Sonntag, 28. Oktober 2007

1975: Dichtung und Wahrheit in Florenz und Kairouan



.................................................................................................................................................................................................................(Bildlegende: Die grosse Moschee von Kairouan. Am 21. Dezember 1910 schrieb Rilke folgende Zeilen aus Kairouan an seine Schwester Clara: „Ich bin für einen Tag herübergefahren in die ‚heilige Stadt‘ Kairouan, nächst Mekka der große Pilgerort des Islam, den Sidi Okba, ein Gefährte des Propheten, aufgerichtet hat in den großen Ebenen und der sich aus seinen Zerstörungen immer wieder erhoben hat um die ungeheuere Moschee herum, in der Hunderte von Säulen aus Karthago und allen römischen Küstenkolonien zusammengekommen sind, um die dunklen zedernen Decken zu tragen und die weißen Kuppeln zu unterstützen, die heute so blendend vor den grauen,nur da und dort aufreißenden Himmeln stehn, aus denen der Regen fällt, nach dem man seit drei Tagen geschrieen hat. Wie eine Vision liegt die flache weiße Stadt da in ihren rundzinnigen Wällen, mit nichts als Ebene und Gräbern um sich, wie belagert von ihren Toten, die überall vor den Mauern liegen und sich nicht rühren und immer mehr werden.Wunderbar empfindet man hier die Einfachheit und Lebendigkeit dieser Religion, der Prophet ist wie gestern, und die Stadt ist sein wie ein Reich...“)

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Dichtung und Wahrheit in Florenz und Kairouan
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Nun, theoretisch währt die Liebe zwar ewig, aber das gilt nur für den Moment, während im praktischen, irdischen Leben jede Phase einmal vorbei ist, und Felix verliert seinen Angebeteten nach der Matur ein wenig aus den Augen. Felix arbeitet ein paar Monate lang bei einer Gartenbaufirma, um seine nächste – und erste grössere – Reise zu finanzieren. Diese Reise hat Felix in einem Tagebuch dokumentiert und wir können nun daraus einige Stellen zitieren, wobei wir die werte Leserin und den werten Leser schon jetzt bitten möchten, Gnade walten zu lassen und zur Kenntnis zu nehmen, dass Felix in seinen damaligen Schilderungen nicht immer ganz ehrlich ist. Ob man bei diesen «Geschichtsklitterungen» von Beschönigungen sprechen will, kann oder muss, sei dem Urteil des Publikums überlassen.
Wir ersparen uns die Tagebuch-Schilderungen der ersten Stationen dieser Reise, die Felix etappenweise über Venedig, Florenz, Rom, Neapel und Pompeji nach Palermo führt, von wo aus er per Fähre nach Tunesien übersetzt. Hier nur ein Müsterchen, das zeigt, wes Geistes Kind Felix damals (schon? noch?) ist: «Ich verlasse Venedig um halb zehn und reise während sechs Stunden durchs Apeninnenland, das sich unter einem düsteren Himmel nicht gerade freundlich zeigt. Am Nachmittag komme ich hier in Florenz an, gebe meinen Rucksack, ein unbequemes, schweres Ding, in der Gepäckaufbewahrung ab und verordne mir einen ersten Streifzug durch die Stadt, obwohl ich schon im Zug ein zwingendes Schlafbedürfnis verspürt habe. Mein Gang führt mich zuerst zur Kathedrale, die mich beeindruckt, gerade in ihrer imposanten Einfachheit. Ich sitze auf einer Holzbank, für lange Zeit, und ein Lichtstrahl trifft in einer gewissen Weise auf zufällige Formen und mischt sich in dunklere Farben und erlöst diese aus ihrer Dumpfheit; ein Knabe kniet vor einem Altar und betet, sein Haar schimmert schwarz; selbst die mannigfaltigen profanen Geräusche gieriger kamerabewaffneter Touristen vermag das gewaltige Gebäude zu absorbieren und in Watte zu ersticken; ein Madonnengesicht leuchtet auf und lächelt mir zu, in katholischer Wehmut; alle Materie scheint mir für Momente in grossen Zügen ein- und auszuatmen, und tatsächlich, der Boden beginnt zu schwanken unter meinen Füssen, und, ohne dass ich mich dagegen wehren kann, treten mir Tränen in die Augen, vor Trauer und vor Glück.» Und so weiter, Ende Zitat. Mit dieser Art von Schilderung, die wahrscheinlich nicht einmal ansatzweise seine wahren Erfahrungen und Empfindungen wiedergeben, versucht Felix wohl, an etwas heranzukommen, das er für «poetisch» hält. Diese Absicht ist aber so leicht zu durchschauen, dass uns der etwa zwanzigjährige naive junge Mann doch schon fast wieder sympathisch ist. Jedenfalls sind wir geneigt, ihm diesen Stuss zu verzeihen und ihm, gewissermassen über den Graben der Jahre hinweg, nachsichtig über das damals noch blonde und lange Haar zu fahren.

Richtig interessant wird die Reise aber erst ab der Überfahrt nach Tunis. Wir geben noch einmal dem Zwanzigjährigen das Wort: «Es beginnt schon auf dem Schiff. Ein paar Tunesier verwickeln mich in ein Gespräch, Männer zwischen vielleicht 25 und 35» (also für Felix damals schon uralt), «und beginnen, richtiggehend zu flirten mit mir. Ich bin erstaunt und perplex, freue mich aber auch über die Aufmerksamkeit und mache den Fehler, auf diese Flirterei einzugehen, und schon bald schlagen sie mir vor, mit ihnen auf das menschenleere nächtliche Deck zu kommen, um mir, wie sie sagen, den Mond zu zeigen. Dort fragen sie mich, mit welchem von ihnen ich denn nun wolle. Ich winke vorsichtig ab, denn keiner von ihnen gefällt mir wirklich gut. Aber ich bin wohl zu wenig deutlich (energisches, eindeutiges Auftreten ist nun mal nicht meine Stärke), denn plötzlich küsst mich ein Kerl, der ungefähr wie Anwar-as-Saddat aussieht, stürmisch auf den Mund. Ich schaue daraufhin wohl ziemlich verdattert aus der Wäsche, jedenfalls meint ein anderer, ein Jüngerer, ich hätte halt sagen sollen, dass ich nicht das Mädchen spielen wolle. Wir gehen wieder hinunter in den Passagierraum und ich versuche einigermassen vergeblich, auf einer Bank ausgestreckt etwas zu schlafen. Man könnte nun erwarten, die Araber seien von mir enttäuscht gewesen oder hätten mir mein Verhalten übel genommen, aber nein, am nächsten Morgen lachen sie mich an und unterhalten sich angeregt mit mir. Sadat macht mir noch ein letztes Angebot, indem er mir – für ein bisschen Entgegenkommen meinerseits – freie Kost und Logis in seinem Haus in Tunis anbietet, was ich aber dankend ablehne.»

Mohammed Anwar as-Sadat wird es übrigens bestimmt sein, während einer Militärparade in Kairo im Zuge eines Attentats von einem islamistischen Soldaten seiner Armee – Khalid Islambouli – am 6._Oktober erschossen zu werden. Die Islamisten werden die Ermordung Sadats dann damit begründen, dass ein Herrscher, der andere Gesetze als die der Scharia zur Anwendung bringt, kein Muslim mehr sei und als Murtadd rechtmässig getötet werden dürfe. Zu seiner Beerdigung wird kein einziger arabischer Staatschef anreisen. In Libyen und im Südlibanon wird sein Tod sogar gefeiert und im Iran eine Strasse nach dem Mörder Sadats benannt werden. Das mag daran liegen, dass Sadat als erster arabischer Staatschef das Existenzrecht Israels anerkennt und mit Israel auch ein Friedensabkommen vereinbart, wofür er 1978 – gemeinsam mit Menachem Begin – den Friedensnobelpreis erhält.

Aber zurück von der grossen Weltpolitik zur kleinen Geschichte von Felix, der in seinem Tagebuch fortfährt: «Noch andere Leute lerne ich auf der Fähre kennen: den Kanadier Allan, einen Hotelmanager aus Toronto, und den Amerikaner Tom, einen jungen Fotografen aus Prior Lake, Minnesota, der unter anderem für die Northwest Airlines fotografiert und dessen Traum es ist, eines Tages auf die Big Island von Hawaii auszuwandern, um dort eine Kaffeefarm zu kaufen, einen Ressort für Ökotouristen zu eröffnen und Fotografiekurse anzubieten. Dieser Tom, ein wirklich netter Bursche, nennt einen alten orangefarbenen R 6 sein eigen und bietet uns an, ihn gegen Beteiligung an den Benzinkosten auf eine Tour durch Tunesien zu begleiten.» Felix sagt zu und bildet nun für die nächsten paar Wochen zusammen mit dem zappligen, kurzsichtigen Tom, dessen Augen hinter den dicken Brillengläsern stets neugierig in Bewegung sind, und dem grossen hageren Allan, der mit seinem blasierten Schnauz ein bisschen wie ein steifer englischer Gentleman aussieht, ein zwar nicht gerade unschlagbares, aber doch insgesamt recht gut funktionierendes Team.

