Samstag, 18. Dezember 2010

Ein Tag wie jeder andere

Oesch wacht eines Morgens auf – es ist ein Tag wie jeder andere. Könnte man meinen. Er setzt Wasser für den Capuccino auf, geht ins Bad, duscht, rasiert sich, steckt Toastscheiben in den Toaster, stellt den Käse und den Aufschnitt auf den Tisch, setzt sich mit einem Buch an den Frühstückstisch, beginnt zu essen, zu lesen, zu trinken. Aluk, sein Partner, schläft noch, wie immer. Denkt Oesch. Dann fällt ihm aber doch etwas Ungewohntes auf, eine überraschende Ruhe. In der Wohnung ist es zwar immer relativ ruhig, die Fenster isolieren gut, aber so ruhig denn doch nicht, normalerweise hört man ein Flugzeug, das sich im Ab- oder Landeflug befindet, den vorbeifahrenden Zug, entfernten Baulärm. Oesch realisiert diese Ruhe, aber die Erkenntnis bleibt in seinem Unbewussten, unterhalb der Bewusstseingrenze, er ergänzt, weil er es so erwartet, die Wirklichkeit einfach mit seiner Fantasie zur Normalität. Ausserdem hat er es eilig, er muss ins Büro, davor noch scheissen, er weiss, wann der Bus fährt und wann der nächste, also packt er sein Buch, um auf der Toilette weiter zu lesen und sein Geschäft zu erledigen, dann putzt er sich noch rasch die Zähne, schlüpft in Schuhe und Mantel, greift sich Rucksack und Schirm und verlässt die Wohnung, wie immer nach mehrmaliger Kontrolle, ob der Kochherd ausgeschaltet ist. Inzwischen ist die Dunkelheit einem schmutzigen Dämmerungslicht gewichen, das wenig Freude macht. Es ist kurz nach acht Uhr, Dezember. Oesch eilt zur Bushaltestelle, auf dem Weg begegnet ihm niemand. Jetzt wird die Stille unüberhörbar. Nichts regt sich. Nirgends Menschen. Auch Tiere sind vorerst keine zu sehen, was nicht ungewöhnlich ist im Dezember. Allerdings hat es auch im Winter auf dem Streifen Wiese zwischen Bahngeleise und Wohnblock meistens ein oder zwei Kolkraben. Heute nicht. Das irritiert Oesch aber weniger als das Fehlen von Menschen und die Abwesenheit von jeglichem Verkehrslärm. Oesch überlegt kurz, ob er sich im Tag geirrt hat, oder im Datum, vielleicht ist heute ja Sonntag, oder Weihnachten. Ach Quatsch, so senil ist Oesch dann doch noch nicht, Sonntag war vorgestern, also ist heute Dienstag, und es ist erst der 11. Dezember, ein Blick auf die Datumsanzeige auf seinem Handy bestätigt es Oesch. Jetzt befindet er sich an der Bushaltestelle, wo sich nicht nur kein Bus befindet wie sonst üblich, weil die Busse zu dieser Tageszeit in kurzen Abständen fahren und es sich bei der Haltestelle von Oesch um die Endhaltestelle der Buslinie handelt, sondern auch sonst nichts, was sich bewegt, weder auf Beinen noch auf Rädern. Oesch ist ratlos, verblüfft erst, dann zunehmend irritiert. Nachdem er eine Viertelstunde gewartet hat, in der sich nicht das geringste ändert, macht er sich zögernd zu Fuss auf den Weg. Normalerweise wird an den Stationen per Lautstärker über Busausfälle oder Linienblockierungen informiert, aber nicht heute. Er geht Richtung Innenstadt, was ein langer Weg ist, da Oesch an der äussersten Peripherie der Stadt wohnt. Immer noch begegnet er keiner Menschenseele, überhaupt keinem Lebewesen, und folglich auch keinen Fahrzeugen. Oesch wird immer deutlicher bewusst, dass wirklich etwas nicht stimmt. Immer noch hofft er auf eine einigermassen einleuchtende Erklärung für den perversen Zustand, in dem sich seine Umwelt ganz offensichtlich befindet, auch wenn er sich eine solche Erklärung ganz und gar nicht vorstellen kann. Jetzt kommt er an einer der Zeitungsboxen vorbei, in denen üblicherweise die Gratiszeitungen liegen, und es liegt auch tatsächlich ein ganzer Stapel Gratiszeitungen in der Box, was ebenfalls unüblich ist um diese Zeit. Er greift sich eine Zeitung, sie kommt ihm bekannt vor, und er sieht auch gleich wieso, es ist nämlich ein Exemplar von gestern, also von Montag, also vom 10. Dezember. Richtig. Er sieht sich bestätigt: 20 Minuten, Exemplar vom Montag, dem 10. Dezember.

