Freitag, 28. März 2008

Das angenehme Schweinchen



Das kalte Neonlicht fiel von oben auf seine an die Wand gelehnte Gestalt. Sein Morgengesicht erschien dadurch noch blasser. Er stand ganz ruhig, was einen eigenartigen Gegensatz zum Hin und Her all der andern Leute bildete: Rush hour. Auch ich befand mich im Strom, der, von seiner Perspektive aus, an ihm vorbeizog. Deshalb bekam ich von seinem Gesicht auch nur einen ganz kurzen, beinahe fotografischen Eindruck. Ich weiss nicht, warum mir dabei einfiel: er hat ein Schweinchengesicht, das Gesicht eines angenehmen Schweinchens. Ich führte diesen Gedanken, der jetzt eine fast ebenso flüchtige Erinnerung ist, nicht weiter, es war eigentlich auch eher ein Gefühl als ein Gedanke, ein Hauch oder ein Geruch, ja, vielleicht am ehesten: ein Anflug von Stallgeruch, mit allem, was damit verbunden ist. Dankbarkeit der Augen für ein bisschen Nestwärme, um acht Uhr früh, auf der Treppe, die in den Untergrund des Bahnhofs führt.

Donnerstag, 27. März 2008

Ohne jeden Zusammenhang,



ohne jede Vorgeschichte und Perspektive treibt der Traum auf dem Meer der Wahrscheinlichkeiten dahin wie ein Stück Holz, das vielleicht einmal zu einem Kahn gehört hat, einem Fischerboot oder einem alten Küstendampfer, bevor der Sturm gekommen und an Bord die Panik ausgebrochen ist, die Angst, und dann das Vergessen begonnen hat.

Die sensible Tomate



Es war einmal eine Tomate, die war sehr sensibel und schüchtern, sodass sie sicher errötet wäre, wenn ihr jemand ein Kompliment gemacht hätte und wenn sie überhaupt noch hätte röter werden können als sie es schon war. Es war nämlich eine schöne, saftige, sonnengereifte Tomate. Natürlich gab es genügend brutale Menschen, die nur zu gerne in sie hineingebissen hätten. Aber die Tomate, die zwar sensibel war, jedoch nicht im mindesten masochistisch veranlagt, hatte einen gesunden Überlebenstrieb. So rollte sie, nach einer glücklich verlebten Jugend an der Mutterpflanze auf dem Gemüsestand eines italienischen Bauern gelandet, tollkühn einfach davon. Sie rollte mit dem unverschämten Glück der Naiven quer durch den Moloch der Stadt Florenz, in deren Kinos perfiderweise soeben der neueste Hollywoodstreifen mit dem Titel “Angriff der Killertomaten” gezeigt wurde, rollte also davon, ohne von Autos zerquetscht, von Füssen zertrampelt, von Polizisten eingefangen und gescheibelt als Beilage zu einem Frühstückssandwich exekutiert zu werden. Sie rollte davon und raus aus der Stadt in die friedlichen Felder der Toscana hinein.

Es war ein überaus sonniger, heisser Tag. Unsere sensible Tomate wurde müde und wollte ein kleines Schläfchen machen.

Man ahnt schon, wie die Geschichte endet. Matschig und faulig werdend, überlebt die Tomate die Siesta im trockenen Staub wohl kaum.

Was beweist, dass das Leben der Tomaten so oder so kurz und tragisch ist.

Dienstag, 25. März 2008

Keep Talking (we're going nowhere)

For millions of years mankind lived just like animals
Then something happened which unleashed the power of our imagination
We learned to talk

There's a silence surroundiing me
I can't seem to think straight
I'll sit in the corner
No one can bother me
I think I should speak now (why won't you talk to me)
I can't seem to speak now (you never talk to me)
My words won't come out right (what are you thinking)
I feel like I'm drowning (What are you feeling)
I'm feeling weak now (why won't you talk to me)
But I can't show my weakness (you never talk to me)
I sometimes wonder (what are you thinking)
Where do we go from here (what are you feeling)

It doesn't have to be like this
All we need to do is make sure we keep talking

Why won't you talk to me (I feel like I'm drowning)
You never talk to me (you know I can't breathe now)
What are you thinking (we're going nowhere)
What are you feeling (we're going nowhere)
Why won't you talk to me
You never talk to me
What are you thinking
Where do we go from here

