Mittwoch, 29. April 2009

Gestirne, die auf Reisen gehen




Herr Sonne und Frau Mond standen an der Reeling des Luxusdampfers «Intergalaktika II» und staunten in die unergründlichen Weiten des Alls. Sie befanden sich auf einer Kreuzfahrt im Andromeda-Nebelmeer. «Ist es nicht herrlich, einmal in fremde Gegenden zu reisen?» rief Frau Mond in schwärmerischem Tone aus. «Ich bin es gewohnt zu reisen! Ich fahre jedes Jahr mindestens einmal ins Ausland», erwiderte stolz Herr Sonne und warf sich in die Brust.

Auf der Erde war es indessen wie in einer finsteren ewig währenden Nacht. Und auch das sanfte Licht des Mondes tröstete die Menschen nicht, die sich in Verzweiflung wanden oder dumpf und traurig vor sich hindösten. Nur die Mystiker verloren ihren Mut auch dann nicht, wenn sie zwischen baumstammdicken Eiszapfen dem nächsten Loch entgegenhasteten. Anfangs waren die Städte noch hell erleuchtet, aber nach und nach erlosch ein Licht nach dem andern. Schliesslich war die Erde in dichtes Dunkel gehüllt, und niemand achtete sich ihrer mehr.

Was beweist, dass, wenn Gestirne auf Reisen gehen, Welten verwehn.

Dienstag, 28. April 2009

Den Computer aus dem Fenster werfen

Durchlässigkeit ist der beste Schutz. Das gilt auch für Ideologien. Und wir können alle nicht anders, soweit ich es sehe und natürlich auch, soweit es mich betrifft, als in Ideologien denken. Die Köpfe der Menschen sind voll von Ideologien – einfach deshalb, weil sie Köpfe von Menschen sind und es so im «Schöpfungsplan» vorgesehen ist. Selbst die, welche behaupten, keine Ideologie zu haben, haben eine, zumindest die, dass sie keine haben. Da ist also keine Freiheit. Und doch gibt es eine Freiheit, nämlich die, wie man mit den Ideologien im Kopf umgehen will. Es gibt da den harten und den weniger harten Weg. Wobei auch dieser Unterschied zwischen den beiden postulierten Wegen ein ideologischer ist. Aber wenn man so weit gehen und diesen Umstand berücksichtigen will, kann man den Labtop gleich aus dem Fenster werfen. Ja warum eigentlich nicht?
Und es ist auch keine Freiheit, ob man den einen oder den anderen Weg wählt. Ich vermute, dass sowohl der eine wie der andere Weg unausweichlich ist, wenn man ihn geht – das heisst, dass man ihn gehen muss.
Aber auch dieses Geschwätz ist Ideolologie (also doch lieber den Labtop aus dem Fenster werfen, auch wenn sich das nicht ziemt und weil er irgendwelchen Leuten auf den Kopf fallen könnte)?
Auch Scheisse.
Der eine Weg, von dem ich euch erzählen wollte, ist der Weg des Glaubens. Ein verlockender Weg, auf den ersten Blick. Er führt ins Paradies. Schnurstraks. Es führen jedoch viele Wege nach Rom, sagt das Sprichwort; und es führen auch viele Wege ins Paradies. Da gibt es nicht nur die Religionen, die orthodoxen und die andern, die exo- und esoterischen, die liberalen und die fundamentalistischen, sondern auch Philosophien und Weltanschauungen, tiefsinnige und primitive, politische Überzeugungen, rechte und linke, und was der Teufel noch, den Glauben an die rationale Wissenschaft und die Chügelimedizin und die Astrologie...
Der Weg des Glaubens ist ein verlockender deshalb, weil es der Weg der Unschuld ist, oder vielmehr der verlorenen oder zu verlierenden Unschuld, ein Weg, der uns im Zustand von Vierjährigen verharren lässt, von Vierjährigen, die ein Mammi und einen Pappi brauchen und von denen man erwartet, dass einem nichts Böses zustossen wird. Ich glaube, was ich höre, sagen wir, oder ich glaube, was glaube. Ich denke, also bin ich. Oder ich glaube an die Macht des Geldes. Oder ich glaube an die Macht der Macht. Oder eben an die Macht Gottes. Oder ich glaube gar nichts mehr, ich glaube an den verlorenen Glauben.
Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen?
Wir sind darauf angewiesen, zu glauben. An den Glauben zu glauben.

