Mittwoch, 20. April 2011

Ein Tag wie jeder andere (6)

Oesch setzte sich an den Schreibtisch und folgte dem Auf und Ab der Stimmen im Nebenzimmer. Eigenartigerweise konnte er in der Unterhaltung keinen Inhalt erkennen, obwohl die Stimmen gut vernehmbar war und die Frauen, die den Stimmen nach wie gesagt eher keine jungen Frauen mehr waren, in einem klar identifizierbaren, schon fast übertrieben wirkenden Zürcher Dialekt sprachen, schnell und aufgeregt, mit aufgeblähten Vokalen. Oesch konnte also nur der Melodie und nicht dem Sinn des Gesprochenen folgen, und während er so dasass und lauschte, ergriff ihn eine Art Lähmung, eine Schwere der Glieder, die ihn in den Boden hinein zu ziehen versuchte. Ja, er fühlte sich irgendwie aufgesogen, eingeschlürft; seine Augenlider drohten zuzufallen. Währendem wurden die Stimmen im Nebenzimmer immer aufgeregter, lauter und aggressiver, bis sie sich schliesslich in einem Schrei entluden, auf den ein lautes Rumpeln folgte, ein Geräusch, das mit dem Umfallen von Gegenständen, Möbelstücken zum Beispiel, einherzugehen pflegte. Unvermittelt war es ruhig, man hörte nur entfernt ein Tram quietschen. Oesch war erstarrt, unfähig, sich zu bewegen. Dann öffnete sich die Tür, und eine beleibte ältere Dame mit ausladendem Busen stürmte mit hochrotem Kopf an Oesch vorbei und aus dem Raum heraus, gefolgt von einer noch älteren Dame mit grauem schütterem Haar, die jammerte und die Hände rang. Nun erwachte Oesch aus seiner Erstarrtheit und erhob sich vom Pult, um einen Blick in den Nebenraum zu werfen. Dieser erwies sich als das chaotischste Büro, das Oesch je gesehen hatte, so chaotisch, wie er es sich bisher gar nicht hatte vorstellen können. Eine weitere Dame, auch nicht mehr jung, aber mit hoch aufdupiertem blondem Haar, lag mit dem Gesicht auf der Schreibmaschine, tat keinen Wank und wirkte ziemlich tot. Neben ihr qualmte eine Zigarette im Aschenbecher, auf den vier zusammenschobenen Pulten, die den Raum beherrschten und kaum Raum liessen zu stehen, zu sitzen und zu gehen, lagen vergilbte Papiere, alte Zeitschriften und Zeitungen, vertrocknete und angeschimmelte Nahrungsreste, Stofffetzen, Kleiderbügel, Kugelschreiber, Stempelkissen, riesige Scheren, riesige Aktenlocher, zerfetzte alte Bücher, Bleistifte, mit Schreibmaschine beschriebene Karteikarten, Nastücher, Schminkutensilien, aber auch Gegenstände, die für Oesch nicht identifizierbar war, dazu hing über allem ein Geruch aus Zigarettenrauch, Moder und längstverdautem Essen. Oesch war völlig desorientiert; dann geriet er in Panik. Er verliess das Büro, so rasch er konnte. Auf den Korridoren des verwinkelten Hauses, in denen er sich bald nicht mehr auskannte, begegnete er anderen Mitarbeitenden des Hilfswerk, älteren und jüngeren, weiblichen und männlichen, die ihm alle nicht sehr bekannt vorkamen und die ihn auch gar nicht beachteten. In wachsender Panik ging er treppauf treppab und durch die düsteren Korridore, Ewigkeiten, wie ihm schien, als er sich plötzlich vor einer Tür befand, auf der sich ein Schild mit der Aufschrift „Direktor“ befand.