu Mut, ganz einsam fühlte er sich, so allein in dieser fremden, kalten Welt. Er wollte nur noch eins: zurück unter die Fittiche seines Herrn, der immer wusste, was zu tun und in welche Richtung das Lebensschiffchen zu steuern war. Derart vom Instinkt geleitet kam er in die Nähe des Maschinenparks der Armee, wo inzwischen der Brand am Jeep gelöscht worden war. Mit dem Mut oder der Verzweiflung der Betrunkenen machte er sich bemerkbar. «Halt, stehen bleiben!» rief darauf die Wache reglementsgemäss und befehlskonforn unserem armen Sancho zu. «Mein Herr Soldat», erwiderte dieser mit eindeutig fremdländischem Akzent, «verzeihen Sie bitte die späte Störung, und seien Sie versichert, dass ich ein ganz harmloser Mann oder in Gottes Namen auch eine ganz harmlose Frau bin, die nur eine kleine Auskunft von Ihnen erbittet. Ich suche nämlich Don Quichotte, meinen Herrn und Gebieter. Könnte es sein, dass er ganz zufälligerweise hier vorbei gekommen ist? Er ist lang und hager, sowohl sein Körper als auch sein Kopf sind eigenartig in die Länge gezogen; unter der Nase spriesst ihm ein Schnurrbart, der traurig über seine Mundwinkel fällt; sein Blick ist fest und bestimmt; er hält sich aufrecht und würdig, obgleich er kurze Hosen trägt wie ein Pfadfinder; seine Beine sind aber nicht die glatten Beine eines Knaben, sondern dürr und knorpelig und mit grauen Haaren überwachsen…» Sancho hätte, zunehmend ins Feuer geratend, wohl seine Beschriebung mit noch vielen weiteren Details ausschmücken können, aber der Soldat wusste längst Bescheid. «Und ob wir diesen feinen Herrn kennen!» meinte er barsch. «Wenn Sie seine Bekannte sind, dann kommen Sie am besten gleich mit!» Davor fürchtete sich unser Sancho verständlicherweise zwar sehr (und es kam ihm so vor, las sei er David kurz vor dem Gang in die Löwengrube), aber die Hoffnung, das der Löwe schliesslich die Gestalt seines Herrn haben würde, war grösser aös die Furcht.

Inzwischen war im Wachlokal der Korporal von seiner Meinung, der Delinquent sei ein Spion, wieder abgekommen. Im Radio war nämlich eben die Meldung durchgegeben worden, dass aus der hiesigen psychiatrischen Klinik zwei Patienten entwichen seien, und die Beschreibung des einen Patienten passte so genau auf seinen Gefangenen, dass kein Zweifel an der Identität des vermeintlichen Spions oder Terroristen übrig blieb. Der Korporal hatte sich lautstark darüber empört, das in der Radiomeldung die beiden Ausreisser als zwar skurril, aber durch und durch harmlos beschrieben wurden, was es ohne Gefahr erlaube, die beiden um schonenedes Anhalten zu beten. Der Korporal hatte wiederum einen seiner Soldaten ins Restaurant Sonne geschickt, obwohl er wusste, dass ihm das bei seinem vorgesetzten Offizier keine Punkte einbrachte. Er war zwar der Meinung, dass man unverzüglich mit der Irrenanstalt telefonieren müsse, wagte aber doch nicht, das selber zu entscheiden, insbesondere, da die Irrenanstalt eine zivile Institution war und sich der Verkehr zwischen der militärischen und zivilen Sphäre vor allem in Manöverzeiten nicht so ohne weiteres bewerkstelligen liess.

Als nun der Wachabende den zweiten Verrückten hereinführte, löste das bei unserem wackeren Korporal beinahe eine Nervenkrise aus. Schon leicht hysterisch liess er Sancho, der wieder mit seinen Erklärungen anfangen wollte, gar nicht zu Wort kommen, sondern schrie: «Weg mit ihm, aus den Augen mit ihm! Werft ihn zum anderen hinein oder macht mit ihm, was ihr wollt! Ja ist denn das ein Irrenhaus hier?» Die Soldaten, die nicht nur das Verhalten ihres Korporals, sondern vor allem das Aussehen Sanchos im geblümten Rovck und mit schief auf dem Kopf sitzendem Sonnenhut, eines Sancho, der stark aus dem Mund nach Bier roch und Reden hielt, ddie beinahe noch geblümter waren als sein Rock. Ziemlich witzig fanden, gerieten mit dem Korporal beinahe in eine handfeste, zu einer Schlägerei ausartende Auseinanderstezung. Der Korporal fand nämlich das aufkeimende Gelächter gar nicht lustig und wurde noch rabiater.

Doch da erschien zum zweiten Mal an diesem Abend der diensthabende Offizier auf der Bildfläche, nun noch viel röter von der Hitze, dem gekühlten Rosé und dem nie abbrechenden Ärger dieses Tages.

Als er die Neuigkeit vernahm, nämlich dass Don Quichotte, der Delinquent, mit dessen Gefangennahme er sich vor seinen Kameraden schon gebrüstet hatte, gar kein Spion und Terrorist, sondern ein ganz gewöhnlicher Verrückter sei, begann er seinerseits herumzuschreien und herumzutoben, bezeichnete den Korporal als Hornochsen und Rindvieh, auch das Wort Arschloch fiel. Ihn, den Deinsthabenden, wegen einer solchen Lappalie zweimal aus einer wichtigen Lagebesprechung zu sprengen, grenze an Insubordination. «Den Irrenarzt hätten Sie holen müssen, aber das fällt einem Kamel und Esel wie Ihnen ja nicht ein. Ein Kamel und Esel sind Sie, Korporal, und ein Spatzenhirn haben Sie, Korporal, verstanden?» Worauf der Korporal mit vor Wut gespresster Stimme zwischen den Zähnen hervorstiess: «Jawohl, Herr Major, ich bin ein Hornochs und ein Rindvieh, ferner ein Esel und Hornochse, ferner ein Arschloch mit Spatzenhirn, habe verstanden, Herr General!» Worauf sich der Oberleutnant zackig um 180 Grad drehte und ohne zu salutieren mit wütenden Schritten im Dunkel verschwand, der «Sonne entgegen, wo der Rosé wartete, der leider inzwischen warm geworden war.