Der andere Weg ist der Weg des Zweifels. Auch auf dem Weg des Zweifels kommt man ohne Glauben nicht aus. Auf der Ebene des Denkens bleibt uns der Glaube natürlich erhalten, denn ohne Glauben funktioniert das Denken nicht. Ohne den Glauben funktioniert die Sprache nicht. Ich bin darauf angewiesen, zu glauben, dass ich einen Baum sehe, wenn ich sage, dass ich einen Baum sehe. Eigentlich müsste der Spruch so gehen: Ich denke, also glaube ich. Aber Descartes ging wohl eher den Weg des Glaubens und nicht den Weg des Zweifels.
Wer den Weg des Zweifels geht, glaubt nicht an den Glauben – das ist der Unterschied. Sein zustand ist die permanente Unsicherheit, und aus der Unsicherheit heraus lassen sich grosse Werke nicht vollbringen. Deshalb gibt es in der Geschichte wenige Zeugnisse für Menschen, die den Weg des Zweifels gingen.
Und der Weg des Zweifels ist eine Einbahnstrasse, auf der man weiss Gott wohin kommt, aber sicher nicht zurück auf den Weg des Glaubens. Der Zweifel ist für den Glauben ein zu bröckeliges Fundament.
Und kein Mammi und kein Pappi nehmen dich an der Hand und führen dich auf den rechten Weg, denn Gott ist tot.
Der Weg des Zweifels ist eigentlich gar kein Weg, denn er führt nirgendwo hin, sondern aus allem heraus.

Man kann den Glauben aber wohl für eine Zeit verlassen, um ihn dann durch die Hintertür wieder zu betreten. Das haben die grossen Erneuerer getan, in der Wissenschaft und in der Politik, die Revolutionäre und Umstürzler.
Im besten Fall fingen sie an, an ihre Entdeckung oder an ihr Werk zu glauben. Im schlimmsten Fall fingen sie an, an sich selbst zu glauben, oder vielmehr an das Bild, dass sie sich von sich machten. Und viele andere fingen an, an sie zu glauben, oder vielmehr an das Bild, das sie sich von ihnen machten.

Ich werde den Computer früher oder später tatsächlich aus dem Fenster werfen.