Und hier eine Szene im Tagebuch, von der wir wissen, dass sie gelogen ist und sich ganz anders abgespielt hat. Felix schreibt: «In Kairouan bieten sich uns haufenweise ‹Führer› an, die uns die Stadt zeigen wollen. Mohammed, ein sehr hübscher Junge von etwa 17 Jahren, weiches, schwarzumrahmtes Gesicht, gut gebaut in seinem engen Pullover und den Hosen, deren Reissverschluss arg beschädigt ist, lädt uns geradezu von der Strasse weg zu einer Hochzeit ein – und zwar zu seiner Hochzeit, wie er behauptet. (So weit ist der Bericht noch wahr.) Natürlich sollte uns das stutzig machen, aber naiv, wie wir sind, glauben wir ihm, und ich denk noch: Schade, dass der heiratet. Er verspricht uns in blumigen Worten ein echt tunesisches Familienfest und lädt, wie er sagt, laufend neue Leute ein, seine Freunde – in Tunesien werden Hochzeiten aber spontan gefeiert, denke ich. Der Abend und damit das Hochzeitsfest sind jedoch noch weit entfernt. In verschiedenen Lokale schlürfen wir Tee und schmauchen Wasserpfeife und lernen immer neue Mohammed-Freunde kennen. Dann führt uns Mohammed direkt zum Heim, das aus einem Raum für die ganze Familie, einem Kellergemach für Gäste, einem Hof und einem Unterstand für einen uralten Kleinlaster besteht. Im Wohnraum befindet sich die gesamte Verwandtschaft von Mohammed, etwa zehn Personen unterschiedlichen Alters, die Mutter sitzt vor dem offenen Fenster und hat ein Kleines an der Brust, wir schütteln allen reihum die Hand, dann führt uns der angehende Bräutigam in den Keller, wo er uns ein leckeres Couscous-Essen vorsetzt. Nach dem Mahl fahren wir mit unserem Renault in einen anderen Stadtteil zum Hochzeitsfest. Seltsam, dass die Familie davon ausgeschlossen ist. Unser tunesischer Freund verschwindet in einem Haus und erscheint nach ungefähr einer Minute schon wieder – mit der bedauerlichen Nachricht, dass das grosse Fest verschoben werden müsse, da die Musiker, die in einem anderen Dorf wohnten, noch nicht eingetroffen seien. ‹Lassen wir uns den Abend nicht verderben›, meint Mohammed mit ungebrochenem Enthusiasmus, und die Runde durch die Teehäuser beginnt erneut. Um etwa 11 Uhr ist Mohammed müde und bietet uns an, bei ihm unser Nachtlager aufzuschlagen. Also zurück zum Heim von Mohammeds Familie. Er bietet uns im Kellerraum sein ‹Bett› an, ein Holzgestell ohne Matratze, und da legen wir, Tom, Allan und ich, uns zu dritt hin und es ist ziemlich eng. Aber Mohammed hat es noch unbequemer, er legt sich auf den nackten Boden neben die Kerze. Ich liege eingeklemmt zwischen Allan und Tom auf dem Rücken und fühle mich so gar nicht schläfrig. Mohammed ist unruhig am Boden. Ich hebe vorsichtig den Kopf. Mohammed beginnt wild zu gestikulieren, macht Zeichen. Zwinkert mit den Augen, zeigt hinauf Richtung Hof. Was will der Kerl? frage ich mich, obwohl ich es eigentlich ja weiss, denn mein Herz schlägt wie wild. (Bis hierher stimmt der Bericht, aber nun folgt nur noch Dichtung und keine Wahrheit mehr.) Tom und Allan liegen eingemummt und scheinen zu schlafen. Ich muss sowieso noch einmal Wasser lösen, denke ich. Ich husche die Treppe hoch und steh dann in der mondlichtenen Dämmerung des Hofs. Neben der Tür zum Wohnraum der Familie liegt schnarchend der père de famille, zusammengerollt auf einer Wolldecke, Hüter von Haus und Herd. In meiner Aufregung pisse ich literweise, und da taucht auf ein Jüngling in der Blüte seiner Jugend, schön wie die Rosen an Dornröschens Schloss, kommt auf mich zu und streichelt mich zwischen den Schenkeln, ich spüre seine warme Hand durch den Hosenstoff, und als er merkt, dass ich willig bin, führt er mich, kleiner Schuljunge von zwanzig Jahren, an der Hand durch eine niedrige Tür in die ‹Garage›, öffnet vorsichtig leise diebisch die Tür zum Kleinlastwagen, wir legen uns auf die Sitze, die nach altem Leder riechen, dunkel und warm ist’s, dunkel und warm auch die Höhle seines Mundes, wir küssen uns, seine Lippen sind süss und weich und begehrlich, die bis auf etwas Oberlippenflaum noch bartlosen Lippen, brünstig und ungeschickt tasten meine Hände seinen Oberköper ab.» So oder so ähnlich könnte für Felix ein aufregendes sexuelles Abenteuer in Kairouan durchaus beginnen, aber eben: könnte. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Unser Karl May des erotischen Abenteuers getraut sich nicht, obwohl er es sehr gern so haben würde, er zögert und zaudert und lässt die Chance vorüberziehen, während Allan, sein kanadischer Reisepartner, die Gelegenheit beim Schopf packt, so dass vielleicht er erlebt, was Felix später auf Papier zusammenfantasiert, während Felix zum damaligen Zeitpunkt frustriert neben dem schnarchenden, stockheterosexuellen und völlig unerotischen Tom liegt und in irgendeine nichtvorhandene Tischkante beissen könnte vor Wut auf sich selbst.
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Schattengetier und Gespensterwesen
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Anderntags fahren sie über Sousse, Monastir, Mahdia nach El Djem, wo sie das römische Amphitheater besichtigen und beinahe mit zwei Jungen in Streit geraten, die ihr Auto ungefragt «bewacht» haben und nun eine stattliche Summe als «Lohn» dafür haben wollen. Die Jungs machen den kanadischen Gentleman verlegen, indem sie ihm etwas von ihren sagenhaft grossen Schwänzen vorschwärmen und ihn «Horse» nennen.
Die nächste erzählenswerte Episode dieser Reise ereignet sich auf der tunesischen Insel Djerba. Wir lassen wieder das Tagebuch von Felix aus dem Jahr 1976 sprechen: «Bald trennt uns nur noch ein schmaler Wasserstreifen von der Judeninsel – neben Berbern lebt eine jüdische Volksgruppe seit vielen Jahrhunderten auf Djerba, und südwestlich von Houmt Souk befindet sich eine der ältesten und bekanntesten Synagogen der Welt, die Al-Ghriba-Synagoge (die 2002 Opfer eines Anschlags von Al-Kaida-Terroristen sein wird, wie wir als die herausgebende Instanz dieser Geschichten uns zu erwähnen erlauben) –, und wir lassen uns auf einem klapprigen Motorschiff, das schwankt und die beiden Autos, die es geladen hat, abzuwerfen droht, übersetzen nach Djerba. Völlig verändertes Landschaftsbild: Saftige Dattelpalmen mit eben reifen Früchten, Kakteen, struppige Vegetation. Wir schlagen mit unserem alten Renault Nebenwege ein, dem Meer entlang, sammeln Schwämme und futtern Datteln. Irrfahrt nach Houmt-Souk, dem Hauptort der Insel: Immer wieder müssen wir umkehren, weil der Weg vor uns durch Wasserpfützen unpassierbar geworden ist. Die Nacht verbringen wir in der Nähe von Houmt-Souk an einem durch Dünen vom Land abgetrennten Strand, kochen uns eine Gemüsesuppe und sitzen wie schon so oft um ein Palmfeuer herum, trinken Wein und reden schläfrig über dunkle Dinge. Das Rauschen der Brandung, der Novemberwind, der durch die Palmwipfel rauscht, beflügelt unsere Fantasie. Der Vollmond geht auf und erleuchtet die beginnende Nacht. Ich muss – einige Zeit später – allein im Auto hinter den Dünen schlafen, während meine Freunde ihr Zelt auf der andern Seite der Dünen am Strand aufschlagen. Um mein schützendes Blechhaus das meilenweit offene, karge Land, Schatten zwischen den vereinzelt stehenden Büschen, streunende Schakale. Und in der Ferne das träge Raunen des Meers. Und das silberne Gespenstervollmondlicht, in das diese unwirkliche Landschaft getaucht ist. In solchen Nächten kann alles geschehen. Und ich bin ganz allein auf der Welt, ganz allein mit allerlei Schattengetier und Zauberwesen. Man kann sich vielleicht vorstellen, dass ich in dieser Nacht etwas Mühe habe, einzuschlafen. Ich dämmere gerade mal ein bisschen hinüber und beginne augenblicklich, sehr lebhaft zu träumen. Ich träume vom ‹schwarzen Mann› und werde von einer Stimme im Ohr eindringlich davor gewarnt, dieser Gestalt in die Augen zu schauen. Ich höre aber – im Traum – nicht auf diese warnende Stimme, die Neugierde ist stärker als die Angst, ich öffne die Augen – im Traum –, doch da packt mich ein derart gewaltiges Entsetzen, dass ich mit einer gewaltigen Dosis Adrenalin im Blut und mit gesträubtem Haar die Augen tatsächlich öffne, erwache und kurzerhand schnurstracks aus dem Auto hechte. Aber das nützt mir nichts, ich falle bloss von einem Alptraum in den nächsten: Um mich herum, überall in der gespenstisch beleuchteten Landschaft, stehen Tausende von in weisse Gewänder gehüllten Gestalten herum – sie tun nichts, sie sagen nichts, sie stehen einfach da, aber das so deutlich und so real wie nur möglich, vielleicht sind sie sogar noch etwas realer als real, also für meinen Geschmack viel zu real, sodass ich meine Füsse in die Hände nehme und über den Hügel oder vielmehr die Düne, die sich vielleicht zwanzig Meter vor mir in die Höhe erhebt, mehr fliege als renne, ohne auch nur noch ein einziges Mal zurückzuschauen. Am Strand setze ich mich unter die Palme, die neben dem Zelt mit meinen schlafenden Kameraden steht, und versuche, dieses grauenhaften Entsetzens, das mir immer noch in den Knochen hockt, mit der Kraft rationaler Gedanken Herr zu werden, indem ich mir sage: Du hast geträumt, was dich bedroht hat, war in deinem Kopf; du weisst doch, dass du eine lebhafte Vorstellungskraft hast. Du kannst ja nachsehen, ob es sich beim Aufmarsch dieser Geisterarmee um eine Täuschung handelt, höhnt eine andere Stimme in mir. Es ist drei Uhr dreissig und im November um diese Uhrzeit auch am Strand von Djerba verdammt kalt. Der Mond ist inzwischen untergegangen, Abertausende von Sternen leuchten am Himmel über meinem Kopf, aber, logisch, sie wärmen mich nicht. Dann, nach endlos langer Zeit, kommt der Morgen und mit ihm die Farbe und so hat dieses Erlebnis denn doch noch sein gutes, indem ich – neben ungezählten Sonnenuntergängen – zu meinem ersten und einzigen Sonnenaufgang auf dieser Reise komme.»