Donnerstag, 23. Juli 2009

Traurige Jäger (5)



Don Quichotte, der im Wald zurückgebliebene, hatte inzwischen viel nachgedacht und die Waffe, die er als Laserkanone erkannte, genauestens untersucht. Diese Waffe, sagte er sich, sieht zwar haargenau wie eine Pistole aus, aber das ist genauso Tranung, wie es bei den Fahrrädern, die eigentlich Lufthunde, bei den Maschinen, die Cerebraner und bei den Menschen, die in Wirklichkeit Toboser sind, der Fall ist. Das ist eben das Problem, dachte Don Quichotte. Einiges ist getarnt, anderes nicht. Einiges ist Sein, anderes bloss Schein. Und die Kunst, die den grossen Kämpfer auszeichnet, ist es, stets dasWahre vom Falschen unterscheiden zu können. Die Kunst, jeden Augenblick vollständig wach zu sein – Bewusstheit ist das ganze Geheimnis. Ein gewöhnlicher Mensch, ein Mensch wie Sancho, dachte Don Quichotte, wird dieses Geheimnis nie durchdringen. Menschen denken nur ans Fressen und Saufen und Vögeln, sie streiten sich über Kleinigkeiten und Nichtswürdigkeiten, sie hängen ihr Herz an Dinge, die vergänglich sind, sie suchen im Unbeständigen das Glück, sie sind eitel, selbstsüchtig, gefallsüchtig, machthungrig und dumm Wenn er, Don Quichotte, ihnen nun die Befreiung aus der Sklaverei der Cerebraner brachte, so hatten sie es eigentlich gar nicht verdient. Im Grunde, so schien es ihm, liebten die Menschen die Ketten dieser Sklaverei sogar. Aber ein Streiter Tobosos verlangt keine Dankbarkeit für seine Taten, denn ihm winkt höherer Lohn. Und Don Quichotte dachte einamal mehr an die Kugeln, die im Zwischending aus Wasser und Luft schwammen. Oder flogen.

Über diesen Gedanken war es fdämmrig geworden, schon fast Nacht. Sanchos Erkundungsgang schien sich in die Länge zu ziehen. Oder hatte sich dieser Tölpel etwa gar entlarven lassen und befand sich nun in der Hand der Feinde? Aber nein, das konnte nicht sein. Die Cerebraner waren bestimmt nicht an einem Sancho Pansa interessiert. Aber vielleicht wollten sie ja ihm, Don Quichotte von Toboso, eine Falle stellen? Sancho als Geisel behalten, ihn womöglich in eine Maschine verwandeln? Oder gar in einen Cerebraner?

Don Quichotte konnte nicht mehr länger warten. Er musste jetzt augenblicklich etwas tun, Freund Sancho befreien, die Cerebraner bekämpfen. Schon sass der tobosische Ritter auf seinem Lufthund und brauste davon. Kaum zehn Minuten später näherte er sich dem bewaffneten Maschinenpark der Armee. Er realisierte sofort, dass sich in diesem Park ein Cerebraner versteckt hielt. Don Quichotte stieg vom Rad und stellte den Lufthund an einen Baum. Robbte auf allen vieren dem Rand der Böschung zu, an deren Fuss der Maschinenpark lag. Sah die Fahrzeugem die Soldaten im Mondlicht stehen. Alles war ruhig und beinahe friedlich, einer der Soldaten hatte sich, obwohl das befehlswidrig war, den Helm vom Kopf genommen, ausserdem nahm er sich hie und da einen heimlichen Schluck zur Brust, worauf der Flachmann jeweils wieder in die dafür bestimmte Tasche des Kampfanzuges wanderte.

Doch Don Quichotte war ein zu erfahrener Kämpfer, um sich von dieser Idylle einlullen zu lassen. Sein und Schein, dachte er grimmig, Sein oder Nichtsein ist hier die Frage. Nach kurzer Observation wusste er, wo der Hund begraben respektive in welcher Gestalt sich der Feind verbarg. Es war das lausigste und am meisten verdreckte Exemplar unter all den Jeeps, die da herumstanden. Du bist erkannt, sagte Don Quichotte leise zu sich selbst zwischen den Zähnen hindurch, und wirst jetzt vernichtet.

Wobei er die Pistole aus dem Gurt zog und abdrückte. Er schoss ein-, zwei-, fünf-, zehnmal auf den vor Schreck erstarrrten Cerebraner, der von dem Überraschungsangriff des gewieften Strategen völlig überrumpelt wurde und, als eine Kugel in den Pneu eindrang, mit leisem Pfeifen in die Knie ging. Es gab ein wahres Stahlgewitter, dann gab es einen noch lauteren Knall, und der Jeep, am Benzintank getroffen, stand in hellen Flammen. Don Quichotte triumphierte in seinem Innern. Die erste Prüfung war bestanden.

Don Quichotte näherte sich dem Wagenpark. Er musste den Wache schiebenden Soldaten, die den Cerberaner für einen Jeep gehalten hatten, doch erklären, warum er geschossen hatte. Diese Soldaten, von denen es, wie man jetzt sehen konnte, nicht nur zwei, sondern drei, gar vier auf dem Platz gab, waren über den Angriff des Tobosers so erschrocken, dass sie mit totenbleichen Gesichtern und offenem Mund einfach dastanden, als sie die hagere, grosse Gestalt des Don Quichotte in den kummerschen Shorts und mit der Pistole in der hand auf sich zukommen sahen. Und dann ging alles sehr schnell. Unser edler Ritter, der die Arme geöffnet hatte, um den erstbesten der Soldaten zu umarmen, wurde mit einem brutalen Fausthieb, niedergestreckt, so dass seine Laserkanone in hohem Bogen in der Dunkelheit verschwand. Da lag er nun am Boden, unser Held, und die uniformierten Mannen standen mit ratlosen Gesichtern um ihn herum.

Der Korporal war, wie sich dies gehört, der erste, der seine Fassung wiedererlangte. Mit befehlsgewohnter Stimme schickte er einen seiner Soldaten in die «Krone». Wo er seinen vorgesetzten Offizier vermutete, der um diese Zeit meist selbst schon einen in der Krone hatte. Dann führte er dem Delinquenten, der aus einer offenbar nur schwachen Ohnmacht – Toboser sind hart im Nehmen – wieder halbwegs zum Bewusstsein gefunden hatte, zu einer ersten Vernehmung persönlich ins Wachquertier. Zwar war der Korporal für einen Moment geneigt zu glauben, dass das soeben sattgefundene Ereignis zum Manöver gehöre. Inszentiert, um die Effizienz des Wachdienstes zu testen. Aber dafür schien ihm das Vorgehen des langen Dünnen denn doch zu radikal. Zudem war der da ein allzu komischer Vogel, um reguläres Mitglied der Truppen zu sein. Nein, kam der Korporal in seinem Gedankengang zum Schluss, dieser Delinquent war echt. Unerhört so was.

«Wie heissen Sie?» fragte er Don Quichotte deshalb streng, «Name, Vorname, Adresse, Beruf, Alter, AHV-Nummer und so weiter, aber ein bisschen plötzlich!» Der Korporal hätte sich jetzt gerne von aussen gesehen. Er war bestimmt. Er hatte die Situation im Griff. Er war grossartig! Hoffentlich sahen die anderen das auch so.