Donnerstag, 23. April 2009

Der junge Felix



Nachdem Felix die Kneipe verlassen hatte – aber welche Kneipe? Ein kleine Beiz in der kleinen Stadt in der grossen weiten Welt. Wenigstens eines soll gross sein, wenn schon sonst alles so klein ist auf dieser grossen Welt: der Rausch. Der Grössenwahn. Ja, es gibt nichts Schöneres auf dieser beschissenen Welt als einen kräftigen, gut gewachsenen Grössenwahn. Aber was soll man damit anfangen, so ganz allein? Felix beschloss, weiterhin die Nähe von Menschen zu suchen. Es war kalt in den Gassen, die Bise war schneidend, die Nässe am Boden gefroren. Also musste man in die nächste Kneipe hinein. Aber in der Kneipe war es nicht gut, an diesem Dezemberabend Ende der Siebzigerjahre, man trank Bier, redete über belangloses Zeug. Felix trank Bier und hörte missmutig zu. Er musste mehr Bier trinken, um sich nicht unbehaglich zu fühlen. Er rutschte auf der Bank aus imitiertem Leder hin und her, zündete eine Zigarette an. Die Kellner huschten schwarz und weiss an ihm vorbei. Felix hielt sein leeres Bierglas in die Höhe. Nein, das Leben war nüchtern nicht zu ertragen. Er sah all diese Heteropärchen sich gegenüber sitzen. Dieses Plastikvolk, die Frauen geschminkt, die Männer mit schmalen Schnäuzen, mit einem ersten Ansatz von Bauch und Aussicht auf ein bisschen Karriere. Felix war gereizt – überheblich und gereizt. Es war noch zu früh. Er war noch zu nüchtern. Und schon viel zu müde, um noch weiter in der kleinen Stadt herumzustreichen. Es gab ja nicht mehr viel zu finden für die Sehnsucht in dieser kleinen Stadt. Die Kälte hatte die Menschen aus den Gassen verscheucht. Es schneite jetzt auch. Felix stand vor einer Kneipe auf einer Strasse, er fühlte die erweckende Kälte an seinen Händen und im Gesicht. Er hatte plötzlich Sehnsucht nach dem Wald. Er winkte ein Taxi heran. «Zum Bremgartenwald!» meinte er. «Zum Bremgartenwald?» meinte der Taxifahrer und lachte. Felix sass nur im weichen Polster. Es roch im Innern des Wagens nach kaltem Zigarettenrauch, nach Leder und ganz leicht nach Parfum. «Was willst du denn im Bremgartenwald?» fragte der Taxifahrer, während er durch die kalten Strassen der Stadt fuhr. Felix wusste es nicht. «Ich weiss es nicht.» Der Wagen hielt. «Da, der Wald», sagte der Taxifahrer. Felix hätte ihn umarmen können. Er nahm eine Note aus dem Portemaonnaie. «Das wird reichen.» Felix trat in den Wald. Zwischen den Bäumen leuchtete Schnee. Er war relativ hell. Geräusche waren nur von der nahen Autobahn zu hören. Felix erwartete sich viel von der Nacht im menschenleeren Wald. Aber es ereignete sich gar nichts. Es knirschte bloss der Schnee unter den Stiefeln. Es war bloss beissend kalt; die beissende Kälte war ernüchternd. Wenn nicht Wolken zwischen Felix und dem grossen Himmel gestanden hätten, Felix hätte die peitschenden Strahlen des Vollmonds gesehen. Felix wurde sich des Gefühls wieder bewusst, von dem er ausgegangen war: die Eifersucht, welche umhüllt von grenzenloser Verlassenheit, Verlorenheit, Sinnlosigkeit. Was war schon das bisschen Wärme, das es gab, glühend im Innern der Erde und im Innern des Herzens? Nichts! Die gnadenlose Unendlichkeit des Universums konnte es forthauchen mit seinem kalten, unbarmherzigen Atem, wie nichts. Der schöne, der warme, der samthäutige Freund lag inzwischen in den Armen eines andern, den ebenfalls die süssen Träume scheinbar voran, aber in Wirklichkeit im Kreis herum trieben. Die Liebe ist ein Phantom, ein Gespenst, dachte Felix und stapfte durch den durchaus realen Schnee. Felix begann nun gar zu rennen. Der Atem brannte in den Lungen. Ach ja, dies war der Fitnesspfand, hier könnte man jetzt Klimmzüge machen. Felix machte Klimmzüge, wenn auch halbherzige, einen, zwei, fünf, sank dann erschöpft in den Schnee, krallte sich mit der nackten Haut seiner Hände in den nackten Schnee, schrie. Er schrie einen Namen, verstummte. Blieb einfach liegen. Wollte einfach liegen bleiben, vielmehr. Aber dann kroch ihm die Kälte gegen das Herz, die reale, nicht die metaphorische, an sein metaphorisch gebrochenes Herz. Obwohl er auch müde war, plötzlich, sehr müde sogar. Aber eine überaus vernünftige Stimme in seinem Kopf trieb ihm diese Flausen aus. Du stirbst noch früh