Felix und seine Freunde fahren von Gabès aus nach Matmata, der unterirdischen Stadt (das heisst, unterirdisch ist sie eigentlich nicht, korrekter müsste man von «unter dem Erdniveau liegend» sprechen), zuerst durch steppenartiges Wüstenland, dann erklimmen sie Hügelchen und Hügel und kommen immer höher: Überblick über unzählbare nackte rötliche Anhöhen, in den Tälern manchmal einige Palmen, eine Oase. Die Wüste ist harte, vernarbte Erde unter dem Fuss. Die Allmacht der Sonne, die hier majestätischer, gewichtiger wirkt als von Felix je zuvor erlebt. Dass die Sonne eine Gottheit ist, leuchtet hier unmittelbar ein. Die tote, beängstigende Stille: kein Vogelpfiff, kein Wasser- oder Windrauschen – und plötzlich ein paar Häuser, eine Tankstelle, ein Laden, in dem man Coca Cola, Fanta und Zigaretten kaufen kann, davor schläfrige Gestalten: Neu-Matmata. Gleich dahinter beginnt die Höhlenstadt.
Auch vor Alt-Matmata hat es eine Tankstelle, das Auto unserer Freunde hat Durst und sie klingeln dem Jungen, der die Tankstelle bedient. Der ist jung und hübsch und Felix beobachtet ihn vielleicht eine verdächtige Spur zu lang, jedenfalls reagiert der sofort mit Augenzukneifen und einer eindeutigen Kopfbewegung darauf. So was ist ziemlich entlarvend. Aber die Reisebegleiter von Felix scheinen nichts davon zu bemerken. Felix ärgert sich über sich, weil er sich beim Gedanken ertappt, dass seine Freunde besser nicht wissen sollen, dass er schwul ist.
Sie stellen ihr Auto beim unterirdischen Hotel ab, wo alte Männer mit Kamelen auf Reitwillige warten. Dann spazieren sie durch diesen kuriosen Ort: das sieht hier aus, als hätten Meteoriten eingeschlagen. Riesenkrater in der Landschaft: der Boden des Kraters dient als Gemeingut der hier lebenden Familien, als öffentlicher Feuer-, Wäsche- und Spielplatz. Um diesen Platz herum angeordnet sind die einzelnen Höhlenwohnungen, die überraschend gut eingerichtet und im heissen Sommer wohl auch angenehm kühl sind. Überall greifen kleine schmutzige Hände nach ihnen: «Come and look my house» – gegen ein geringes Entgelt natürlich, das sie in hennaverschmierte Hände legen.
Von Matmata müssen sie nach Gabès zurückfahren, da sie mit ihrem alten Renault nur noch asphaltierte Strassen passieren können. Das Auto hat ohnehin schon einiges mitgemacht: Staub liegt auf dem orangefarbenen Lack, Sand knirscht in den Bremsen, aber der Motor hält sich gut.
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Das Glück der Astronauten
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Tozeur, 26. November. Ein heisser Wind führt feinen Sand mit sich, als der grosse blaue Bus von Neckermann aus Stuttgart vor dem Hotel Oasis, Tozeur, einem Paradies aus zweihunderttausend Palmen in der beginnenden Sahara Südtunesiens, zum Stehen kommt. Dreissig zum Teil blondschopfige, zum Teil ergraute und beglatzte Menschen sind froh, ihre Glieder nach siebenstündiger Fahrt mal wieder so richtig durchstrecken zu können. Sie schwitzen zwar und sind erschöpft, unterhalten sich aber, angeregt durch die orientalische, fremdartige Kulisse des Oasenstädtchens, trotzdem angeregt und machen sich gegenseitig auf allerlei Kuriositäten aufmerksam, auf einen alten blinden Mann zum Beispiel, der soeben vorbeigeht und lebhaft gestikulierend unter schmutzigem Turban grimassenschneidend Koranstellen oder obszöne Gedichte rezitiert, oder auf eine schwarzverschleierte Frau, von deren Gesicht überhaupt nichts zu sehen ist – nicht einmal die Augen – und die rasch und scheu den Hauswänden entlang huscht.
Man entschliesst sich, nachdem man das Gepäck dem Hotelpersonal übergeben hat, zu einem ersten Streifzug durch den Ort, um dann am nächsten oder übernächsten Tag die übrigen Programmpunkte abzuwickeln: Kamelritt zum Belvedère, einem Steinfelsen, von dem aus man die ganze Oase überblicken und tief in die Wüste hinein sehen kann und wo einem der Beduine Abdullah ben Said, ein Mann, der die komischste Stimme der Welt hat – hoch, singend – und dessen Lachen dem Gemecker seiner Geissen sehr ähnlich ist, der den ganzen Tag im Sand herumliegt, unter seinem Burnus noch drei Nachthemden trägt und trotzdem nicht schwitzt, der sehr skeptisch allem gegenüber ist, was er nicht kennt, sich aber sonst als die Liebenswürdigkeit in Person erweist, zu horrenden Preisen «Blumen der Wüste» – skurrile Gebilde aus Kristall –, Tücher, Ansichtskarten und Coca Cola aufschwatzt; Besuch des Paradiesgartens, in dem man Granatäpfel-, Zitronen- und Bananenbäume sowie herrliche Blumen und in dessen Zoo man Gazellen, Schlangen, Skorpione und junge Dromedare besichtigen kann…
Doch dies soll – wie gesagt – erst später gemacht werden; vorerst einmal schlendert man in Zweier-, Vierergruppen durch die Hauptgasse und lässt das buntbewegte Leben des Ortes an sich vorüberziehen.

Am Abend, während es immer kälter wird und sie sich einen Pullover nach dem anderen überziehen, sitzen Felix und seine Freunde, die sich auf dem Zeltplatz von Tozeur eingerichtet haben, zusammen mit anderen Reisenden am Palmenfeuer, Zigaretten rauchend, und lernen sich kennen: da hat es unter anderem einen Kanadier, der in Holland lebt und arbeitet, mit seiner Freundin – sie wollen den ganzen Winter über in Tozeur bleiben und haben sich gut eingerichtet, mit Heizung im Zelt und elektrischem Licht in der Palmhütte – sowie einen jungen, selbstverständlich gut aussehenden Franzosen. Sie fühlen sich geborgen, drängen sich in der zunehmenden Kälte aneinander. Später in der Nacht erklimmt Felix mit Tom den Steinfelsen, sie legen sich da auf den Rücken und schauen in den bestirnten Himmel. Anfangs reden sie noch, und Tom schwafelt etwas von fliegenden Untertassen, aber dann werden sie immer stiller. Zu sprechen ist nicht nötig, angesichts dieser Nacht. Es gibt unendlich viele Sterne zu sehen im nächtlichen Himmel über der Wüste, und man kann sich, wie ein Astronaut ohne Raumschiff, auf dem Rücken liegend, in diesen Himmel hineinfallen lassen, immer tiefer. Ohne zu wissen, warum, ist dies ein Moment im Leben von Felix, der ihn vorbehaltlos glücklich macht und der ihn jede Frage und jeden Zweifel vorübergehend vergessen lässt.
Felix träumt, dass er sich zusammen mit anderen Männern und Frauen in einer langen Reihe befindet; es ist dunkel, die Atmosphäre ist düster, und Felix denkt: das also ist der Jüngste Tag. Gott, der Allgewaltige, ist in eine weisse Wolke gehüllt; man sieht ihn nicht, hört nur seine Stimme, die durch die Räume donnert: Wer hat den und den Lebenswandel geführt, fragt sie. Eine Gestalt tritt aus der Reihe vor und Gott spricht: Du bist der erste der gefallenen Engel. Darauf bekommt dieser ein schwarzes Gewand, und Gott fragt wieder: Wer hat den und den Lebenswandel geführt? Worauf eine zweite Gestalt zum zweiten gefallenen Engel erklärt wird und so weiter und so fort. Die Leute links und rechts von Felix bekommen ihre Rolle als gefallene oder reine Engel zugewiesen und erhalten entweder schwarze oder weisse Kleider, und nur Felix, der mit pochendem Herzen auf das Urteil wartet, bekommt keine Gelegenheit, vorzutreten.