It doesn't have to be like this
All we need to do is make sure we keep talking

Pink Floyd, Keep Talking

Samstag, 22. März 2008

Nachtgedanken



Erlauben Sie mir ein paar Gedanken zur Liebe. Obwohl ich diesem vielseitigen, schillernden Phänomen, je älter ich werde und je mehr Facetten dieses Phänomens ich begegnet bin, immer sprachloser gegenüberstehe. Ich werde auch immer wieder von Aspekten der Liebe überrascht, die ich noch nicht kannte und nicht für möglich hielt. Die Liebe ist wie ein Aal, man will sie mit Worten packen, doch sie entwindet sich. Die Liebe wurde schon mit so vielen Begriffen umschrieben, man versuchte sie zu katalogisieren, indem man Agape von Eros und geschlechtliche Liebe zum Beispiel von Freundesliebe oder Mutterliebe oder gar Vaterlandsliebe unterschied, aber das alles trifft meines Erachtens den Kern der Sache nicht. Was könnte der Kern der Sache denn sein? Vielleicht die Bedingungslosigkeit. Ja, wahre Liebe ist immer bedingungslos, sie lässt sich nicht erkaufen, sie lässt sich nicht erzwingen, sie lässt sich nicht erbetteln und sie lässt sich nicht verdienen. Liebe ist immer ein Geschenk, sie ist der Kontrapunkt zum Warencharakter, der menschlichen Beziehungen normalerweise anhaftet, sei es nun im Geschäftsleben oder auch in einer Ehe (wobei das ja nicht zwingend heissen muss, dass Liebe in der Ehe nicht vorkommen und sich nicht sogar im Geschäftsleben ereignen kann), aber Liebe ist eben gerade nicht das "do, ut des", ich gebe, damit du mir gibst. Liebe ist das Grosszügigste, was es gibt auf dieser Welt, ohne Liebe wäre diese Erde wahrlich ein trüber, trostloser und einsamer Ort. Obwohl es Gott nicht gibt, behaupte ich doch, dass die Liebe das grösste Geschenk Gottes an den Menschen ist, sie ist das Fünklein, das in unseren Seelen entzündet wurde. In der Liebe ist Geben seliger denn Nehmen, oder vielmehr: nur, wer liebt, kann auch die Erfahrung des Geliebtwerdens machen, hier wird auf einer Frequenz gesendet und empfangen.
Ach, vergessen Sie es. Das Phänomen der Liebe entwindet sich auch meinen Worten wie ein Aal.

Freitag, 21. März 2008

Der einsame Buchstabe



Es war einmal ein einsamer Buchstabe, der in den Zeiten von Napoleons Russlandfeldzug in den kargen Weiten sibirischer Steppen einfach vergessen wurde und seither in der unzivilisierten Natur des Nordens herumirrt. Es war ein französischer Buchstabe, wohlgesprochen, ein Buchstabe, der in den Wörtern der feinsten Pariser Salons verkehrt hatte, und das schon vor der Revolution. Er war durch die süsse Kehle der Marie Antoinette gegangen, in einem Rokokoschlösschen. Molière hatte ihn auf die Bühne gebracht, der Papst ihn urbi et orbi unter die christliche Menschheit verbreitet. Und jetzt? So allein, so allein! Seit Jahrzehnten, Jahrhunderten allein. Nur einmal hatte er sich in den Mund eines besoffenen russischen Bauern verirrt, der ihn aber alsogleich mit einem wüsten Fluch wieder in die Verbannung hinausbefördert hatte.

Was beweist, dass manchen einsamen Buchstaben nichts weiter fehlt als ein gutes Wort.

Ein wahres Wort von einer weisen Frau

"Musik - die Kunst überhaupt -, Natur und Liebe - das ist meine Religion."
Aliza Sommer-Herz, 105 Jahre alt, Pianistin, Weltbürgerin, geboren 1903 in Prag, heute in London lebend.