genug, Arschloch, sagte die vernünftige Stimme, das willst du doch gar nicht, sterben, und schon gar nicht aus Liebeskummer wie irgendein hirnloser Idiot. Wer weiss, was mit dir ist, wenn dein Mund nicht mehr schmeckt, wenn keine Chemie mehr deine Empfindungen regiert. Süchtig, süchtig macht das Leben im Körper. Die Körper, die köstlichen, die tierischen Sinne, der Hunger und der Durst. Weh dir, wenn du das alles nicht mehr hast, nicht mehr. Vielleicht nie mehr. Nicht mehr bist: DU. Ich ichichich Ich. ICH. Nein, das denn doch nicht, noch nicht. Sucht, du liebe Sucht, ich liebe dich, ich will nicht von dir lassen, ich bin süchtig nach dir. Du liebe Versklaverin, du süsse Geissel. Ich habe dich bestimmt verloren, du übermässiges, massloses Sinnbild meiner masslosen Begierde, aber ich finde einen neuen Geruch, ein neues Stück Fleisch, in das ich meine Raubtierzähne schlagen kann. Eine neue, weiche, duftende Haut. Nicht einmal erfüllt sich meiner Süchte Sinn. Tausendmal, millionenfach!
Und Felix rappelt sich auf. Taumelnd und etwas benommen bewegt er sich vorwärts. Unter seinen Stiefeln knirscht der Schnee. In der Ferne hört man den Lärm auf der Autobahn. Ferne, in der Ferne statt Schnee flimmerndes Licht. Wüste, die Sahara, Belutschistan, Gobi. Felix steht auf der kleinen Brücke für die Fussgänger, die Spazierer und Sportler, die über die Autobahn führt, und schaut runter auf die schneefreien Fahrbahnen, über welche vereinzelt, denn es ist spät, aber hörbar die glänzenden glitzernden Automobile gleiten. Ja, die Automobile, die glitzernden Maschinen! Felix lacht, er wirft gefrorene Schneebrocken nach den zu schnellen Automobilen. Ein Taxi! ruft er grossartig und in die Nacht, welche ohne Antowrt. Der König will ein Taxi!
Dann wird er wieder müde. Heim will er aber noch nicht. Es ist zu früh, viel zu früh, um nach Hause. Ins Bett, das dem gestrigen gleicht. Und leer. So leer. SO LEER. Nein nein, ich geh nicht ins Bett, wenn es so leer, denkt Felix. Ich kann warten. Bis morgen, bis es Morgen wird. Der Morgen kommt im Winter allerdings spät aus seinem Bett gekrochen. Wie spät ist es? Drei. Der Mensch und der Schweizer schlafen. Aber noch Autos. Da unten. Kein Taxi, allerdings kein Taxi. Taxis sind rar auf der Autobahn (des nachts, um drei) und die Handys noch nicht erfunden.
Felix müde Beine bewegen sich wieder. Jetzt. Und jetzt. Denkt er. Du hast dich rasiert heute, mit Parfum eingesprüht. Allerdings nicht für mich. Verdammt.
Der Wald und der Schnee sind zu Ende. Häuser, Strassen, diffuses Licht. Aber keine Menschen auf der Strasse, in den Häusern wohl, doch träumend. Wovon? Egal, egal, was geht’s uns an. Fieber, Müdigkeit, aber kein Schlaf im Hirn, ewig könnt er so weiterwandern mit seinen schmerzenden Gliedern in die kleine, doch weitläufige Stadt. Drei Uhr fünfzig. Drei Uhr zweiundfünfzig.
Das Hirn ist wach.
Um vier Uhr zwanzig ist Felix beim Bahnhof. Das Bahnhofbuffet hat schon offen, gnädig ist es allen übernächtigten Gestalten, verzweifelten und unverzweifelten. Wohltuend gleichgültig nimmt es alle in sich auf. Felix holt sich einen Kaffee und einen grossen Bäzi. Seine Haut zieht sich zusammen und dehnt sich aus. Der König, denkt er, mischt sich unerkannt unters Volk. Das Volk hat rote Augen. Es spricht wenig oder lallend in den noch nicht geborenen, gewissermassen noch fötalen oder pränatalen Tag hinein. Felix bläst Rauchringe, er spricht halblaut zu sich selbst, hier darf man das, noch darf man in Bahnhofbuffets rauchen, denn es sind erst die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts, und halblauf zu sich sprechen darf man sowieso, fällt nicht auf hier. Ich mich vergiften jetzt, stammelt er leise vor sich hin. Zigarette, noch ein Kaffe hier, Schnaps, Wein und bier, dann noch ein Bier. Felix fiebert, lässt, da schwach geworden, ein halbvolles Glas auf den Betonboden fallen.
Der König zieht sich jetzt zurück, verkündet er mehr zu sich selbst, und verlässt das Bahnhofbuffet rasch. Die Begierde ist inzwischen klein geworden, auch die Eifersucht, die Liebe, der Hass.
Heute werde ich nicht zur Arbeit gehen, denkt Felix, während er sich um fünf Uhr vierzig in den Kleidern auf sein Bett legt, vorsichtig, als wäre er ein rohes Ei.