Samstag, 27. Oktober 2007





1975: Was vom Menschen übrig bleibt



(Bildlegende: Strasse in Kutna Hora; Knochenkirche, im Kronleuchter wurden sämtliche Knochen des menschlichen Körpers verarbeitet)...............................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................

1975
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Der Vietnamkrieg endet mit der bedingungslosen Kapitulation Südvietnams und dem fluchtartigen Abzug der letzten US-Truppen sowie von rund 30000 Zivilisten aus Vietnam. Saigon wird in Ho-Chi-Minh-Stadt umbenannt. In Kambodscha übernehmen die Roten Khmer die Macht. Der Tod von Gerneralissimo Franco bringt endlich das Ende der faschistischen Diktatur in Spanien. Seinem Testament entsprechend wird Juan Carlos I. König von Spanien. Die USA und die UdSSR unterzeichnen ein Abkommen zur Begrenzung unterirdischer Kernwaffentests. In Äthiopien herrscht Bürgerkrieg, Eritrea kämpft um seine Unabhängigkeit. Im Libanon liefern sich Christen und Moslems blutige Auseinandersetzungen. Nach Erlangen der Selbständigkeit bricht im ehemals portugiesischen Angola ein Bürgerkrieg aus. In Wien wird die OPEC-Konferenz von Terroristen überfallen, die Geiselnahme von elf Ministern endet mit drei Toten, und in Saudi-Arabien wird König Faisal ermordet. Die UNO-Vollversammlung verurteilt den Zionismus als Bedrohung des Weltfriedens. In den Mittagsnachrichten wird ein Erdbeben im türkischen Lice vermeldet, das über 2000 Tote fordert. Nach achtjähriger Schliessung wird der Suez-Kanal neu eröffnet. Liquid Chrystal Display, kurz LCD, nicht zu verwechseln mit LSD, kommt auf den Markt, und in den USA kann man den ersten Bausatz eines Personalcomputers kaufen. Bill Gates wird 20. Die Zusammenarbeit von Russen und Amerikanern im Weltall beginnt mit einem Apollo-Sojus-Koppelmanöver. Den Amerikanern gelingt mit den Raumsonde Viking 1 und Viking 2 eine weiche Landung auf dem Mars, Als erste Frau der Welt schafft es die Japanerin Junko Tabei, den Gipfel des Mount Everest zu erklimmen. Von Led Zeppelin erscheint der Song «Kashmir», von den Queen «Bohemian Rhapsody», von Bruce Springsteen «Born To Run» und «Toys In The Attic» von Aerosmith.
1975 treten die folgenden Personen von diesem Planeten ab: der äthiopische Kaiser Haile Selassie, die Schauspielerin Therese Giehse, der russische Komponist Schostakowitsch und der österreichische Komponist Robert Stolz, der in einer seiner Kompositionen die folgende Liedzeile ertönen lässt: «Wenn das Wasser des Rheins goldner Wein wär, ja dann möchte ich ein Fischlein sein. Ei, wie könnte ich dann saufen, brauchte keinen Wein zu kaufen, denn das Fass vom Vater Rhein wird niemals leer.» Dieses Liedlein hat Felix als Kind sehr beeindruckt, es hat sich gewissermassen unauslöschlich in seine Gehirnbahnen eingebrannt, und sollte Felix dereinst, was wir natürlich nicht hoffen, an Alzheimer erkranken, werden diese Worte und die ihnen entsprechende Melodie etwas vom Letzten sein, das Felix vergessen wird (so, wie seine Mutter mit dünnem Stimmchen immer noch das Schubertsche Lied von der Forelle singen kann – In einem Bächlein helle/Da schoss in froher Eil/Die launische Forelle/Vorüber wie ein Pfeil –, als sie längst nicht mehr weiss, wer sie ist). Es findet sich auf einer der ungefähr zehn Schallplatten, die die Eltern von Felix damals besitzen. Das Zeitliche segnen auch die amerikanische Tänzerin Josephine Baker, bekannt geworden mit ihrem Bananenröckchen und von Felix’ Vater hoch verehrt, und der amerikanische Schriftsteller Thornton Wilder («Our Town», «Unsere kleine Stadt», Pflichtlektüre im Englischunterricht am Gymnasium). 1975 betreten die Bühne, die diese Welt bedeutet, die amerikanische Schauspielerin und Filmproduzentin Drew Barrymore («3 Engel für Charlie»), der englische Fussballer David Beckham, der englische Fernsehkoch «Naked Chef» Jamie Oliver, die französische Tennisspielerin Mary Pierce und der deutsche Formel-1-Pilot Ralf Schumacher, der kleine und weniger erfolgreiche Bruder von Michael.

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Etwa ein Jahr später befindet sich Felix mit seiner Klasse, der 7e, auf Maturreise in Prag. Es ist das erste Mal, dass Felix irgendwohin mit dem Flugzeug unterwegs ist. Das ist für ihn ein spannendes und irgendwie metaphysisch gruseliges Erlebnis. Durch die Stadt Prag, damals noch Hauptstadt der damals noch sozialistischen CSSR, werden die Maturanden von ihrem schwulen und kunstbewanderten Deutschlehrer und einer offiziellen Reiseleiterin begleitet. Sie besuchen unter anderem ein Gebeinhaus in einem Ort etwa 70 Kilometer südöstlich von Prag. Es handelt sich dabei um die Knochenkirche von Kutná Hora oder Kuttenberg. Der historische Kern dieser Stadt gilt als architektonisches Kleinod von europäischer Bedeutung und wird 1995 in das UNESCO-Verzeichnis des Weltkulturerbes aufgenommen werden. 1975 präsentiert sich die Altstadt von Kutná Hora aber noch heruntergekommen und halb verfallen, so dass die Mauern vieler Gebäude mit Holzbalken abgestützt werden müssen. In der erwähnten Knochenkirche im Stadtteil Sedlec befinden sich als «Memento Mori» die Gebeine von etwa 40000 Menschen, mit denen der Innenraum einer kleinen Kapelle in penibler künstlerischer Kleinstarbeit ausgeschmückt wurde. Memento mori et carpe diem! Bedenke, dass du sterblich bist, darum pflücke den Tag! Der schwule und kunstsinnige Deutschlehrer rezitiert vor der Klasse ein Gedicht des barocken Dichters Andreas Gryphius:

Mir ist, ich weiss nicht wie, ich seufze für und für.
Ich weine Tag und Nacht; ich sitz' in tausend Schmerzen;
Und tausend fürcht' ich noch; die Kraft in meinem Herzen
Verschwindt, der Geist verschmacht', die Hände sinken mir.

Die Wangen werden bleich, der muntern Augen Zier
Vergeht gleich als der Schein der schon verbrannten Kerzen.
Die Seele wird bestürmt, gleich wie die See im Märtzen.
Was ist dies Leben doch, was sind wir, ich und ihr?

Was bilden wir uns ein, was wünschen wir zu haben?
Itzt sind wir hoch und gross, und morgen schon vergraben;
Itzt Blumen, morgen Kot. Wir sind ein Wind, ein Schaum,

Ein Nebel und ein Bach, ein Reif, ein Tau, ein Schatten;
Itzt was und morgen nichts. Und was sind unsre Taten
Als ein mit herber Angst durchmischter Traum.