Montag, 17. März 2008

1988



Die UdSSR unterzeichnet in Genf den Rückzugsvertrag aus Afghanistan. Das Ende des Kommunismus beginnt in Ungarn, wo alle politisch wichtigen Posten von Reformpolitikern übernommen werden. Der immer blutiger gewordenen Erste Golfkrieg zwischen dem Irak und dem Iran wird im August mit einem Waffenstillstand de facto unentschieden beendet. Zum neuen Präsidenten der USA wird George Bush (der Senior) gewählt. Mit einem Waffenstillstand zwischen den angolanischen Befreiungsarmeen, Kuba und Südafrika kommt der dreizehnjährige Bürgerkrieg in Angola zunächst zu einem Stillstand. Er flammt aber wenig später wieder auf.
Die Olympischen Spiele in Seoul bringen mit dem Sprinter Ben Johnson endlich an den Tag, dass gesundes Essen und hartes Training allein sehr oft nicht zum Erfolg im Spitzensport ausreichen. Boris Becker gewinnt als erster Deutscher das New Yorker Masters-Turnier, und Steffi Graf gewinnt den «Grand Slam» und obendrein olympisches Gold in Seoul. Forscher finden in einer israelischen Höhle fossile Reste eines Homo Sapiens einer überraschend modernen Form. Die Knochen sind offenbar 92000 alt. Erstmals wird ein Wirbeltier patentiert: Das US-Patent Nummer 47368666 wird für eine gentechnisch manipulierte Maus erteilt, deren genetischer Fingerabdruck mit dem des Muttertieres übereinstimmt. Der deutsche Hochgeschwindigkeitszug ICE stellt auf der Strecke Fulda-Würzburg mit 406 kmh einen neuen Rekord auf. Anlässlich des 70. Geburtstages des seit 24 Jahren inhaftierten Nelson Mandela findet im Londoner Wembley-Stadion ein Benefiz-Festival statt. 200 Millionen Menschen verfolgen das Spektakel am TV. Es stehen unter anderem George Michael, Peter Gabriel, die Simple Minds, Tracy Chapman, U2, Meat Loaf, Eurythmics, UB40, Bryan Adams, Joe Cocker, Whitney Houston, Miriam Makeba, Youssou N’Dour, Sting und Steve Wonder auf der Bühne.




Jetzt fährt der Zug in Utrecht ein. Die Holländer sind gelassene und manchmal ausgelassene Leutchen, freundliche Kinder des Südens, denen man hier im Norden immer wieder überrascht begegnet. Das nimmt Felix jedenfalls an. Holländische Bahnarbeiter stehen auf dem Bahnsteig und lachen und johlen dem Zug nach; der Schaffner geht pfeifend durch den Zugskorridor. Es ist neblig, milchig, regnet ein bisschen. Das Land der Holländer ist flach. Felix ist froh, dass es dieses Land gibt, und er hofft, dass es trotz aller möglichen und gar wahrscheinlichen Klimakatastrophen noch viele tausend Jahre lang nicht im Wasser versinken wird. Die holländischen Berge werden den Holländern bei einer Überschwemmung allerdings keine grosse Hilfe sein. Felix hört passenderweise in seinem Walkman gerade einen Song der neiderländischen Band The Nits mit folgendem Text: I was born in the valley of bricks/Where the river runs high above the rooftops/I was waiting for the cars coming home late at night/From the Dutch mountains. Felix sitzt jetzt im Zugsrestaurant. Er will, wenn die deutschen Zöllner kommen, sicher hinter einem Glas Bier versorgt sein. Auf der Hinfahrt wurde er schon total auseinander genommen (sieht Felix so staatsgefährdend aus oder einfach wie das personifizierte schlechte Gewissen?).

Inzwischen hat er den Zug gewechselt und sitzt jetzt im «Rheinpfeil». Er liest in einem Krimi («Kopps letzter Fall» von einem gewissen Christian Urech, einem Sonntagsmaler des Worts, erschienen im Verlag Rosa Winkel. Nein, wir müssen uns schon wieder korrigieren: Dieser Krimi wird ja erst in zehn Jahren auf den Buchmarkt geschmissen werden. Der Krimi, den Felix im Rheinpfeil liest, heisst «Ein Fall für Brandstätter»). Der Held, also der Detektiv oder Ermittler, ist schwul, sonst unterscheidet sich der Krimi nicht sehr von anderen Titeln dieser literarischen Gattung.