Don Quichotte, den der rüde Ton und die schlechten Umgangsformen des Unteroffiziers ein bissschen irritierten, setzte eine womöglich noch würdevollere Miene auf. «Wer ich bin, junger Mann, kann ich Ihnen nicht sagen, denn das ist vorläufig noch geheim. Nur so viel: Ich habe eine Mission zu erfüllen, eine sehr wichtige Mission. Und: wir bekämpfen einen gemeinsamen Feind. Soviel muss vorläufig genügen.»

Der Unteroffizier rieb sich innerlich die Hände vor Vergmügen. Er war jetzt überzeugt davon, einen gefährlichen Spion oder Terroristen verhaftet zu haben. Erstens der dunklen Andeutungen des Fremden wegen, zweitens, weil dieser ein Deutsch mit eindeutig fremdländischem Akzent sprach. Er steckte den Delinquenten also ohne weitere Diskussionen in die Arrestzelle, um in näherer Zukunft das Erscheinen seines vorgesetzten Offiziers und in etwas fernerer Zukunft seine Beförderung abzuwarten.

Etwas später traf der diensthabende Offizier tatsächlich ein. Verärgert zwar, weil manihn mitten aus dem schönsten Jassen und von einem ausgezeichneten kühlen Rosé weggeholt hatte, aber auch alarmiert von den haarsträubenden Neuigkeiten des Soldaten. Dass jemand ohne Erlaubnis und Anweisung von höherer Stelle einen Armeejeep in Brand schoss, das war in seiner Militärkarriere bisher noch nie vorgekommen. Er hatte schon jetzt das Gefühl, dass das eine Sache sei, die seine Kompetenz übersteige.

Don Quichotte sass inzwischen auf der Pritsche im Arrestlokal, innerlich ruhig, denn er fühlte sich gut, da er ja wusste, was wirklich los war. Am liebsten hätte er ein Lied vor sich hingeträllert, und zwar ein tobosisches, aber in Toboso gab es leider keine Lieder. Bei Bewohnern eines Luft-Wasser-Gemisches kann sich nun mal keine Gesangskultur entwickeln. Dann öffnete sich die Tür. Davor oder dahinter stand der Offizierm gross und breit, mit hinter den Ordonanzhgurt gklemmten Daumen. «Gut, dass Sie da sind», sagte Don Quichotte, «ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.» Der Offizier war perplex. «Erlauben Sie mal! Sie haben hier nur zu reden, wenn man Sie fragt! Sie haben eine Schweinerei angerichtet, eine Riesenschweinerei, und…» Aber Don Quichotte liess ihn nicht weiterreden. «Wir habenjetzt keine Zeit, uns mit solchem Firlefans aufzuhalten, mein Herr. Dire Lage ist ernst. Die Cerebraner sind daran, die Erde zu unterjochen, und sie…» Der Offizier horchte auf. «Wovon sprechen Sie eigentlich?» fragte er argwöhnisch. «Von der Operation Cerberus natürlich! Sie ahnen ja nicht, was der vermeintliche Jeep in Wirklichkeit…» Aber der Offizier hatte nur den Namen Cerberus gehört. So wusste dieser lange Kerl also, wie ihre streng geheime Gesamtverteidigungsübung hiess! Verdächtig, höchst verdächtig! «Wache verdoppeln!» befahl er dem Korporal. Dann machte er sich auf den Rückweg zum Hotel Sonne. Erst wurde einem Offizier die Ordonanzpistole entwendet, dann ein Jeep in Brand geschossen, des weiteren kannte der Terrorist den geheimen Namen der Gesamtverteidigungsübung, und schlussendlich wurde auch noch der Rosé warm. Das schlug doch dem Fass den Boden aus, aber wirklich!

Montag, 20. Juli 2009

Traurige Jäger (4)

Als Sancho erwachte, ging es zwar schon gegen Abend, aber die Sonne schien noch immer und es war sehr heiss. Sancho verspürte in erster Linie Durst, und zwar einen ganz spezifischen Durst, nämlich den typischen Durst, den man so oft im Sommer nach einem herrlich kühlen Bier verspürt. Dieser Durst war so gross, dass Sancho beinahe in das sehnsüchtige Seufzen und Stöhnen seines Herrn eingestimmt hätte. Don Quichotte allerdings verlangte es nach allem anderen mehr als nach einem Bier, als Streiter Tobosos kannte er nur den Durst auf Bewährungsproben und auf Kampf. Zweitens verspürte Sancho, wenn er etwas genauer in sich forschte, einen vorerst leise, aber immer intensiver bohrenden Hunger. Also sprach Sancho zu seinem Herrn und Meister: «Ihr, der ihr ein Wesen von einem fremden Planeten seid, mögt ja über ein so irdisches Verlangen wie das nach einem kühlen Bier und nach einer einfachen Mahlzeit – zum Beispiel nach einem Stück Brot und einer kräftig gewürzten Chorizo-Wurst (ich gestehe, das Wasser läuft mir im Mund zusammen) oder einer währschaften Tortilla, wie sie bei uns auf dem Land vom Volk geschätzt wird, um nicht zu sprechen von einer Riesenplatte Paella mit oder meinetwegen, wenn auch ungern, ohne Meeresfrüchte, meilenweit erhaben sein: Ich bin und bleibe Mensch, und ein Mensch muss essen und trinken, oder trinken und essen, sonst kann er nicht denken und nicht handeln. Ich werde mich deshalb ins Dorf oder Städtchen zurück verfügen und meine notwendigsten Bedürfnisse zu befriedigen (denn Gott sei Dank ist in der Börse dieses rätselhafterweise am frühe Morgen schwimmenden älteren Herrn noch etwas Geld vorhanden), ferner die Lage auskundschaften und die Stärke der Feinde, sprich Cerebraner, erforschen. Da ich erstens allein und zweitens wie eine Frau gekleidet bin, Gott seis geklagt, wird niemand auf die Idee kommen, ich könnte Sancho, Assistent des Don Quichotte von Toboso, sein.»

Don Quichotte wunderte sich über diese lange Rede seines sonst nur im Anrufen der Heiligen so eloquenten Begleiters. Obwohl er ihm die Auskundschaftung der Cerebraner nicht so recht zutraute, liess er seinen durstigen und hungrigen Freund losziehen. Denn es war jetzt an der Zeit, einen Schlachtplan für die Nacht auszuhecken. Und Pläne konnte er am besten schmieden, wenn er allein war und seine Ruhe hatte.