Von filigranen Kronleuchtern bis hin zu imposanten Glocken aus Schädeln und Oberschenkelknochen ist im Gebeinhaus von Kuttenberg alles im wahrsten Sinn des Wortes aus Menschenmaterial. Es handelt sich dabei aber nicht etwa um den Veranstaltungsort für schwarze Messen oder einen Versammlungsort für Satanisten, sondern um ein ordentliches katholisches Gotteshaus – auch wenn heute in diesem makaberen Interieur keine Gottesdienste mehr abgehalten werden.
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Was von Menschen übrigbleibt
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Unvermittelt findet sich Felix im Jahr 1278 wieder und erlebt, wie der Abt des Klosters Sedlec, Jindřich, ein beleibter, rotgesichtiger Mann, von Jerusalem eine Hand voll Lehm vom Kalvarienberg mitbringt und diese auf dem Friedhof von Sedlec verstreut. Der Friedhof bekommt dadurch den Ruf, heilige Erde zu sein. Felix, der nun die Mönchskutte trägt, ist damit beschäftigt, Menschen in dieser heiligen Erde zu begraben, und zwar nicht nur solche aus der näheren Umgebung, sondern auch aus Polen, Bayern und Belgien importierte Leichen. So, wie es viele Hindus drängt, in Benares zu sterben, suchen die Menschen die Nähe des Klosters Sedlec, wenn sie fühlen, dass ihr Ende naht. Vor allem während der grossen Pest im Jahr 1318 ist der Zulauf enorm: Felix, der selber kränkelt, aber wie durch ein Wunder die Seuche überlebt, hat alle Hände voll zu tun; insgesamt sind es etwa 30000 Opfer des schwarzen Todes, die er und seine Mitbrüder in jener Zeit unter die Erde bringen, Gott hab sie selig. Die Zahl der Gräber wächst dann nochmals deutlich während der Hussitenkriege; die Ausdehnung des Friedhofs beträgt nun mehr als drei Hektaren. Das haben Kriege so an sich, dass sie tote Körper produzieren, aber auch, dass sie zur Verrohung der Sitten beitragen: Im Jahr 1421 brennen Hussiten genannte Revoluzzer und Mordbuben das Zisterzienserkloster nieder und massakrieren an die 500 Mönche. Bruder Felix entgeht auch diesem Schicksal, aber nur, weil er so alt und geschrumpft ist, dass er leicht übersehen werden kann.Nach den Hussitenkriegen kommt es zur schrittweisen Einebnung und Auflösung von Teilen des Friedhofs. Die Gebeine werden dabei zunächst um die Kapelle herum gelagert und später in ihren hinteren Teil verlegt. Hier ordnet sie erstmals im Jahr 1511 ein halbblinder, uralter Mönch zu sechs Pyramiden, und wir glauben zu wissen, wer jener Mönch ist. Dass die Sedlecer Kapelle zum heutigen bizarren Schmuckstück wird, verdankt sie jedoch dem Fürstengeschlecht Schwarzenberg aus Orlík. Dieses kauft das Anwesen 1866 und beauftragt den Holzschnitzer František Rint damit, das Interieur neu zu gestalten, und zwar so kunstvoll wie möglich. Welches Motiv die Schwarzenberg haben, das zu tun, darüber kann der kunstsinnige schwule Deutschlehrer nur spekulieren: Vielleicht, weil im Zeitalter der Romantik, das 1866 zwar eben gerade vorbei ist, das Memento Mori eine Renaissance erlebt, was sich zum Beispiel daran zeigt, dass auch Eichendorff ein Memento Mori-Gedicht verfasst hat:

Schnapp Austern, Dukaten,
Musst dennoch sterben!
Dann tafeln die Maden
Und lachen die Erben.

Wie dem auch sei: Rint jedenfalls desinfiziert sämtliche Gebeine und präpariert sie mit chlorhaltigem Kalk, was sie äusserst haltbar macht. In der Mitte der Kapelle – und damit sind wir zusammen mit Felix wieder in der Gegenwart des Jahres 1975 angelangt – hängt ein Kronleuchter, in dem alle 206 Knochen des menschlichen Körpers verbaut sind. In den Nischen des Hauptaltars befinden sich die Monstranzen, die traditionell zur Aufbewahrung der Hostien genutzt werden und aus einem Schädel gebildet sind. An der Wand im linken Teil der Kapelle sieht Felix, nun nicht mehr als Mönch und auch nicht mehr uralt und halbblind, das Wappen der Schwarzenbergs in Form einer Knochenassemblage nachgebildet. Im rechten unteren Feld ist ein Rabe zu erkennen, der einem Türken ein Auge aushackt, was an den Sieg der Schwarzenbergs über die Türken in der Schlacht bei Rábu im Jahr 1591 erinnern soll. In den beleuchteten Glasvitrinen sind einige Schädel von Kämpfern der Hussitenkriege ausgestellt. Die eingeschlagenen Schädel lassen ahnen, wie brutal mit mittelalterlichen Waffen geführte Kriege waren. Felix überlegt, dass einer der Schädel, die er da bewundert, sein eigener sein könnte, und ein metaphysisches Gruseln überfällt ihn angesichts dieser reinkarnatorischen Vorstellung.
Menschliche Gebeine und Knochenschädel werden übrigens auch bei späteren Künstlern noch beliebt sein: So wird der englische Künstler Damian Hurst im Jahr 2007 unter dem Titel «For the Love of God» in einer Ausstellung den Platinabguss eines Menschenschädels präsentieren, der mit 8601 Diamanten überzogen ist. Mit einem Verkaufspreis von 50 Millionen Pfund wird dieses Kunstwerk allerdings nicht ganz billig sein, eine Armani- und Gucchi-Version des Memento-Mori-Motivs, wie sie ganz gut in die Zeiten zu Beginn des 21. Jahrhunderts passen wird.

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Ungewollte Orgasmen und andere spirituelle Reisen
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An die Knochenkirche von Kuttenberg wird sich Felix auch nach dreissig Jahren noch ziemlich gut erinnern. Ebenfalls in Erinnerung bleiben wird ihm eine Busfahrt in einem völlig überfüllten Bus zu einer Diskothek etwas ausserhalb des Prager Stadtzentrums. Felix ist schon mehrere Jahr lang sehr heftig und sehr romantisch und auch sehr baraock in einen Schulkameraden verliebt – wir erwähnten es schon –, kam aber bisher nie auch nur in die Nähe des Ziels seiner Träume, Hoffnungen und sehnsüchtigen Fantasien; diese Liebe ist bisher also eher vanitas vanitatis et omina vanitas als carpe diem gewesen. Nun aber, auf jener Busfahrt, die wir nun in unseren Fokus nehmen wollen und die glücklicherweise recht lange dauert, will es das Schicksal, dass der Körpervon Felix durch die Menge und Dichte der Passagiere sehr heftig an den Körper seines begehrten Schulkameraden gepresst wird. Sowohl Felix als auch sein Angebeteter haben natürlich Kleider an, man stelle sich vor, sogar dicke Winterkleider, aber Felix ist seinem Schatz doch bisher noch nie so lange so nahe gewesen (und wird es auch später nie mehr sein), ausserdem findet Sex ja bekanntlich vor allem im Kopf statt und für die Vorstellungskraft eines Verliebten sind die paar Zentimeter Stoff oder Daunen oder was sonst an Material sich auch immer zwischen nackter Haut und nackter Haut befindet, natürlich kein wirkliches Hindernis. Eine heftige sexuelle Erregung ergreift in jenem Bus also Besitz von Felix und macht ihn ganz besoffen vor Geilheit im Kopf, worauf seine Lenden sich erhitzen, wie es so schön heisst. Schliesslich überwältigt ihn, obwohl er ihn durchaus zurückzuhalten versucht, der wohl heftigste Orgasmus, den er je hatte und je haben wird, die Neuronen in seinem Hirn versprühen ein Feuerwerk und gewaltige Fontänen von Sperma ergiessen sich in seine Unterhosen. Sein Schulkamerad scheint von all dem nichts zu bemerken; er zeigt auf jeden Fall keine Reaktion.

Felix ist dann noch einmal mit seiner ersten, ebenso grossen wie unerfüllten Liebe auf Reisen, aber leider auch dieses Mal in einer Gruppe, was es abermals verhindert, dass sie sich mehr als punktuell nahe kommen. Das ist jedoch schon mehr, als er sich je erhoffte. Denn Felix leidet zwar an seiner Sehnsucht nach einem uneingeschränkten sexuellen Zusammensein mit seinem Angebeteten, sie ist wie ein nicht lokalisierbarer Schmerz, der seine ganze Seele durchwirkt wie heisser Nebel einen Höllenort, aber sie erfüllt ihn auch, sie gibt seinem Leben einen Angelpunkt, und paradoxerweise sind der Hunger und der Durst selbst die Erfüllung und nicht etwa deren Stillung. Die physische Befriedigung entspricht selten der Intensität des Begehrens. Das haben die Tantriker erkannt, sie suchen gerade nicht den Orgasmus, sondern die unendliche Steigerung des Verlangens. Das ist übrigens auch ein «Arbeitsprinzip» des spirituellen Suchers, dessen glühende Gottessehnsucht, diese bis ins letzte gesteigerte Hingabe, selbst die Erleuchtung ist, denn die Vereinigung mit dem Göttlichen ist nicht personal, sondern setzt die Auflösung des Individuellen voraus. Deshalb sind alle Religionen grosse Lügen, theologische und ideologische Gedankenkerker, die Leid und Elend und Freudlosigkeit im Schlepptau haben. Aber das nur nebenbei. Diese Gedankensprünge bringen uns zurück zur zweiten Reise von Felix mit seinem spirituellen und vor allem sexuellen Fokus seiner damaligen Existenz (was ja nicht zwangsläufig ein Gegensatz sein muss). Sie wallfahren zum Guru seines Verehrten nach Kopenhagen, wo der Hof hält und seine Schäfchen um sich schart. Felix ist nämlich, der Not gehorchend, durch das Auf-den-Spuren-seines-Geliebten-Seins, auch auf die Spuren dieses Gurus geraten, eines jungen, eher fettleibigen indischen Meisters, den sein Geliebter verehrt und der damals einige Popularität geniesst und dem Felix einmal sogar die weissbesockten, durchaus frisch gewaschenen Füsse küsst. Und dann, in der Euphorie des Wir-sind-alles-Brüder-und-Schwestern-Gefühls, eines ein wenig überheblichen Auserwähltheitgefühls auch, darf Felix den Geliebten sogar, in aller Öffentlichkeit sozusagen, in die Arme schliessen. Solche Momente vergisst man nie wieder, wie dieser Bericht beweist.