Am Donnerstag, als Felix in Basel ankommt, so gegen sechs am Abend, ist er schon ein bisschen angesoffen vom vielen Bier im Zug. Er ist in einer gefährlichen, mutwilligen Stimmung. Stellt das Gepäck am Bahnhof ein und geht in die Stadt, um zu essen. Als man ihm in der «Hasenburg» erst keinen Platz geben will («Dies ist ein À-la-carte-Restaurant, Monsieur, und kein Ort für besoffene Penner, die nicht einen müden Franken in der Tasche haben»), wird Felix ziemlich böse. Dass der Kellner ein Holländer ist, macht die Sache auch nicht besser. Felix fragt ihn, ob er etwa schon bei der schweizerischen «Gastlichkeit» in die Schule gegangen sei, was der Kellner verwirrt bejaht. Das sei aber schade, meint Felix darauf nur noch und würdigt ihn anschliessend keines Blickes mehr. Das Essen ist aber gut (Kalbsnierchen und Nüdeli mit Salat, dazu zwei Dreier Dôle). Anschliessend geht Felix in die Schwulenbar, wo der Abend dann unheimlich rasch fortschreitet – substanzlos gewissermassen, geölt vom Bier. So gegen eins sitzt Felix mit einem Hurenbübchen im «Dupf» und will es engagieren. Daraufhin erklärt das Hurenbübchen des Langen und Breiten, dass es kein Hurenbübchen sei und eine lange Geschichte von einem Töffunfall und einem toten Freund und weiteren Schicksalsschlägen. Weil der Wunsch manchmal der Vater der Wahrnehmung ist, gefällt ihm das Hurenbüblein immer besser. Felix ist in letzter Zeit einfach ein bisschen gestört und hat nur noch das eine im Kopf. Schliesslich, das Lokal ist offiziell schon lange geschlossen und sie trinken «hinter geschlossenen Türen» weiter, was im Schweizerdeutschen als «Überhöckeln» bezeichnet wird, geht das Hurenbübchen, das keines ist, und lässt Felix einfach sitzen. Ja, da sitzt der überhöckelnde Felix nun, perplex – und verliebt! Besoffen bis unter den Kragen und verliebt über beide Ohren. Tatsächlich, Felix hat dieses Gefühl schon fast vergessen. Jetzt ist es machtvoll wieder da und pulsiert wie eine Droge in seinem Blut. Er holt seine Sachen aus dem inzwischen auch schon lange geschlossenen Bahnhof, es ist kompliziert und Felix entsinnt sich anderntags schwach an lange Verhandlungen mit einem Nachtwächter oder Bahnbediensteten oder Securitas, die er führen muss, ob er will oder nicht, weil er seinen Hausschlüssel im Gepäck hat, das sich im Schliessfach im geschlossenen Bahnhof befindet. Offenbar hat es geklappt und Felix ist doch noch an sein Gepäck und seinen Hausschlüssel gekommen, denn jetzt sehen wir ihn mit übergestülptem Walkman und baumelnder Reisetasche durch die nächtlichen Strassen Basels halb tanzen, halb taumeln. So tänzelt er zum «Happy Night», das noch offen hat und Felix denkt, Happy Night, das passt, obwohl es eine Hetero-Disco ist, aber darüber macht sich Felix in dem Zustand, in dem er sich befindet, weiss Gott keine Gedanken mehr, sondern vertieft sich voller Vorfreude in die Getränkekarte mit der Form einer Vinyl-Schallplatte und entscheidet sich dann für einen Tequila Sunrise. Und dann noch für einen. Sein Zustand ist, von aussen betrachtet, wirklich bedenklich, während er sich innerlich ganz passabel anfühlt. Inzwischen ist es vier Uhr und Felix macht sich irgendwie auf den Heimweg.

Anderntags erwacht Felix mit einem erstaunlichen Gefühl: natürlich ist er auch etwas benebelt vom Restalkohol, aber überstrahlt wird der Kater von einem tiefer gewordenen Gefühl der Verliebtheit. Verliebtheit in wen? Felix kann sich zunächst gar nicht entsinnen. Ach ja, das Hurenbübchen.
Am Nachmittag geht er, um sich wieder etwas herzustellen, ins «Laguna» nach Weil am Rhein. Er schwimmt ein bisschen und lässt sich von allerorts gezielt hervorzischenden Wasserfontänen ganzköpermässig massieren. Umheimlich geil. Er ist anschliessend vollkommen durchgewalkt und komplett entspannt. Es ist März, Fischemonat, Wassermonat. Draussen vor dem Bad, während er auf den Bus zurück nach Basel wartet, hat Felix eine Erscheinung – kurzes Haar, grosse, abstehende Ohren, aufgeworfene, fleischige Lippen… Nein, von den Einzelheiten her kann man dieses Gesicht nicht fassen, es ist der frische, zarte, ordinäre, unschuldig-verdorbene Gesamteindruck, der dieses Gesicht so unwiderstehlich macht. Dazu lange Beine in engen Jeans, ein göttlich geformter Arsch, eckig-schlaksig-rund, Lederjacke, the sexiest young man alive. Sofort hat Felix eine Erektion. Er starrt den jungen Mann an. Ob der was bemerkt? Kumpel von ihm kommen, sie albern herum. Mädchen schlendern heran und warten ebenfalls auf den Bus. Es wird unbeholfen geschäkert. Die sexuellen Komponenten der schmähenden Gespräche sind zum Teil deftig: «Steck dir deinen Schwanz doch in den Mund», sagt eines der Mädchen zu dem Scharfen. Die grossen abstehenden Ohren sind einfach unwiderstehlich.