Montag, 20. April 2009

Bahnhöfe



Bahnhöfe

Bahnhöfe sind von besonderem Reiz:
Punkte eines Netzes, das sich über die Erde legt.
Schauplätze flüchtiger Begegnungen,
Orte des Kommen und Gehns.
Ich liebe Bahnhöfe. Sie sind
Stationen der Sehnsucht, sind Überall und Nirgendwo.

Ich bin in Bahnhöfen aufgewachsen,
Kleinen nur, unbedeutenden ohne klingende Namen,
Doch verbunden mit aller Welt.
Am gleissenden Schienenstrang entlang
Hangelte sich meine Fantasie: bis Istanbul
Und weiter, ins Morgenland und darüber hinaus.

Bahnhöfe sind auch traurige Orte.
Bahnhöfe sind die Heimat der Heimatlosen.
Bahnhöfe sind unsichere Zufluchtsorte
Für jene Angekommenen, die niemand willkommen heisst.
In Bahnhöfen riecht es nach Angst und Bier,
Nach Eisen, Erbrochenem und Parfum.

Unter dem Bahnhof ist auch die Heimat jener Jünglinge,
Deren Hunger im Herzen sitzt. Der ist stärker
Als der Ekel in den Augenwinkeln und um den Mund,
Den sie sich nicht küssen lassen, den nicht.
Auch die Freier sind hungrig, unbestimmt
Ist ihre lauernde Sehnsucht. Und keiner weiss,
Wer hier Jäger ist, wer Wild.

Lautsprecherstimmen verkünden Uster, Winterthur,
Paris, München und Rom. Müde Heimkehr,
Hoffnung auf Abenteuer am Ende der Nacht.
Kofferschleppen und Hast. Eile und Langeweile.
Ein Film, der nie zuende ist. Nur etwas langsamer läuft
Zwischen Mitternacht und halb vier.

Vorsatz

Ich werde Asche fressen,
Kreide fressen, Staub fressen,
Scheisse fressen, wenn es sein muss -

und ich werde versuchen, meine Leere nicht zu füllen
und meine Begierden zu ertragen.

Samstag, 18. April 2009

Gefangen




Als Max zum ersten Mal merkte, dass er gefangen ist, war es schon zu spät. Genau in diesem Moment hat sich das Netz über ihn gelegt. Das Netz? Die Inder nennen es Maya, Illusion. Oder Wirklichkeit, er weiss nicht mehr genau. Wahrscheinlich gibt es keine gute Übersetzung für dieses Wort in unserem Denken. Wirklichkeit, Illusion: für die Inder ist es dassselbe. Kaum vorstellbar für uns. Für Max allerdings schon. Für ihn ist es das Netz einer Göttin, die ihn gefangen hält. Einer Sklavenmeisterin im schwarz glänzenden Lederzeugs und mit der Peitsche in der Hand. Natürlich, es ist die Mutter, seine Mutter, Kali, die Schwarze, Schreckliche, die Gebärende. Seine Mutter, die ihn geboren hat und die er dafür hasst. Wer würde seine Mutter nicht dafür hassen, dass er sie geboren hat?