Freitag, 26. Oktober 2007

Verwirrung der Gefühle unter der Mitternachtssonne



Seine zweite Reise ist eigentlich die erste richtige Reise, sie soll einen Monat dauern und Felix bezahlt sie mit in der Forstwirtschaft und dem Strassenbau selber verdientem Feriengeld. Felix ist immer noch Gymnasiast an der Kantonsschule von Biel, und er hat die Reise mit seinem Schulkameraden Marcel geplant, der ein Freund, aber nicht sein nächster Freund ist und an den er schon gar nicht sein Herz verloren hat. Natürlich würde er viel lieber mit jenem anderen verreisen, an den er wirklich sein Herz verloren hat, aber der kann oder will irgendwie nicht oder leider stehen sie sich nicht nahe genug oder der steht jemandem anderen näher. Eifersucht ist schon damals ein Dauerthema im Leben von Felix. Nun ja, schweren Herzens findet er sich mit Marcel als Reisekameraden ab, denn reisen will er. Unbedingt. Zu reisen, das scheint ihm unabdingbar. Ein Leben, in welchem nicht gereist wird, scheint ihm ein ungelebtes, ungereistes, verpfuschtes Leben zu sein. Felix leidet als Jugendlicher an seiner mangelnden Lebenserfahrung, die ihm irgendwie unangemessen vorkommt. Damals sind Interrail-Reisen angesagt, die es Jugendlichen bis 20 erlauben, für 300 oder 500 Franken einen ganzen Monat lang das europäische – und das heisst in jenen Jahren noch: das westeuropäische – Schienennetz zu befahren. Ihre Reiseroute soll sie in den Norden führen, nach Schweden, Finnland und Norwegen. Auf dieser Reise sitzen Felix und sein Kumpel meistens endlos lang in Zügen oder auf Zeltplätzen und manchmal auch auf Fähren herum und ernähren sich vorwiegend von Milch und Brötchen und etwas Primitivem – zum Beispiel weissen Bohnen in roter Sauce – aus einer Dose, die sie über dem Campingkocher wärmen. In Schweden und Finnland ist es überraschend sommerlich und warm, nur die Atlantikküste Norwegens präsentiert sich kühl und regnerisch. Felix erinnert sich an Moskitos und daran, dass sie sich auf einem finnischen Zeltplatz zusammen mit anderen Touristen gnadenlos volllaufen lassen, worauf sie die Duschräumlichkeiten des Zeltplatzes vollkotzen. Die beiden verstehen sich so weit ganz gut – das Problem ist nur: Marcel darf, soll oder muss nicht wissen, dass Felix schwul ist (so, wie es auch sein Angebeteter nicht weiss, obwohl dieser, nennen wir ihn Andi, Felix einmal misstrauisch gefragt hat: Bist du eigentlich verliebt in mich? Was Felix natürlich erschrocken verneinte). Marcel weiss also nicht, dass Felix schwul ist – dumm nur, dass es auf solchen skandinavischen Zeltplätzen junge Mädchen gibt, die nach jungen Burschen Ausschau halten, und dass sich der stockheterosexuelle Reisebegleiter von Felix mitten im Saft der Pubertät befindet, und so sind Komplikationen natürlich vorprogrammiert. Es geschieht auf dem Zeltplatz von Tampere. Marcel will wieder einmal, wohl, weil er sich allein nicht so recht traut, dass sie zusammen «Weiber aufreissen» gehen, und das ist auch gar nicht schwer, weil es letztendlich eher die Mädchen sind, die die beiden Jungs aufreissen. Es sind zwei hübsche Mädchen, zwei Freundinnen, wie unsere beiden Freunde zu zweit unterwegs, und also kriegt Marcel die eine (natürlich die hübschere) ab und Felix muss, will er sich nicht blossstellen, die andere nehmen, mit der er sich nicht einmal richtig unterhalten kann, weil sie kaum Englisch spricht. Die Augen von Marcel glänzen, als er mit «seinem» Mädchen im Zelt verschwindet – um sie zu poppen, wie Felix mit pochendem Herz annimmt. Felix glaubt nicht, dass sein Kumpel Kondome dabei hat, aber das ist eigentlich nicht sein Problem. Er, Felix, hat jedenfalls ganz sicher keine Kondome dabei, denn er will ja auch ganz sicher nicht mit dem Mädchen poppen, mit dem er jetzt romantisch in der nie ganz dunklen skandinavischen Sommernacht herumspazieren muss. Aber die junge Finnin will schon, und also muss Felix mit ihr im anderen Zelt verschwinden, will er sich vor seinem Reisebegleiter nicht blamieren. Sie küssen und knutschen da ein bisschen herum, aber das Mädchen merkt natürlich bald, dass sich bei Felix nichts regt, weder physisch noch mental, und die Stimmung wird ein bisschen komisch und Felix ist froh, dass sie kaum Englisch spricht. Am anderen Morgen will Marcel ganz begeistert wissen, wie es denn bei Felix so gelaufen sei, bei ihm ist es offenbar ganz toll gewesen, oooch, ganz gut, sagt Felix und versucht, den Obercoolen zu markieren, meint dann aber, sie müssten jetzt wirklich weiterreisen, schliesslich sei Skandinavien gross und weit und es gebe doch noch so viel zu sehen bei den Nordlichtern, und Rentiere hätten sie bisher auch noch keine gesichtet. Das glaubt sein Kumpel verschmerzen zu können – gibt es etwas Wichtigeres als Sex, wenn man siebzehn ist? –, aber Felix wird in seiner Verzweiflung, Marcel könnte von seinem «Versagen» erfahren, und vor allem in seiner Panik, er, Felix, würde sich erneut dazu gezwungen sehen, mit diesem oder auch einem anderen Mädchen herumzuknutschen, so eindringlich, dass Marcel schliesslich, wenn auch enttäuscht, nachgibt.

(Fortsetzung folgt)

Donnerstag, 25. Oktober 2007

1972: Kümmelbrot und Trockfleisch












...................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................(Bildlegende: Jardin des Tuileries, Paris; Richard Nixon, «der mächtigste Mann der Welt»; Vicky Leandros singt «Après toi»; Ulrike Meinhoff most wanted; der Mailänder Dom, in den Himmel abhebendes steinernes Tier.) Seine allererste Reise ins Ausland führt den, den wir hier Felix nennen wollen, als vielleicht Sechsjährigen Anfang der Sechzigerjahre mit seinen Eltern und Geschwistern nach Mailand – ein Tagesausflug während Ferien im Tessin. Das ist keine grosse Reise, aber als kleinem Knirps erscheint Felix die neue Welt, in die er da eintaucht, als sehr fremd (die Distanzen werden in seinem Empfinden mit zunehmendem Alter schrumpfen). Die Eltern von Felix haben nicht genug Geld, um im Ausland Ferien zu machen; das hat aber damals kaum jemand von den «gewöhnlichen Leuten». Allenfalls fährt man mal an die Adria, nach Cattolica oder Rimini. Felix erinnert sich, wenn er an seinen ersten Aufenthalt in Mailand denkt, knapp fünfzig Jahre später, vor allem an Kümmelbrot, Trockenfleisch, eine ganze Armada von Tauben, die alle mit Kümmelbrot gefüttert werden wollen, und den grossen Platz vor dem Dom. Und dass der riesige Dom ihn fast ein wenig einschüchtert – wie ein urtümliches, monumentales steinernes Tier, das momentan schläft, aber irgendwann zu fantastischem Leben erwachen kann, zum Beispiel als gigantische, surrealistisch verfremdete, in den Details barock überladene Taube, die plötzlich abhebt und gen Himmel fliegt. Und an den Geruch im Mailänder Bahnhof erinnert sich der kleine Felix mit den grossen blauen staunenden Augen und dem offenen Mund auch: Eine unglaubliche Mischung aus Eisenstaub, warmen Panini und Schweiss, die ihn fasziniert, aber auch ein wenig ängstigt. Das Gefühlsleben von Felix war und ist stets mit Gerüchen verbunden, von Gerüchen durchwirkt und von ihnen beeinflusst: Felix riecht, also ist er. Und er erinnert sich, wenn er an seine erste Reise hinaus in die grosse weite Welt denkt, an die gewaltige Müdigkeit, die ihn auf dem Heimweg im Zug in den Schlaf hinein zwingt, an diese gewaltige Müdigkeit, die zu jeder richtigen Reise gehört.