Am Abend wieder im Schwulenlokal. Das Hurenbübchen, in das Felix doch eben noch verliebt war, hat einen älteren Freier an der Angel und beachtet Felix gar nicht. Die Stimmung ist seltsam im Lokal, es hat nur wenige Gäste, aber die, die da sind, sind besoffen und verrückt. Die Zeit vergeht wieder irgendwie substanzlos und vom Bier geölt. Felix quatscht mit Leuten rum. Ein junger Araber hängt sich an ihn. Schliesslich kommt dieser einfach mit Felix nach Hause, obwohl Felix gar nichts von ihm will. Aber der junge Araber will etwas von Felix: nämlich, dass der ihm Kaffee aufbrüht, Spaghetti kocht, dass er ihm einen ruhigen Platz zum schlafen gibt, dass er sich mit ihm unterhält, dass er ihm Geld gibt, nicht viel, aber doch genug, denn schliesslich sei er, Mohammed oder Ali oder Said, ja auch ein Mensch, kurz: der junge Araber will, dass Felix Gastgeber ist. Gut, ist Felix eben Gastgeber, in Gottes oder Allahs Namen, Gastgeber und nicht Liebhaber. Der junge Mann, nennen wir ihn Ali, ist Tunesier, das erste Mal in Europa, er kann gar nicht begreifen, was so ein Schwulenlokal überhaupt ist, natürlich schlafen Männer mit Männern und Knaben mit Knaben, aber doch nur, weil sie nicht mit Mädchen schlafen können. Ficken lassen will Felix sich jedoch gewiss nicht von Ali, da hört die Gastfreundschaft aber auf.
Also schläft Ali im einen Zimmer und Felix im anderen. Ali erwacht erst um zwei Uhr nachmittags. Dann will Felix den Gast los sein. Ali bettelt noch einmal um etwas Geld, und Felix gibt ihm erst eine Zwanzigernote, und, nach einem kleinen Zögern und nach einem Blick in Alis bettelnde Augen, noch eine zweite. Dann geht Felix ins Kino: «Aus dem Leben Gorkis» («Unter fremden Menschen», ca. 1932). Warum Felix sich gerade diesen Film anschauen will? Wegen des Hauptdarstellers natürlich, dem Darsteller des Gorki als Knaben. Wunderschön. Der ganze Film ist sehr schön, voll von Charakterfiguren und russischem Pathos. Aber die Personen werden sehr lebendig gezeigt, wenn das der russische Realismus war, kann Felix nicht viel dagegen sagen.

Damit ist der Eindruck, den dieser Film auf Felix gemacht hat, natürlich noch nicht vollständig beschrieben. Aber Felix kann und will das jetzt nicht auseinandernehmen und wir als gottgleiche Herren des Alphabets verweigern uns somit nur schon aus Solidarität mit unserem Protagonisten der Analyse ebenfalls, das heisst wir respektieren seine momentane Stimmung, und die ist so, dass Felix im Moment nur Gefühl ist, randvoll bis obenhinaus, sehnsüchtiges heftiges geiles Gefühl. Hungrig, durstig, schwabbelig bis ins innerste Mark der Knochen. Felix ist von Neptun besessen, da können auch wir nichts tun (das heisst, wir könnten schon, aber wir wollen nicht).
Kommt Felix raus aus dem Kino, steht da ein wunderschönes Menschenkind. Felix ist noch ganz benommen vom Film, seine Augen sind noch ganz weich von Tränen, denn, wir haben es schon betont und sagen es gern noch einmal, Felix hat nah am Wasser gebaut und im Kino erst recht. Ein wunderschönes Menschenkind also, ein Junge natürlich, etwa 18, ein Schüler, Gymnasiast, er hat langes Haar, das hinten zu einem Schwänzchen zusammengebunden ist, und ein gutes, wunderschönes Gesicht. Felix staunt ihn an, wie das neuerdings seine Art ist, bleibt einfach stehen und schaut ihn mit offenem Mund an. Ein Wunder, denkt Felix, zwar nicht gerade die Heilige Jungfrau von Fatima, aber doch eine veritable Erscheinung, schon wieder. «Warst du im Film?» wird Felix von der Erscheinung gefragt. «Äh, ja», antwortet Felix, der nicht jeden Tag von einer Erscheinung angesprochen wird, ganz verlegen. «Ist er schön?», fragt der Junge, und Felix fragt ganz verständnislos zurück: «Wer?» «Der Film natürlich», sagt der schöne Junge und lacht. Felix stottert, noch um eine Spur verlegener, etwas Bestätigendes, er weiss gar nicht, was er sagen soll und möchte doch so gern mit dem Jungen ein wenig plaudern. Ja, er wolle auch in den Film, eigentlich, aber er warte noch auf einen Freund und der komme jetzt einfach nicht, sagt der Junge. Es klingt ein wenig ärgerlich und vor allem eine Spur enttäuscht. Sie reden noch ein bisschen, Felix sagt etwas, das ihm gerade in den Sinn kommt, Unsinn wahrscheinlich, denn er kann jetzt nicht einfach so davon latschen in die sich samstäglich auf dem Konsumtrip befindliche Stadt. Und da erscheint plötzlich der Freund doch noch. Natürlich ist er ebenso schön wie der Gesprächspartner von Felix. Wie eine Sonne geht es in dessen Gesicht auf, die beiden Freunde umarmen und küssen sich. Er hat mir etwas über den Film erzählt, meint der Junge mit dem Schwänzchen, indem er die lebhafte Anteilnahme von Felix an diesem Geschehen kommentiert. Ja, also… dann viel Vergnügen, sagt Felix, sich verabschiedend. Die beiden lieben sich, Felix kann es sehen und er kann es verstehen, und es ist schön und wahr, dass sie sich lieben, und es wäre geradezu eine Schande, wenn sie sich nicht lieben würden. Felix geht durch die Stadt, zutiefst bewegt und aufgewühlt.

