Mittwoch, 23. Dezember 2009

Wir befinden uns in einer Scheune im Nordosten unseres Landes,

in Amerika, im Hochsommer des Jahres, in dem der Präsident sich einem Amtsenthebungsgesuch gegenübersah, und bislang waren wir sowenig romanhaft wie die Kühe mythisch oder ausgestopft waren. Das Licht und die Hitze des Tages (dieser Segen), die gleichbleibende Geruhsamkeit des Lebens einer jeden Kuh, das dem Leben der anderen Kühe entsprach, der verliebte alte Mann, der die geschmeidigen Bewegungen dieser tüchtigen, energischen Frau verfolgte, die Verklärung, der er sich hingab, der Eindruck, als hätte er nie etwas Ergreifenderes erlebt, und auch mein eigenes bereitwilliges Warten, meine eigene Faszination angesichts der Vielfalt, der Variantionsbreite, der anarchischen Ungeregeltheit sexueller Verbindungen und angesichts des Gebots an Mensch und Vieh, an hochdifferenzierte ebenso wie an kaum differenzierte Lebensformen, zu leben und das Leben nicht bloss zu ertragen, sondern es zu l e b e n und seine sinnlose Bedeutsamkeit fortwährend hinzunehmen, weiterzugeben, zu füttern, zu melken und aus vollem Herzen als das Rätsel anzuerkennen, das es ist - all dies wurde von zehntausend winzigen Eindrücken als Teil der Wirklihkeit bestätigt. Die sinnliche Fülle, der Überfluss, die reichliche, überreichliche Vielfalt der Einzelheiten, die die Rhapsodie des Lebens ausmachen.
Philip Roth, in: Der menschliche Makel. Hanser 2002.

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