1972
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Wer ist 1972 Präsident in den für Felix so fernen Vereinigten Staaten von Amerika? Richtig, es ist ein Mann namens Richard Nixon, wie Felix aus den Mittagsnachrichten, denen die ganze Familie jeweils andächtig lauscht und die durch keine Gespräche unterbrochen werden dürfen, weiss. Ein ziemlich unsympathischer Mensch. Dieser Grobian, dieser ungehobelte Kerl, der fluchen kann wie ein Bierkutscher, ist aber der erste Präsident der USA, der China und die UdSSR besucht – eben 1972. Dafür wird er im Herbst wiedergewählt. Allerdings ertappt im Juni des Jahres auch ein Nachtwächter des Watergate-Hotels Einbrecher, die Abhörgeräte im Hauptquartier der Demokraten anbringen wollen, ein Umstand, der am 9. August 1974 schliesslich zum Rücktritt Nixons aus seinem Amt führen wird; Nixon wird übrigens 1994 an einem Schlaganfall sterben. 1972, das ist noch mitten im kalten Krieg. Immerhin unterschreiben in diesem Jahr 28 Staaten ein Abkommen zur Ächtung von Biowaffen, und das Salt-Abkommen zwischen der UdSSR und den USA begrenzt die strategische Rüstung. China und Japan nehmen diplomatische Beziehungen auf und beenden damit den seit 1937 bestehenden Kriegszustand zwischen den beiden Ländern. Der Österreicher Kurt Waldheim, später mit seiner Nazi-Vergangenheit konfrontiert, wird als Nachfolger von Sithu U Thant neuer UN-Generalsekretär. EWG und EFTA unterzeichnen ein Freihandelsabkommen.
Ein palästinensisches Terrorkommando nimmt an den Olympischen Spielen in München elf israelische Sportler als Geisseln, worauf bei einem missglückten Befreiungsversuch durch deutsche Sicherheitskräfte 17 Tote zu beklagen sind. Die Amerikaner Bardeen, Cooper und Schrieffer erhalten für die Theorie der Supraleitung den Nobelpreis für Physik, in England wird der erste Computer-Tomograph eingesetzt und die Russen landen die Sonde Wenera 8 ohne einen allzugrossen Rums auf der Venus. Aber auch die Amerikaner lassen sich in der Weltraumfahrt in diesem Jahr nicht lumpen und starten die Raumsonde Pioneer 10, die nach einem ausserordentlich erfolgreichen Erkundungsflug am 13.6.1983 als erstes Gerät menschlicher Produktion das Sonnensystem verlassen wird; eine Nachricht an ausserirdische Intelligenzen befindet sich vorsichtshalber mit an Bord, verfasst in jedem nur möglichen und von Menschen denkbaren Sprachen- und Zeichensystem (was natürlich trotzdem nicht garantiert, dass allfällige Ausserirdische diese Botschaften verstehen werden, weil allfällige ETs ja eben höchstwahrscheinlich kein menschliches oder auch nur entfernt menschenähnliches Gehirn besitzen). Felix ist unglaublich beeindruckt, als er von dieser Weltraummission hört. Zudem beginnt 1972 die bisher letzte bemannte Mondmission mit den Herren Cernan, Evans und Schmitt, die mit 110 Kilogramm Mondgestein im Gepäck zur Erde zurückkehren. In Deutschland wird mit Ulrike Meinhoff das letzte Führungsmitglied der Terrorbande RAF verhaftet und in Frankreich gewinnt im Juli zum vierten Mal in Folge der Belgier Eddy Merckx die Tour de France. Felix findet Sport öde, aber sein Vater und sein Bruder sind ganz verrückt danach, speziell auf die Velorennen und speziell auf die Tour de France, die wohl schon damals nicht ohne Doping zu schaffen war. Und Heinrich Böll, Literatur ist schon eher das Gebiet von Felix, erhält den Literatur-Nobelpreis. In der Schweiz gibt es immerhin schon seit einem Jahr das Frauenstimmrecht auf nationaler Ebene (es wurde im Februar 1971 eingeführt). In der Radio-Hitparade hört Felix (jeweils am späten Samstagnachmittag und nach dem wöchentlichen Bad) zusammen mit seinem Bruder, neben dem Nummer-1-Hit «Popcorn» der Gruppe «Hot Butter», «Sacramento» von den «Middle Of The Road», «One Way Wind» von «The Cats», «Après toi» von Vicky Leandros und «Song Sung Blue» von Neil Diamond (die Schweizer Hitparade wird übrigens damals noch von Jürg Marquart, dem späteren Verleger und schweizerischen Luxus-Protz-Promi mit eigenem Jet, moderiert und heisst «Bestseller auf dem Plattenteller»). Von Deep Purple erscheint das Album «Machine Head», Glam Rock erlebt einen Höhepunkt mit Bands wie T-Rex, Slade und Sweet. Felix kauft sich von seinem Taschengeld die LPs «Pictures of an Exhibition» von Emerson, Lake and Palmer, «Harvest» von Neil Young sowie «Thick As A Brick» von Jethro Tull. Neben vielen anderen sterben 1972 der deutsche Lyriker Günter Eich und der französische Chansonnier Maurice Chevalier. 1972 geboren werden neben vielen vielen anderen der Tennisprofi Michael Chang, Letitia Ortiz Rocasolano, die 2004 den spanischen Thronfolger Felipe heiraten wird, der amerikanische Schauspieler Ben Affleck, die Schweizer Skifahrerin Corinne Rey-Bellet, die 2006 von ihrem Mann ermordet werden wird, der Rapper Eminem und Ramzi bin Ash-Schaiba, jemenitischer Staatsbürger und späteres Mitglied der Terrororganisation al Qaida, die am 1. September 2001 die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York einstürzen lassen wird.
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Die erste einigermassen selbstständige Reise führt Felix im Herbst 1972 als Siebzehnjährigen für ein Wochenende nach Paris. Er hat diese Reise in einem Radiowettbewerb gewonnen, von «Schweiz Tourismus», wie die Institution später heissen wird, die aber 1972 noch den Namen «Schweizerischer Verband für Tourismus» oder so ähnlich trägt. Felix hat per Postkarte einen Slogan für das Reiseland Schweiz («Tausend Winkel, tausend Gesichter – eine Schweiz!») erfunden und ans Radio, das noch Radio Beromünster heisst, geschickt. (Wir fragen uns, was wohl die Jury bewogen haben mag, diesen Slogan als preiswürdig zu taxieren.) Obwohl der Trip nur gerade zwei Tage dauert, ist Felix wohl aufgeregter als vor jeder anderen Reise, die er später je antreten wird. Er hat damals zwar, der Mode entsprechend, mädchenhaft lange, blonde Haare, aber für diese Reise wirft Felix sich ganz altmodisch in Schale, dem Rat oder vielmehr der Anweisung seiner Mutter folgend, und trägt den strengen dunkelbraunen Konfirmandenanzug, so dass er mit Sicherheit auf den ersten Blick als die Landpomeranze identifiziert werden kann, die er ja damals auch ist, als das unschuldige Landei, das der Grossstadt in den Rachen geschmissen werden soll. Wir übertreiben natürlich, und wir übertreiben gern. Zwar gibt es schon auf der Hinfahrt im TEE, dem legendären Trans-Europ-Express, der den urhelvetischen Namen «Arbalète» (Armbrust) trägt, ein Techtelmechtel mit einem japanischen Touristen, der ihn eindeutig anmacht, indem er Felix weismachen will, er sei Soziologiestudent und schreibe eine Arbeit zum Thema «Homosexualität bei europäischen Jugendlichen», weshalb er den langhaarigen blonden Felix in seinem braven Konfirmandenanzug zu seinem (damals so gut wie nur in seiner allerdings sehr lebhaften Einbildungs- oder vielmehr Vorstellungskraft existierenden) Sexualleben und zu seinen sexuellen Fantasien ausfragen wolle oder vielmehr, als treuer Jünger der Wissenschaft, sich sogar dazu verpflichtet fühle, Felix in dieser Hinsicht auf den Zahn oder was auch immer zu fühlen. Eine nicht unoriginelle Anbaggermethode, wie wir zugeben müssen, aber Felix ist damals eindeutig noch nicht so weit, auf diese oder auch jede andere Art und Weise erfolgreich angebaggert zu werden. Er weiss zwar schon seit längerem ganz genau, dass er schwul ist, und er ist zu diesem Zeitpunkt auch sehr leidenschaftlich in einen heterosexuellen Schulkameraden verliebt, aber er ist auch fürchterlich gehemmt und verklemmt, so dass er den japanischen Kinsey zwar nicht gerade abblockt, denn irgendwie gefällt ihm die Situation natürlich schon, aber doch mit Ausflüchten mehr oder weniger auflaufen lässt, so dass dieser ihn auf dem Bahnhof in Paris unverrichteter Dinge ziehen lassen muss, zumal Felix vom Pariser Angestellten des Tourismusverbandes in Empfang genommen wird, einem Mann, der drei- oder viermal so alt wie Felix ist und der sich etwas überrascht über den Jüngling zeigt, der nun ein Wochenende lang sein Gast sein soll. Er weiss eindeutig nicht so genau, wie man einem Siebzehnjährigen die Stadt Paris zeigt. Aber er hat nun einmal diesen Job gefasst, und so führt er Felix unbeirrt von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit und erzählt ihm, was er von Paris weiss, und das ist eine ganze Menge. Auch erinnert sich Felix später, dass sein persönlicher Reiseführer ihn an einen Apéro der späteren Firma Pernot-Ricard schleppt, die – noch unfusioniert – entweder Pernod oder Ricard heisst, wo der Junge in seinem für Pariser Verhältnisse exotisch anmutenden Konfirmandenanzug von entzückten, geschminkten und natürlich französisch zwitschernden Damen umflattert wird, die diese vor lauter Verlegenheit weitgehend stumm bleibende Unschuld vom Land wohl charmant, aber sehr bald auch ziemlich langweilig finden. Das Abendprogramm bereitet dem Tourismusvertreter von Felix ebenfalls einiges Kopfzerbrechen, führt er etwas ältere Besucher in einem solchen Fall nach dem Abendessen doch immer ins Kabarett oder bei Bedarf auch in ein Puff. Schliesslich fragt er Felix etwas ratlos, was dieser selbst denn nun tun möchte, worauf unser junger Freund meint, er komme jetzt schon zurecht, er, der Reiseführer, sei sicher froh, endlich Feierabend zu haben, er, Felix, werde allein in sein Hotel zurückfinden. Der Tourismusmensch hat ihm ein paar hundert Franc in die Hand gedrückt, die im Wettbewerbspreis inbegriffen sind, und Felix hofft jetzt doch noch vage auf ein nächtliches Abenteuer der schwulen Art, aber da steht er nun mitten in dieser grossen Stadt und hat keine Ahnung, in welcher Richtung so ein Abenteuer zu finden sein könnte. Also läuft er einfach ein bisschen herum, nichts passiert, und schliesslich wird Felix müde und lässt sich von einem Taxi ins Hotel zurückbringen.