Plötzlich scheint es ihm ganz sinnlos, länger der menschenleeren Strasse zu Fuss Richtung Innenstadt zu folgen. Sinnlos und falsch. Plötzlich ergreift ihn siedendheiss die Panik. Er muss sich um seinen Freund und Lebenspartner, um seinen Schützling kümmern, er muss zu Aluk zurück, ihn wecken und gemeinsam mit ihm überlegen, was jetzt zu tun ist, vielleicht findet sich auch eine Erklärung in den Medien, im Fernsehen, im Radio, im Internet, ja, im Internet wird sich eine Erklärung finden, denn im Internet findet man alles. Oesch ändert seine Marschrichtung um 180 Grad; er hastet jetzt, rennt fast, er will möglichst rasch nach Hause zurück. Aus Angst zieht sich sein Unterleib zusammen; er muss unbedingt noch einmal scheissen. Aber in der Wohnung eilt er zuerst nicht auf die Toilette, sondern zum Zimmer von Aluk. Im Zimmer von Aluk ist es Dunkel, die Rollläden sind heruntergelassen, er sieht auf dem Bett von Aluk nur ein schwarzes Bündel, er schwankt zwischen Panik und Hoffnung, Aluk, sagt er mit rauer Stimme, Darling, wach auf – da merkt er, dass das schwarze Bündel auf dem Bett lediglich die Bettdecke von Aluk ist, dass von Aluk selbst aber jede Spur fehlt.

Hektisch sucht Oesch die ganze Wohnung ab, es ist ja schon vorgekommen, dass Aluk sich versteckt hat, um Oesch bei dessen Heimkehr zu erschrecken oder zu foppen, aber es ist ihm eigentlich schon klar, dass Aluk sich ebenfalls wie alle anderen in Luft aufgelöst hat oder was sonst auch immer, jedenfalls für den Moment verschwunden und somit ein Teil des Rätsels geworden ist, zu welchem sich Oeschs Leben seit heute morgen beim Aufwachen gewandelt hat.

Einen kurzen Moment lang überlegt Oesch, dass er vielleicht noch immer träumt, nämlich wach geworden und dann in dieses Schlamassel geraten zu sein, aber er entscheidet sich relativ rasch dafür, dass das nicht möglich sei, denn er fühlt sich entschieden wach, so, wie er sich immer fühlt, wenn er wach ist. Anderseits erinnert er sich natürlich schon daran, manchmal darüber gegrübelt zu haben, ob er etwas jetzt tatsächlich erlebt oder nur geträumt hat. Aber diese Unsicherheiten dauerten immer nur einen Moment, und jetzt ist er seit mindestens einer Stunde in diesem Wachheitszustand. Nein, ein Traum kann das nicht sein. Er erinnert sich an seinen Vorsatz, die Realität mittels Medien abzuchecken. Er macht den Fernseher an. Normales Frühstücksfernsehen. Nachrichten, jetzt News genannt. Die News von Montag, dem 10. Dezember... Oesch erstarrt. 10. Dezember? Aber heute ist doch eindeutig der 11. Dezember, ein erneuter Blick auf die Datumsanzeige des Handys bestätigt den Befund, ausserdem ist ganz sicher nicht Montag, denn Montag war gestern, und was für einer, ein beschissener nämlich mit jeder Menge Ärger, also daran erinnert sich genau, er ist doch nicht blöd. Ich bin doch nicht blöd, sagt er laut und ahmt die Stimme aus der Fernsehwerbung nach. Aber warum bringen denn die jetzt noch einmal die News von gestern? Gottverdammte Scheisse!

Oesch fährt seinen Mac, einen alten Power Mac G5, hoch. Er schwitzt, und gleichzeitig ist ihm kalt. In seinen Gedärmen rumort es. Er startet den Firefox, öffnet die Seite von tagesanziger.ch. Montag, 10. Dezember 2010 steht da, letztes Update 09.30 Uhr. Ein Bombenanschlag in Stockholm, Deutschland wünscht sich die D-Mark zurück, Barack Obama... Höchsttemperaturen 2 Grad, das Wetter vom 11. Dezember, das könnte etwa stimmen, bewölkt ist es auch, in der zweiten Wochenhälfte wird es deutlich kälter, aber nichts von einer Kathastrophe, die eingetreten ist oder noch eintreffen wird, vom 10. Dezember aus gesehen. Auch der Blick tut so, als wäre immer noch der 10. Dezember, Islamist sprengt sich in die Luft, ein gewesener Parteipräsident bezeichnet die kommende Bundespräsidentin als «stutenbissige Musterschülerin», auf CNN ist es ebenfalls noch december 10 oder seit december 10 0748 GMT nichts mehr geupdated worden, dasselbe Bild bei NZZ Online, bei der Frankfurter Allgemeinen («Wir Deutschen sollen noch mehr zahlen», Mutti Merkel unter einem Plastikregenschirm), bei der Herald Tribune («China’s Army of Graduates sStruggles für Good Jobs»), bei der Sunday Times («The New Tower of London», «Commissioner indicated to Charles and Camilla that he was ready to resign for putting their lives at risk in the tuition fee riots»), bie «Le Monde», beim «Corriere della Sera», bei «El Pais», bei der «Times od India», beim «Sydney Morning Herald», bei «The Mail & Guardian», bei «Globo», bei «The Jakarta Post», beim «Tokyo Journal»...

Nein, das brachte nichts. Irgendwie war die Zeit aus den Fugen geraten, seine, Oeschs Zeit, und die seiner Umgebung. Irgendwie war er aus der Zeit katapuliert worden in die Zukunft, die einzig und allein für ihn, Oesch, nun die Gegenwart war, während sie offenbar für alle anderen die Zukunft blieb. Nur so, so wirr und vage, konnte sich Oesch seine gegenwärtige Lage erklären. Und für sich den ebenso vagen Wunsch formulieren, die vage Hoffnung, wieder in die «richtige» Zeit, die Zeit aller anderen, zurückzufinden. Aber wie?