Lufthunde, brummelte Sancho kopfschüttelnd, Lufthunde, während er mühsam auf sein Fahrrad kletterte. Mit stets wachsender Geschwindigkeit, denn dieses Mal ging es abwärts, näherte er sich dem Ort. Die Armeepräsenz auf den Strassen und Plätzen war geringer geworden, das supponierte Schlachtengetümmel hatte sich auf den Abend hin mehr ins freie Gelände und die Landschaft hinein verschoben in Form von Truppenbewegungen auf 20-, 50- oder gar 100-Kilometer-Märschen, Schiessübungen, Biwakierungen mit anschliessendem «Feindkontakt» etc., während im Dorf oder Städtchen, das als Ausgangspunkt der Aktionen und Kommandositz fungierte, sich nur noch einige Offiziere befanden, die Nachrichtenzentrale, die stehende Feldküche, das Lazarett und ein mit Stacheldraht umzäunter, schwer von Soldaten mit scharf geladenen Gewehren bewaffneter Maschinenpark, der einige Militärlastwagen, Jeeps, Artilleriegeschütze, Flabkanonen etc. enthielt, die in dieser Nacht vom Kriegsgeschehen ausgeschlossen sein sollten.

Sancho entschloss sich, das Gasthaus von heute morgen zu meiden, doch gab es in dem Ort als einem Garnisonsstädtchen viele andere Wirtschaften, denn Soldaten sind hungrige und vor allem durstige Gesellen. Heute allerdings, der Übung «Cerberus» wegen, herrschte die Zivilbevölkerung in den Lokalen vor, aber auch die Zivilbevölkerung war an diesem Abend sehr durstig, die Gartenwirtschaften waren voll und lärmig, und das Bier floss in Strömen. Es war einer jener närrischen Sommerabende, zwei Tage vor Vollmond, an denen selbst den ernsten und gesitteten Menschenschlag in diesem Land ein Hauch vin Übermut, der dann allerdings leicht in Mutwillen umschlägt, streift.

Sancho betrat also eine der zahlreichen Gartenwirtschaften des Städtchens und setzte sich still und bescheiden an einen Tisch, an dem schon zwei junge Burschen sassen, mit vollen Halblitergläsern Bier vor sich. Die beiden schienen schon einige dieser Humpen geleert zu haben, denn ihre Gesichter waren rot und schweissgläzend, ihre Augen unnatürlich blau, sie lachten viel und hieben sich gegenseitig die Hand auf die Schultern. As sie Sancho – im geblümten Rock und Frau Kummers ausladenden Sonnenhut auf dem Kopf – bewusst wahrnahmen, ging der Spass aber erst richtig los. Sancho schäumte und kochte innerlich vor Wut, bedachte dann aberm dass es erstens – zwei gegen einen – im Fall eines handfesten Streits einen ungleichen Kampf geben würde, dass er zweitens in einer wichtigen Mission unterwegs war und deshalb seine Tarnung auf keinen Fall aufgeben durfte, und dass er drittens immer noch Durst hatte und jetzt endlich ein kaltes Bier wollte.

Montag, 13. Juli 2009

Traurige Jäger (3)




Don Quichotte und Sancho Pansa machten sich also auf den Weg, in die Richtung, in die sie der Zufall führte, bereit und begierig, sich den Abenteuern zu stellen , die sich ihnen ereignen sollten. Jedenfalls war das so für Don Quichotte, den das Morgenbad ausserordentlich belebt hatte. Sancho Pansa hoffte eher darauf, auf etwas Essbares zu stossen.

Die Richtung, in die sie der Zufall führte, war die Strasse, und die führte ins Dorf. Auf der Strasse war um diese Zeit noch wenig Verkehr. Wenn ein Auto an ihnen vorbei fuhr, wurde das von Don Quichotte unauffällig, aber scharfäugig beobachtet. Die meisten der vorbeifahrenden Gefährte aber waren, wie Don Quichotte erklärte, gewöhnliche Autos und keine getarnte Cerebraner, was Sancho Pansa, der, obwohl Knappe und Assistent des Don Quichotte, kein Toboser, sondern ein gewöhnlicher Mensch war, nur schlecht beurteilen konnte, und es war ihm eigentlich auch ganz egal.

Was ihn an der grossen Sache interessierte, war der reiche Lohn , der ihm von seinem Herrn für treue Dienerschaft versprochen war. Er sollte nämlich, falls es ihnen gelingen würde, die Welt von der Herrschaft der Cerebraner zu befreien, als Statthalter Tobosos auf der Erde und infolgedessen als Ministerpräsident zbs Staatschef über die ganze Welt eingesetzt werden. Solche Aussichten gefielen Sancho nicht übel. Er sah sich schon auf dem Balkon über dem Platz stehen, ordenbehangen, die Hand zum Gruss gereckt, während unten auf dem Platz die in die Hunderttausende gehende, huldigende Menge skandierte: San-cho, San-cho, San-cho. Natürlich gehörte zu dieser Vorstellung auch die Idee eines hervorragenden Koches – oder besser: einer ganzen Brigade hervorragender Köche –, erlesener Weine, eines ganzen Harems voller gern nicht allzu schlanker Frauen.

Vorläufig war die Verwirklichung solcher Träume aber noch weit entfernt. Inzwischen waren sie im Zentrum des Dorfes, zu dem die Anstalt gehörte, eingetroffen. Offenbar war die Nachricht ihres Verschwindens und Abhandengekommenseins noch nicht bis ins Dorf gedrungen, denn man schenkte ihnen, einem grossen hageren Mann in Shorts und Birkenstockschuhen und einer kleinen dicken Frau im geblümten Rock, keinerlei Beachtung. Aus einer Bäckerei duftete ihnen nun herrlich frisch gebackenes Brot in die Nasen.


Schliesslich konnte Sancho seinen Herrn davon überzeugen, dass es zumindest nicht unsinnig sei, hier etwas Proviant für die weitere Reise einzukaufen. Glücklicherweise fand Don Quichotte in der Tasche seiner Shorts eine Geldbörse und in dieser nebst etwas Kleingeld auch einige Banknoten.

Während im Innern des Ladens Sancho Pansa Brötchen, Hörnchen, Wurstweggem und andere Köstlichkeiten bestellte und sich die Verkäuferin schon etwas wunderte über die tiefe Stimme und den männlichen Habitus der südländischen Dame, die sie überdies noch nie gesehen hatte, überlegte Don Quichotte, der draussen auf seinen Assistenten wartete, dass noch einige wichtige Utensilien fehlten, um aus ihm einen schlagkräftigen Kämpfer Tobosos zu machen. Er wurde plötzlich sehr aufgeregt. Erstens fehlte ihm eine Waffe, vorzüglich eine Laserpistole. Zweitens und wichtiger ein eigenes Transportmittel, sprich Schlachtross, sprich Lufthund.