(Fortsetzung folgt)

Mittwoch, 24. Oktober 2007

Was ich mag und was nicht



Was ich mag: Aufbrechen, egal wohin. Menschen mit Herz. Reife, sonnenwarme Tomaten. Bäume. Wälder. Hüfthohes Gras. Wolkengebirge. Den Geruch von Schnee in der Luft. Kochen für Freunde, die Vorbereitungen, das Einkaufen. Den Üetliberg. Den tiefblauen Oktoberhimmel. Elefanten. Rockmusik. Den Mond. New York im Februar. Rotwein. Menschen mit Humor. Berge am Horizont im Gegenlicht. Gespräche über Gott und die Welt. Die meisten Romane von T.C. Boyle. Unterwegs sein. Gewitter nach einem heissen Sommertag, von einem sicheren Ort aus genossen. Vögel. Venedig im Dezember. Bücher von Franz Kafka, Haruki Murakami, Jeremias Gotthelf. Bali. Alte Gotthelfverfilmungen, Schaagi Streuli als Polizist Wäckerli, Alfred Rasser als HD Läppli. Margrit Rainer. Nachmittagsvorstellungen im fast leeren Kino. Marokko. Lampenfieber. Feuerwerk. Nach Hause kommen, egal woher.

Was ich nicht mag: Arroganz, vor allem, wenn sie mit Ignoranz gepaart ist. Löcherige Schuhe, nasse Füsse. Menschen ohne Herz. Bissige Hunde, Mücken. Gewitter im Hochgebirge oder auf freiem Feld. Militärischer Drill, Gruppenzwang. Menschenmassen, lange Schlangen, Anstehen für irgendwas. Stickige Hitze, Eingeschlossensein. Gewalttätige Menschen. Schmerz. Ohnmacht angesichts der Schmerzen anderer. Feigheit, vor allem meine eigene. Meine beiden linken Hände. Bockige Computer, überhaupt Geräte, die ihre Funktion verweigern. Meine Ungeduld angesichts solcher Geräte, überhaupt meine Ungeduld. Lampenfieber. Musikantenstadl-Musik.

Going Nowhere. Ein Reisejournal




Schreib dein Leben auf ein Stück Papier und warte/bis die Zeit vergeht
Spliff, Déja vu (1982)


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Berge der Heimat

Ich habe den Instinkt
aller Trinker: die Gier
nach mehr.
Nach Meeren des Vergessens und
Bergen erträumter Lust:
Dort angekommen, werde ich
still sein
(für einen Moment)



Für Philosophen und religiöse Denker, Dichterinnen und Filmemacher ist das Reisen, das Unterwegssein seit jeher ein Sinnbild für das Leben schlechthin gewesen. Der Weg, den wir zurücklegen zwischen Geburt und Tod, ist eine Reise durch die Zeit, eine Reise ins Unbekannte. Es gibt zwar Zwischenstationen – nennen wir sie Herbergen oder Gasthäuser, in denen wir für eine Weile einkehren und vielleicht sogar ein wenig heimisch werden können –, aber dieser Weg hat kein endgültiges, definitives, sicheres Ziel. Wir wissen nicht, woher wir kommen, und wir wissen nicht, wohin wir gehen. Gewiss, es gibt Erklärungsversuche, Theorien; es gibt Theologinnen und Gurus, Reinkarnationstherapeutinnen und Nahtodspezialisten, Leute, die uns ihre Vermutungen als Gewissheiten verkaufen wollen. Aber wir, die Autoren dieses Berichts, haben jedenfalls noch nie einen Menschen getroffen, der uns glaubwürdig aus eigener Erfahrung von dem grossen unbekannten Land hätte erzählen können, das vor dem Tor der Geburt oder hinter dem Tor des Todes liegt.
Das Leben ist und bleibt also eine abenteuerliche Reise ins Ungewisse, denn niemand – jedenfalls niemand, den wir kennen – kann in die Zukunft sehen (ausser natürlich Uriella, aber die täuscht sich manchmal auch, jedenfalls, was das Datum des Weltuntergangs angeht). Einen Blick in die Zukunft erhaschen – das tönt zwar verlockend. Aber wer möchte als Zwanzigjähriger denn schon wirklich wissen, wie er als Fünfundvierzigjähriger sein wird? Oder als Fünfzigjähriger, wie er als Achtzigjähriger denken und fühlen wird? Kennt er dann den Zwanzigjährigen überhaupt noch, der er einmal war?
Unser Leben gleicht der Reise oder ist eine Reise durch die Zeit. Ein Mathematiker würde diesen Trip vielleicht als eine vektorielle Reise bezeichnen, weil es nur in eine Richtung geht, nämlich vorwärts; auf jeden Fall erscheint uns das so, obwohl wir uns auch in diesem Punkt nicht ganz sicher sein können. Ein Stachel des Zweifels bleibt, ob die Abfolge von Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft eine zwangsläufige sei. Vielleicht handelt es sich dabei um eine Art Wahrnehmungsstörung, wie bei vielem, was wir für Realität halten, weil die Illusionsmaschine in unserem Kopf es als plausibel erscheinen lässt. Dass das Leben eine Reise sei, ist also nur ein Bild – lassen wir es dabei und fangen nicht schon am Anfang dieses Berichts damit an, Haare zu spalten.
Die so genannte Lebensreise ist allerdings eine Reise, die wir eher zu Fuss als mit dem Düsenjet unternehmen. Sicher gibt es manchmal Phasen der Beschleunigung, dann ist es auf dieser Wegstrecke eben eine Reise mit dem Düsenjet, aber meistens brauchen wir unsere Zeit, bis wir merken, welche Distanz wir zurückgelegt haben – bis aus den aufeinander folgenden, gewissermassen willkürlichen Momenten unseres Daseins so etwas wie eine Geschichte geworden ist.

Das Leben als Roadmovie zu begreifen, hat einen therapeutischen Aspekt, weil es bedeutet, sich immer wieder dem Fremden und Anderen auszuliefern, sich vom Unbekannten faszinieren zu lassen, das Ungewisse zu ertragen, nichts als selbstverständlich zu betrachten, Grenzen zu überschreiten, neuen Horizonten entgegenzugehen. Der bewusst Reisende hat das, was im Buddhismus «Anfängergeist» genannt wird, die unvoreingenommene Sichtweise eines Kindes, das der Welt noch ohne Vorurteile und fixe Vorstellungen begegnet. So wie das Kind im Märchen «Des Kaisers neue Kleider» als einziges auszusprechen wagt, was eigentlich alle sehen könnten, nämlich dass der Kaiser splitterfasernackt einherstolziert, so wird auch der neugierige Reisende versuchen, das, was ihm begegnet, als Staunender wahrzunehmen wie ein Kind, für das alle Dinge und Ereignisse neu und einmalig sind. Reisen – das ist vielleicht viel mehr eine Frage der inneren Haltung als der zurückgelegten Kilometer.