Doch dieser Hass ist nutzlos. Wer würde den Sturm dafür hassen, dass er die Bäume fällt? Wer würde den Vulkan dafür hassen, dass er die Umgebung mit heisser Lava versengt? Die Geburt ist ein Naturereignis. Unvermeidlich. Unvermeidlich, dass das Leben den Tod gebiert, die Lust und das Leid, und dieses mehr als jenes. Genau in jenem Moment, als Max merkte, dass das Netz über ihn fiel und es für jede Rückkehr zu spät war, wusste er im Grunde auch, dass es gar nicht anders sein kann. Denn von allen denkbaren Möglichkeiten wird jede wahr. Er ist nicht mehr als eine Möglichkeit, die gedacht wurde und deshalb wahr werden musste, nicht mehr und nicht weniger. Auch wahr ist aber, dass der Zustand des Gefangenseins kein kontinuierlicher ist, also eigentlich gar kein Zustand, sondern eher ein Prozess. Das Netz verändert seine Struktur ständig. Das ändert aber nichts an seiner immer enger werdenden Gefangenschaft.

So hat sie denn auch ihn, Max, gezwungen, ein Teil der Gebärmaschine zu werden und den Tod mit in die Welt zu setzen. Der Mann ist nur eine logische Folge des Weibes, denkt Max. Eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, denkt Max.

Als Max zum ersten Mal merkte, dass er ein Gefangener ist, wurde er sich seines Atems bewusst. Er war damals noch in den Körper eines kleinen Knaben geknechtet. Plötzlich kam ihm seine Umgebung sehr fremd vor. Die Umgebung des Dorfes, die Wiesen, die Wälder, die Häuser, die ganze vertraute Umgebung schien ihm wie auf dünnen Stoff gemalt. Die anderen Kinder wurden zu Gliederpuppen. Die friedlichen Töne in der Luft stumpf. Er war sich des dünnen Fadens seines Atems bewusst, an dem sein Leben hängt. In diesem Moment verlor er für immer die Fähigkeit, in Frieden und Selbstverständlichkeit zu atmen. Das Leben wurde zur Anstrengung. Das Netz zog sich über ihm zusammen.

Trotzdem ist sich Max nicht sicher, ob er sich, danach gefragt, dagegen gewehrt hätte, geboren zu werden. Und sei es auch nur, um der grenzenlosen Langeweile des Nichtexistierens zu entgehen.

Wobei er im Fall seiner Nichtexistenz von dieser grenzenlosen Langeweile ja gar nichts mitbekommen hätte. Und man ihn auch nicht danach (ob er geboren werden solle oder nicht) hätte fragen können. Hat man ihn auch nicht. Doch nun ist er da. Und wird wohl noch eine Weile bleiben. Basta!

Freitag, 17. April 2009

Der Choleriker im Wald




Es war einmal ein böser Mensch, der verirrte sich in einem Wald und wusste nicht mehr, wo er war. Es war kalt, Spätherbst womöglich, Nebel hing zwischen dicht stehenden Tannen, der böse Mensch, der kurzsichtig war, hatte zudem seine Kontaktlinsen verloren, sie sich aus den Augen gerissen vor blinder Wut, und sein Blick war nun milchig getrübt. Unmöglich, die Kontaktlinsen unter diesen miesen, hundsgemeinen Umständen wieder zu finden. So schrie der böse Mensch und unflätige Wüterich denn halt herum und tanzte von einem Bein aufs andere wie ein von einer Biene gestochener Bär.

Die Kontaktlinsen aber lagen im feuchten Gras und freuten sich (auf ihre Art, die Menschenart nicht ist).

Mittwoch, 8. April 2009

Globalisierung, anders

Die Fragen, die ich mir stelle,
stellen wir uns alle.
Die Antworten, die ich finde,
sind nicht falscher als die Antworten
meiner Brüder und Schwestern,
aber auch nicht richtiger.
Die Wahrheit ist mit Logik nicht zu fassen,
allenfalls zu umkreisen, zu umgarnen,
ich muss mich mit dem Irrtum versöhnen,
dem Absurden, der Widersprüchlichkeit
und damit glücklich werden
und unglücklich werden
wie ein Kind.
Die Wahrheit muss man aushalten können,
begreifen kann man sie nicht.

Wir, die wir einander begegnen,
in der Nähe und in der Ferne,
wir, die wir ganz anders sind und uns doch so ähnlich,
wir können uns Gutes tun,
wenn wir weniger auf unserer Wahrheit beharren
als auf die Liebe zu bauen,
die die Begegnung in uns freisetzen kann.