Und Felix geht, Walkman-Musik im Ohr. Sein Herz ist verdammt heiss, er fühlt sich wie ein katzenartiges Raubtier, Reisslust in sich. Erst will er ins «Sommercasino» an ein Konzert, findet das Konzertlokal aber nicht gleich, weil er es in der falschen Richtung sucht, dann zahlt Felix zwar den Eintritt für das Konzert, geht aber sofort wieder weg, weil ihm das Publikum nicht passt, zu brav für seine Stimmung, und zu saufen gibt es auch nichts. Also geht er in die alte Stadtgärtnerei, wo es wieder ausschliesslich schöne Jünglinge gibt, Felix könnte schwören, dass er an diesem Abend keinen einzigen hässlichen Jungen gesehen hat. Wo die wohl versteckt waren die ganze Zeit? Dann will Felix ins «Elle et Lui», denn er muss jetzt einfach seinen Hunger stillen, seinen Durst. Da ruft ihm Mohammed oder Ali, der Tunesier von gestern, etwas nach. Er will sich wieder an Felix hängen. Aber Felix will das nicht, jetzt nicht, er hat heute ein anderes Programm und lässt Ali energisch abblitzen. Er rollt ein bisschen mit den Augen und spielt den Verrückten, das reicht, um Ali davon zu scheuchen. Felix bestellt an der Bar, die nicht gar zu überfüllt ist, ein Bier. Und da sieht er ihn. Ja, das ist er, das ist genau der Richtige, um sein heisses Herz zu kühlen und seinen Heisshunger zu stillen. Felix starrt den jungen Mann an (da Felix kurzsichtig ist, weiss er nicht sicher, ob der andere seinen Blick erwidert). Aber heute hat Felix den Mut der Verzweiflung. Er geht einfach zu dem Jungen hin und fängt an, mit ihm zu quatschen. Der ist auch von Nahem betrachtet eine Augenweide und heisst wie Felix, also Felix. Er stammt aus Thun. Nein, ein Stricher ist er nicht, wie Felix meinte (wahrscheinlich ein Wunschgedanke, weil Felix nur Stricher allenfalls erreichbar scheinen). Felix, also der neue Felix, den wir eben erst kennengelernt haben, fährt, da in Thun nichts läuft, an den Wochenenden in die Städte: nach Bern natürlich, aber manchmal auch nach Zürich oder eben nach Basel wie heute. Da hat Felix, unser alter Felix, ja Glück gehabt. Der neue Felix ist ein grosser Kiffkopf und sagt, er sei auch schon im Knast gewesen «wegen des Haschs». Felix 2 erzählt Felix 1 die abenteuerlichen Momente seines Lebens. Er habe in Amsterdam bei einem Freund gelebt. Aber der, ein komplett durchgeknallter Typ, verrückt wie eine Scheisshausratte, wie Stephen King es ausdrücken würde, habe ihn immer zusammengeschlagen, weil er furchtbar eifersüchtig gewesen sei. Der junge Felix arbeitete in Zürich in Schwulenbars. Er war in Marokko, in Marrakesch, er erzählt von Marrakesch. Er erzählt Felix 1 noch andere Geschichten, von Nachtfahrten zwischen Amsterdam und Basel (Kiff-/Suff-/Geil-Orgien mit einem Amerikaner, der dann so viel Saft verspritzt habe, dass das ganze Abteil sozusagen unter Wasser gestanden sei). Auf jeden Fall findet Felix 2 den Felix 1 als Partner für eine Nacht offenbar durchaus akzeptabel, was Felix 1 ziemlich verblüfft. Für Felix 2 ist Felix 1 noch nicht zu alt. Er findet ihn sympathisch. Was Felix 1 nicht für möglich hielt, rückt in den Bereich der Möglichkeit: Felix 2 wird eine Nacht mit Felix 1 verbringen und dieser muss jenem dafür nicht einmal etwas bezahlen. Manchmal ereignen sich noch Zeichen und Wunder. Oder aber unser Felix hat einfach eine Wahrheit über sich herausgefunden. Nämlich, dass auch ein junger Mann ihn noch attraktiv finden kann. Und vor allem das: Wenn er stolpert, dann primär über seine eigenen Hasenfüsse. Einfach probieren, Knallkopf, manchmal klappts ja sogar!
Sie nehmen also das Taxi, der namensvetterende Kiffkopf oder kiffende Namensvetter von Felix und Felix. Es wird dann wieder fast vier Uhr, bis sie ins Bett kommen. Manchmal ist Felix fast ein halbes Jahr fast ununterbrochen fast «seriös», dann macht er gleich drei Nächte durch und treibt es in einer Woche mit drei verschiedenen Jungs (das ist nicht zum Lachen, schliesslich fand seine letzte Liebesnacht noch im letzten Jahr statt, als ihm das Schicksal ein Weihnachtsgeschenk in Form eines jungen zarthäutigen Laoten machte).