Als Sancho bereits mit vollem Mund mit der Verpflegung endlich antrabte, mochte sich Don Quichotte kaum überwinden, wenigstens ein Hörnchen zu essen, so sehr war er erfüllt von seiner nächsten Aufgabe. Zufälligerweise – oder vielmehr überhaupt nicht zufälligerweise, denn die Gemeinde besass nicht nur ein Irrenhaus, sondern war auch eine kleine Garnisonsstadt – befand sich im Ort gerade eine nicht unerhebliche Menge Militär mit entsprechendem Zubehör. Soeben kamen ihnen einige Offiziere im Leutnants-, Oberleutnants- und Hauptmannsrang entrgegen. Sie trugen Pistolen im Halfter, was Don Quichotte natürlich nicht entging. Und jetzt rollten einige Militärlastwagen an ihnen vorbei. «Das sind getarnte Cerebraner», flüsterte Don Quichotte ganz erregt. «Wenigstens die ersten beiden. Ich hoffe nur, dass mich nicht durchschaut haben. – Aber zuerst brauchen wir die Laserkanonen.» In einiger Distanz folgten sie den Offizieren, die sich daran machten, die Treppenstufen zum Eingang des Hotels «Sonne» hochzusteigen, wo sie bei einem guten zweiten Frühstück den morgigen Tagesbefehl durchgehen wollten. Einer der Offiziere war sehr dick, dicker noch als Sancho Pansa, und mindestens doppelt so gross. Don Quichotte und sein Knappe betraten die Gaststube mit unübertrefflicher Selbstverständlichkeit. Die Offiziere hatten sich ihrer Uniformröcke und der Pistolengurte mit den Waffen bereits entledigt und sie leichtsinnigerweise an die Garderobehaken gehängt. Man konnte jetzt die Schweissflecken in den Achselhöhlen des dicken Offiziers sehen. Don Quichotte und Sancho Pansa setzten sich an einen Nebentisch. Der Toboser bestellte einen Kaffee, Herr Pansa, der bereits durstig war, ein Bier. Die Offiziere besprachen gerade den Vrelauf einer umfassenden Gesamtverteidigungsübung mit Namen «Cerberus». Das ist für eine Gesamtverteidigungsübung natürlich sozusagen der ideale Name. Unser langer, dürrer Freund spitzte die Ohren, bis ihm der Schnurrbart zu zittern begann. Er fühlte sich auf der ganzen Linie in seinen Überzeugungen bestätigt. Diesen Cerberus werde ich mal kitzeln! dachte er kampfeslustig. Er machte seinem Sancho ein Zeichen, sich mit dem Bier zu beeilen, denn die Handlung duldete jetzt keinen Aufschub mehr.

Sancho legte beim Aufstehen automatisch Geld auf den Tisch, etwas, worauf Don Quichotte nicht gekommen wäre, da es für ihn als Toboser Wichtigeres zu tun gab, als einen Kaffee zu bezahlen, den er noch nicht einmal angerührt hatte. Dafür bemächtigte er sich beim Verlassen des Restaurants mit überraschender Behändigkeit eines der Pistolengurte samt Pistole (es war diejenige des dicken, unter den Achseln schwitzenden Oberleutnants, der ein notorischer Pechvogel war), ohne dass es jemand bemerkt hätte, von den Offizieren, die eifrig am Diskutieren waren, ganz zu schweigen.

So kam es, dass eine Pistole der Schweizer Armee in der Kommissionentasche von Frau Kummer verschwand, also dorthin, wo üblicherweise Kartoffeln, Karotten, Milch und Schokolade (Frau Kummer liebte Schokolade) zum Transport zwischen Migros oder Coop un kummerschem Einfamilienhaus verstaut wurden. Währenddessen wand sich Don Quichotte den Ordonanzgurt um den Bauch, denn die Sommershorts von Herrn Kummer, der zwar dünn, aber doch nicht so unglaublich mager wie unser tapferer Toboser war, hatten sich inzwischen doch als eine oder zwei Nummern zu gross erwiesen.

So gingen sie unangefochten durch den Ort, immer neuem Militär begegnend, Fusstruppen in Zweierkontrollen mit geschultertem Gewehr, Nachrichtensoldaten auf Militärfahrrädern, Offizieren in Jeeps. Die Militärübung Cerberus hatte ja allerhand Leute auf die Beine gebracht. Hinter Sandsäcken lagen vor dem Schulhaus getarnte Beobachtungsposten im Kampfanzug, das Maschinengewehr im Anschlag. Von weiter her knallte und detonierte es. Das alles war einigermassen Furcht erregend. Obwohl hier der kriegerische Ernstfall ja nur geprobt wurde; aber Don Quichotte fühlte sich unverzagt. Sancho hingegen fürchtete sich genug, um dicht hinter seinem Herrn zu bleiben, die Handtasche an den Bauch gepresst. «Die meisten sind ja nur Menschen», beruhigte Don Quichotte seinen Assistenten, «ich sehe lediglich eine beinahe verschwindende Anzahl von Cerberanern. Da drüben, das unter dem feldgrünen Netz da, was sich verzweifelt anstrengt, wie ein Panzer auszusehen, ist jedoch ganz bestimmt ein Feind, schau nur nicht so direkt hin!» Aber Sancho war es schon ganz egal, ob es sich um einen echten Panzer oder um einen getarnten Cerberaner handelte. Er fühlte anflugsweise eine eigentümliche Sehnsucht nach der kaum von den Selbstgesprächen der Verrückten gestörten Stille der Anstalt jenseits des Waldes in sich aufsteigen.

Sie kamen jetzt am Migros-Markt vorbei, wo trotz der militärischehn Situation Hochbetrieb herrschte, Frauen mit vollen Einkaufstaschen aus dem Laden strömten, denn es war Samstag, und die Einwohnerinnen und Einwohner des Ortes wollten am Sanntag trotz des simuliertem Krieg und solchen Sachen einen guten Braten essen.

Da blieb Don Quichotte, der noch immer nach einem geeigneten Schlachtross Ausschau hielt, plötzlich stehen. «Siehst du jene beiden Lufthunde dort?» fragte er Sancho und zeigte auf zwei ganz gewöhnliche Fahrräder, die einträchtig nebeneinander standen. Lufthunde, so hatte ihm Don Quichotte noch in der Klinik erklärt, seien die üblichen Fahrzeuge für Toboser, die sich auf grosser Fahrt befänden, um ihre Bewährungsprobe zu bestehen; Fahrzeuge, sehr praktisch zur Fortbewegung sowohl auf der Erde wie auch in der Luft und unter Wasser. Und diese beiden Fahrräder, die so friedlich und einträchtig nebeneinander standen, sollten nun also Lufthunde sein! Kaum zu glauben. Aber er wusste ja, dass sein Herr ein aussergewöhnlicher Mensch war.