Mit dem jüngeren Felix muss zuerst natürlich noch was gekifft werden. Felix hat schon länger nicht mehr gekifft, und nach all dem Bier fährt es ihm ziemlich ein. Das Gesicht seines Besuchers sieht immer wieder anders aus. Aber es ist in jeder Form, in der es sich zeigt, begehrenswert. Schliesslich muss Felix diese Lippen einfach zu küssen beginnen. Und das hört dann eine ganze Weile nicht mehr auf. Mit einem Kiffkopf kann man vielleicht nicht sehr gut analytische Gespräche führen, aber man kann gut mit ihm küssen und ausgezeichnet Liebe machen mit ihm. Kiffkörper sind innig und geniessen die langsame Steigerung der Lust. Sie lieben sich also schlangenhaft, indem sie Körper um Körper wickeln, während Felix den Schwanz am ganzen Körper von Felix reibt und sich gleichzeitig dessen Lippen, dessen Zunge mit unglaublichem kulinarischem Genuss gewissermassen einverleibt. Und wieder einmal lobt er sich sein schmales Prokustesbett, die arktischen Zimmertemperaturen in seiner Wohnung, denn es zwingt seinen Gast, dieses magere Bürschchen mit der seidenweichen, haarlosen Haut, ganz in seine Umschlingung hineinzugleiten. Kiffkörper werden nicht ungern so gewärmt.
Am Morgen resp. Mittag ist das Erwachen der beiden Felixe natürlich kein ganz taufrisches. Der Junge dreht sich noch vor dem ersten Kaffee einen Joint. Erzählt wieder Anekdoten aus seiner Lebensgeschichte, die ja noch nicht so lange dauert, was ihn zu gewissen Wiederholungen oder Variationen veranlasst oder vielmehr verführt (Kiffköpfe neigen zur Vergesslichkeit). Der ältere Felix kifft jetzt natürlich nicht mehr mit, Gott bewahre. Dann will der jüngere Felix, dass der ältere Felix ihm ein wenig die Stadt zeige. Es gibt ein paar vertraute Momente, obwohl ihnen mit der Zeit der Gesprächsstoff etwas ausgeht. Das hübsche Kiffköpfchen bekommt auch zunehmend rote Augen und schweigt berauscht vor sich hin. Nur ab und zu schaut er den älteren Felix mit einem rätselhaften Lächeln an, was diesen ganz nervös macht. Oder er murmelt etwas Unverständliches vor sich hin. Sie sitzen wieder im «Elle», im «Dupf». Der ältere Felix weiss nicht, ob dem jüngeren Felix an seiner Gesellschaft noch etwas liegt. Vorher hat der jüngere Felix noch gesagt, vielleicht prophylaktisch, dass er frei sein, dass er sich nicht binden wolle, dass er nicht an Freundschaft glaube, dass er keine Gefühle mehr in sich habe, die seien ihm ausgetrieben worden, dass er auch mit Frauen könnte, aber nicht wolle. Wenn er erzählt, ist er fröhlich und verwegen, er erinnert den älteren Felix dann an Peter. Aber meistens ist er scheu und ein bisschen verträumt. Sie sitzen am Tisch und der jüngere Felix ist stoned und der ältere Felix weiss nicht, was er tun soll, der jüngere Felix möchte vielleicht noch was ohne ihn unternehmen, er mag den jüngeren Felix, weiss aber nicht, ob der an einem weiteren Kontakt mit ihm interessiert ist, an manchen Anzeichen meint er ja, an anderen glaubt er nein, wir sehen uns jetzt ja sicher öfter, hat der jüngere Felix gesagt, ich will keine Beziehung mehr, hat er auch gesagt, ich will nur noch Abenteuer. Ach, schliesslich ist doch wieder alles ein wenig traurig und kompliziert. Der ältere Felix kann den jüngeren Felix auch nicht fragen, der ist jetzt viel zu verladen. Und verabschieden muss man sich ja doch irgendwann und irgendwie. Dass sie sich schliesslich mit einer Floskel und einem Handschlag ganz prosaisch voneinander trennen, tut dem älteren Felix ein bisschen weh. Er hätte ihm einen Kuss geben können oder wenigstens ein Küsschen, dem Retter seiner gequälten Seele, aber manchmal macht man in der einen Sekunde einen Fehler, den man in der nächsten Sekunde nicht mehr wiedergutmachen kann und überhaupt niemals mehr.