Also folgte er Don Quichotte, der schon im Begriff war, eines der Fahrräder, und zwar ein rot gestrichenes Damenrad schon älteren Jahrgangs der Marke «Rosinante», zu besteigen. «Komm schon, setz dich auf den anderen Lufthund, beeile dich, du ewiger Zögererer und Zauderer, der du bist, und hab keine Angst, diese Hunde beissen dich schon nicht. Der Kampf wartet!»

Also setzte sich Sancho auf das andere Rad, das ebenfalls ein Damenrad war (aber ein blaues), vorher aber schnallte er vorsorglich Frau Kummers Einkaufstasche, jetzt an Inhalt mit einer Ordonanzpistole bestückt, auf den schon etwas angerosteten Gepcäkträger. Sie sassen beide fest im Sattel und waren eben im Begriff, ihren Lufthunden die Sporen zu geben, Don Quichotte voller Enthusiasmus darüber, jetzt endlich vollständig ausgerüstet zu sein, Sancho noch ganz verwirrt vom schnellen Gang der Ereignisse, als sie hinter sich die wütende, rasch sich nähernde Stimme einer gewaltigen Matrone vernahmen. «Haltet die Diebe!» rief sie, «haltet die Diebe!» Aber niemand vermochte die rasch auf ihren Lufthunden davon flitzenden Streiter aufzuhalten. Zu perplex waren die anderen Matronen über den dreisten Velodiebstahl mitten am helllichten Tag, mitten in einem supponierten Krieg. Velodiebstähle mochte es bei Nacht und im Ausland geben, etwa in Amsterdam oder New York, wo die Besitzer ihre Fahrräder mit schweren Eisenketten sichern mussten.

So gewannen unsere beiden Helden denn schon bald einen komfortablen Sicherheitsabstand zu ihren Verfolgerinnen. Don Quichotte fühlte sich in seinem Element und fluchte in einem fort, während Sancho wieder einmal alle Heiligen des Himmels anzurufen hatte. «Lass uns um Gottes willen aus diesem vermaledeiten, zehnmal verfluchten Ort verschwinden!» flehte Sancho seinenHerrn und Gebieter an, während ihnen der Fahrwind um die Köpfe fuhr. «Niemals!» verkündete Don Quichotte darauf pathetisch, «nicht bevor ich mindestens einen Cerebraner zur Strecke gebracht habe! Meinst du, ich wolle ewig eine Halbkugel bleiben?»

Inzwischen hatten sie allerdings die letzten Häuser des Ortes, des Dorfes oder kleinen Städtchens längst hinter sich gelassen; die Strasse führte jetzt durch den angenehm kühlenden Schatten eines Waldes. Sancho, der müde war, dem der schweiss vom Körper lief, dessen Beine schmerzten und was der Unbill noch mehr waren, redete von hinten gegen die strampelnden, stark mit grauen Haaren bewachsenen Waden seines Freundes an, versuchte ihn zu überzeugen, dass es doch das Klügste sei, vorerst einmal im Verborgenen zu bleiben und sich daselbst, etwa unter einer Tanne oder einer Buche, ein wenig auszuruhen. Im Schutze der Nacht liesse sich bestimmt viel operieren. Solch taktische Überlegungen beugte sich Don Quichotte geern, da auch er sich ein wenig ermattet fühlte.

Also bogen sie in einen Waldweg ein, der sie bald auf eine ruhige und verborgene Lichtung führte, wo sich Sancho augenblicklich im Schatten eines Holunderbaumes hinlegte und eine Sekunde später schon eingeschlafen war, um schnarchend von seinem ordengeschmückten Auftritt vor dem Volk, einer Menge dicker Frauen und anderen Köstlichkeiten des Lebens zu träumen. Don Qucihotte aber wollte nicht einschlafen, er dachte an Toboso und seine bessere Hälfte, die darauf wartete, sich mit ihm zu einem vollkommenen Wesen zu vereinigen, auf dass sie immerdar im Zwischending aus Wasser und Luft herum schwämmen. Und er seufzte tief und sehnsuchtsvoll.

Donnerstag, 9. Juli 2009

Traurige Jäger (3)



Do Quichotte war bis vor noch gar nicht so langer Zeit ein grosser Anhänger von Science-Fiction-Filmen gewersen. Tag und Nacht hatte er vor dem Bildschirm verbracht und sich eine DVD nach der anderen ins Hirn hineingestopft, bis die Bilder schier aus seinen Ohren, aus seiner Nase und seinem Mund quellen wollten und sein Hirn beinahe trockengelegt wurde. In seinen Träumen wimmelte es nur so von Raumschiffen, fremden Planeten, Zeitreisen und bizarren Wesen aus anderen Galaxien. Mit der Zeit hatte Don Quichotte sich selbst immer mehr davon entfernt, ein Erdling zu sein, und hatte sich nach und nach zum Abgesandten einer fremden galaktischen Macht gewandelt, fast nebenbei berufen, die Erde, wohin es ihn nun mal verschlagen hatte, vor Kräften des Bösen zu retten und zu bewahren.

Diese Mission, so wurde es Don Quichotte irgendwann klar, sei seine Lebensprüfung und Bewährungsprobe. Manchmal entwickelte sich bei ihm geradezu ein Heimweh nach seiner Heimatwelt, die sich da irgendwo weit draussen in der unendlichen Leere des Universums in anderen Sternennebeln um eine andere Sonne drehen mochte, Millionen, ja Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt. Solche Dimensionen gaben Don Quichotte einen ganz eigenen Zugang zu den Problemen des Alltags und deren Bedeutung.

Sein Heimatplanet hatte nach Don Quichottes Vorstellung eine sehr kuriose Gestalt. Und seine Bewohner waren nicht minder sonderbar. Der Planet, Toboso eins genannt, war nämlich ganz und gar mit Wasser bedeckt, oder vielmehr mit etwas ähnlichem wie Wasserm nämlich einer Art flüssligen Gases, einem Zwischending aus Wasser und Luft oder so ähnlich, das wusste Don Quichotte, der kein Naturwissenschaftler war, nicht so genau. Auf jeden Fall schwammen oder flogen in diesem Zwischending die Bewohner von Toboso, von denen es zwei Sorten gab, aber nicht etwa eine weibliche oder männliche, sondern eine vollkommene und eine unvollkommene. Die vollkommenen Exemplare waren kugelförmig und, wenn man so will, aus je zwei unvollkommenen Teilen entstanden (gemäss einer anderen Theorie waren die vollkommenen Teile zuerst gewesen und dann aus noch unerforschten Gründen in zwei unvollkommene Teile zerfallen, die nun von der Sehnsucht nach dem unersprünglichen Zustand der Vollkommenheit geradezu besessen waren). Die Kugeln befanden sich in einem Zustand frag- umd wunschlosen Glücks, waren alters- und zeitlos, mussten demnach weder Nahrung aufnehmen noch Exkremente ausscheiden, kannten weder Müdigkeit noch Schlaf, unterlagen nicht der Liebe, dem Hass und der Leidenschaft, sondern waren einfach da und schwammen oder flogen in gänzlicher Harmonie im Zwischending herum.

Die unvollkommenen Exemplare waren noch weit von solch paradiesischen Zuständen entfernt. Sie mussten sich zuerst in allen möglichen Wandlungen bewähren, manchmal auf der Erde, dann wieder auf einer Welt in einer ganz anderen Ecke des Universums die verschiedensten Abenteuer bestehen und stets gegen die Mächte des Bösen kämpfen, damit das Gleichgewicht im Grossen und Ganzen erhalten blieb, Dass Toboser, um diese wahrhaft titanische Aufgabe zu bewältigen, nicht nur äusserst mutig und schlau, sondern auch flexibel, anpassungsfähig, kreativ, analytisch, durchsetzungsfähig und einfühlsam sein mussten, versteht sich von selbst.

Dies alles und noch viel mehr hatte Don Quichotte während der langen Tage in der Anstalt dem Sancho Pansa auseinandergesetzt – natürlich mit der Sache angemessenen Worten und doch so, dass Sancho wenigstens einigermassen folgen konnte – keine geringe intellektuelle Herausforderung, wie Don Quichotte fand.

Auf der Erde sah unser tobosischer Ritter das Böse in verschiedener Gestalt, aber unter Wahrung einer inneren Einheit, sein Werk vollbringen. Die Feinde stammten ursprünglich ebenfalls aus anderen Welten, nämlich von einem Planeten namens Cerberus eins. Don Quichotte war davon überzeugt (allerdings, ohne deshalb in seiner Standfestigkeit oder seiner Zuversicht erschüttert zu werden), dass die Erde kurz vor einer endgültigen Übernahme durch die Cerberaner stehe. Woraus schliesst dies unser Held? Nun, allein schon durch zahlenmässiges Vorhandensein. Die Cerberaner tarnten sich nämlich als Maschinen, während die Toboser, wie gesagt, in Menschen- und in seltenen Fällen auch in Tiergestalt auftraten. Mit Vorliebe wählten die Cerebraner eine Tarnung als Auto, Flugzeug oder als Computer. Oder als Fernsehgerät, Stereoanlage, Gartengrill. Selbstverständlich waren nicht alle Autos, Computer und Wachmaschinen getarnte Cerebraner,
aber doch ein stets wachsender Anteil von ihnen. Die echten Menschen merkten davon natürlich nichts. Sie meinten noch immer, sie würden das Auto steuern, während es längst so war, dass das Auto, also der versteckte Cerebraner, sie steuerte. Leute, die einen versteckten Cerebraner in Form eines Fernsehgerätes bei sich in der Wohung hatten, glaubten, sie würden ein ganz normales Programm anschauen, während sie auf subtile Art und Weise auf die Machtübernahme durch die vom Planeten Cerrberus vorbereitet wurden.

Gegen derart versteckte Kräfte musste Don Quichotte also antreten. Das Delikate dabei war, dass die Cerberaner alle zusammenarbeiteten, während die Toboser aus Prinzip und aus Bestimmung strikte Einzelkämpfer waren. Don Quichotte wusste deshalb nicht, ob es neben ihm noch andere Toboser auf der Erde gab, was zwar anzunehmen, aus oben erwähntem Grund aber irrelevant war.

Trotzdem war Don Quichotte stets guten Mutes, denn sein Selbstbewusstsein war sehr ausgeprägt und sein Optimismus ausserordentlich stark.

Montag, 6. Juli 2009

Traurige Jäger (2)




Es ging schon gegen Morgen. Im Wachsaal war – so paradox das klingen mag … ein vielstimmiges Schnarchen, Murmeln, Seufzen und Schmatzen der chemisch betäubten Patienten zu vernehmen. In einer Ecke sass die Nachtschwester über einer Illustrierten zusammengesunken – «Gala». «Glückpost» oder «Schweizer Illustrierte» – zusammengesunken und schlummerte ebenfalls selig und süss. Nur zwei waren wach: Don Quichotte und Sancho Pansa. Denn sie wollten noch in dieser Nacht abhauen. Eine Welt voller Abenteur und Aufgaben erwartete sie.

Komm, die Zeit ist da! ¡Vamos! zischte Don Quichotte Sancho Pansa zu. Mit blossen Füssen und in ihre weissen Nachthemden erinnerten sie ein bisschen an Kindergespenster, als sie jetzt aus den Betten stiegen, der eine gross und hager, ein typischer Leptosome (paranoide Schizophrenie, wie der Psychiater befriedigt festgestellt hatte), der andere klein und kugelig, der typischer Pykniker mit einer für den Pykniker typischen manisch-depressiven Neigung. Und schon stand Don Quichotte dicht vor der Nachtschwester und schaute ihr mit durchdringendem Blick ins Gesicht, was diese aber nur veranlasste, die Nase kraus zu ziehen, als müsse sie niesen. Vorsichtig zog ihr Don Quichotte den Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete die Tür des Wahcsaals. Adiós, arme Brüder, murmelte er, und der kleine Dicke winkte mit der feisten Hand.

Die beiden hatten sich erst hier in der Klinik kennen gelernt, waren aber trotz ihrer äusserlichen und charakterlichen Unterschiedlichkeit schon bald unzertrennlich geworden. Stundenlang hatte man sie die Köpfe zusammenstrecken, Don Quichotte leise, aber eindringlich auf Sancho Pansa einreden sehen, während dieser eifrig mit dem Kopf nickte zu den Erläuterungen seines gross gewachsenen, dürren Kumpels.

Nachdem sie durch endlos lange Gänge gehuscht waren, zwei Kindergespenster, bange horchend auf verdächtige Geräusche, aber ohne aufgehalten zu werden, standen sie jetzt vor dem Gebäude in der lauen Luft der schönbesternten Sommernacht. Adónde vamos ahora? fragte Sancho Pansa, der die Entscheidungen immer anderen, die es besser wussten, zum Beispiel seinem langen Kameraden, überliess. Don Quichotte überlegte eine Weile und sagte dann bestimmt: Zum Schwimmbad! Sancho daraufhin irritiert: Ma porqué? Das Schwimmbad ist doch geschlossen um diese Zeit. Aber Don Quichotte liess diesen Einwand nicht gelten: Als Toboser könne man jederzeit an jeden beliebigen Ort gehen, also auch ins Schwimmbad, selbst wenn dieses geschlossen sei. Umso besser, wenn es geschlossen sei. Denn, so führte er aus, im Schwimmbad seien sie vor der Verfolgung des Feindes sicher. Ausserdem würde es ihnen da bestimmt gelingen, morgen, wenn die ersten Badenden kämen, einige passende Kleidungsstücke zu erbeuten. In diesen Fetzen könne er sich jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit zeigen, geschweige denn auf ein Pferd oder gar einen Lufthund setzen. Nicht einmal Unterhosen habe er an. Natürlich sei es für einen Toboser irrelevant, ob er Unterhosen trage oder nicht, aber er wolle sich ja nicht so leicht zu erkennen geben. Tarnung, lieber Sancho, Tarnung ist das erste Gebot, wenn man mit geheimer Mission im Feindesland unterwegs ist, schärfte der Ritter seinem Knappen ein. Ausserdem habe er einfach Lust auf ein erfrischendes Bad. – Das alles erschien Sancho einerseits nicht so recht plausibel, das heisst, er verstand es nicht so ganz, zudem konnte er nicht schwimmen und war überhaupt wasserscheu; andererseits wusste er auch, dass sein Verstand zu beschränkt war, um so komplexe Materien zu durchdringen, und er war immerhin so gescheit, seine eigene Beschränktheit zu erkennen und anzuerkennen.

Das öffentliche Schwimmbad der Gemeinde, zu welcher die Anstalt gehörte, befand sich auf der anderen Seite des Waldes, der die Klinik von der Ortschaft trennte. Also machten sie sich mit ihren blossen auf, diesen Wald zu durchqueren, Don Quichotte fluchend, wenn er auf einen spitzen Stein getreten war oder sich die Zehen angeschlagen hatte, Sancho Pansa alle Heiligen des Himmels anrufend, weil er sich in der Dunkelheit ein wenig fürchtete und das Anrufen von Heiligen ja nie schaden kann.

Nach einer Zeit, die ihnen schier endlos erscheinen wollte, weil sie sich natürlich verlaufen hatten, langten sie endlich beim Schwimmbad an, das von einem knapp mannshohen Drahtgitter umzäumt war. Don Quichotte nahm dieses Hindernis im Sturm und landete auf der anderen Seite des Zauns zwar auf der Nase, doch fiel er des Rasens wegen relativ weich. Sancho Pansa jammerte und stöhnte, er werde es nie schaffen, über diesen Zaun zu kommen; eine Selbsteinschätzung, die sich schliesslich nur darum als Irrtum herausstellte, weil der Glaube, und erst recht der Glaube eines Don Quichotte, Berge versetzen kann. Inzwischen dämmerte schon der Morgen herauf, die Luft war jetzt empfindlich kühl, und der arme Sancho, obwohl der weitaus besser gepolsterte auch der weitaus empfindlichere von beiden, begann zu frösteln, ausserdem war er müde und sehnte sich nach einem Bett. Don Quichotte hingegen beschwor wortreich die Atmosphäre Tobosos und die Tiefen des Alls, im heiligen Wasser gespiegelt, vor welcher sowohl Mensch als auch Toboser nackte erscheine. Und tatsächlich, da stand er würdige Ritter auch schon gänzlich entblösst auf dem gespflegten Schwimmbadrasen zwischen Zierschilf, machte einige Freiübungen nach gut müllerscher Art, kreiste mit den Armen, atmete tief durch, nahm einen Anlauf und tauchte kopfvoran ins heilignüchterne Element. Sancho schaute mit bekümmerter Miene zu, wie der edle Herr seine Runden schwamm. Er zog einen heissen Kaffee dem kalten Bad bei weitem vor.

Etwas später hörten sie, wie ein Auto vor dem Schwimmbad anhielt. Wir müssen uns verstecken, rief Don Quichotte, der Feind naht! Es nahte aber bloss der Bademeister, der seine Runde machte, gestern liegen gebliebenes Eiscrèmepapier vom Rasen hob, die chemische Zusammensetzung des Badewassers kontrollierte, bevor er das Bad fürs Publikum, das aber erst vom späten Vormittag an zahlreicher herbeiströmen würde, öffnete. Als erste Besucher kamen wie immer die pensionierten Kummers, er lang und dünn, sie klein und mollig, um in Ruhe zu schwimmen. Am Nachmittag, wenn die heutige ungezogene Jugend das Bad in Beschlag genommen hatte, wurde das ja unmöglich. So früh am Morgen war es noch nicht einmal nötig, die Kleider in Kästchen einzuschliessen. Und für Rohköstler wie die Kummers war der frühe Morgen einfach eine herrliche Tageszeit.

Mit angehaltenem Atem standen Don Quichotte und Sancho Pansa hinter dem Vorhang der Männergarderobe, der für die schamvolleren der Badegäste angebracht war, während Herr Kummer sich seiner Kleider entledigte. Als er endlich in den Badehosen war und sich vor dem Schwimmen im Spiegel ausführlich gekämmt hatte (warum das sein musste, wusste nur Herr Kummer selbst, und der Ritter tippte sich, gegen Sancho hin, mit einer bezeichnenden Geste an die Stirn), dauerte es keine Minute, bis Don Quichotte on den Kleidern von Herrn Kummer, die ihm nicht schlecht passten, vor seinem dicken Freund und Knappen stand. Und ich? fragte dieser und hatte schon fast wieder ein Weinen in der Stimme. Du holst dir die Kleider von Madame, aber mach, dass dich niemand sieht, befahl Don Quichotte, – Was soll ich damit? – Sie anziehen, Calabazo, was denn sonst? – Aber ich bin doch keine Frau! empörte sich da Sancho, der als Südländer trotz seines eher hasenfüssigen Wesens eine gesunde Portion Machismo in seinem Blut hatte. – Das merkt doch niemand, jedenfalls nicht von weitem. Hast du ihren prachtvollen Sonnenhut gesehen? Den ziehst du dir ins Gesicht. Wenn sie meinen, du seist eine Frau, dann ist das doch die beste Tarnung! Niemand wird uns in dieser Verkleidung als Don Quichotte und Sancho Pansa respektive als Toboser erkennen. So überlistet man den Feind!

Das leuchtete sogar Sancho Pansa ein wenig ein, und er tat, wie ihm geheissen. Das Ehepaar Kummer schwamm indessen und hatte das ganze Schwimmbecken für sich. Der Bademeister sass in seinem Bademeisterkabäuschen, trank Kaffee, ass ein Hörnchen und las in der Morgenzeitung, was in der weiten Welt so alles an Verrücktheiten wieder passiert war. Nur die Frau des Bademeisters, die die Eintrittsbillete verkaufte, wunderte sich, als sie das Ehepaar so bald wieder das Bad verlassen sah; und auch ein wenig über die stark mit grauen Haaren bewachsenen Unterschenkel Herr Kummers, die ihr bisher noch gar nicht aufgefallen waren.