Dienstag, 11. März 2008

Bestenliste: Top Stories (1)

Die Legende vom heiligen Trinker: Joseph Roth
Hiob: Joseph Roth
Der Untertan: Heinrich Mann
Professor Unrat: Heinrich Mann
Die Käserei in der Vehfreude: Jeremias Gotthelf
Geld und Geist: Jeremias Gotthelf
Annebäbi Jowäger: Jeremias Gotthelf
Drop City: T.C. Boyle
Wassermusik: T.C. Boyle
The Tortilla Curtain: T.C. Boyle
Der Samurai von Savannah: T.C. Boyle
Talk Talk: T.C. Boyle
Kafka am Strand: Haruki Murakami
Wilde Schaftsjagd: Haruki Murakami
In Trubschachen: E.Y. Meyer
Der Trinker: Hans Fallada
Kleiner Mann – was nun? Hans Fallada
Wer einmal aus dem Blechnapf frisst: Hans Fallada
Bauern, Bonzen und Bomben: Hans Fallada
Himmel über der Wüste: Paul Bowles
So mag er fallen: Paul Bowles
Das Schloss: Franz Kafka
Der Prozess: Franz Kafka
Jenseits von Afrika: Tanja Blixen
Fluss ohne Ufer: Hanns Henny Jahnn
Kaltblütig: Truman Capote
Herr Lehmann: Sven Regener
Der Sturz: Friedrich Dürrenmatt
Turmbau: Friedrich Dürrenmatt
Es; Stephen King
Friedhof der Kuscheltiere: Stephen King
Der Spaziergang: Robert Walser
Stadtgeschichten, alle: Armistead Maupin
Ungefähre Landschaft: Peter Stamm
How to be good: Nick Hornby
Ter Fögi isch ä Souhung: Martin Frank
La Mort de Cheverolet: Martin Frank
Die Fantome des Hutmachers: Georges Simenon
Die Überlebenden der Télémaque: Georges Simenon
Leute, die an die Tür klopfen: Partricia Highsmith
Gourrama: Friedrich Glauser
Matto regiert: Friedrich Glauser
Die Stunde der Komödianten: Graham Greene
Das Herz aller Dinge: Graham Greene
Der dritte Mann: Graham Greene
Das Herz der Finsternis: Joseph Conrad
Almayers Wahn: Joseph Conrad
Don Quichotte: Cervantes
Schuld und Sühne: Fjodor Dostojewski
Der Herr der Ringe: J.R.R. Tolkien
Stein und Flöte: Hans Bemmann
Der Immoralist: André Gide
Stirb und werde: André Gide
Madame Bovary: Gustave Flaubert

(to be continued)

Montag, 3. März 2008

Ein reizender Herr aus Anderswo




Als er aus der Kühle der Bahnhofshalle ans blendende Licht trat, warf sich die Hitze des Tages wie ein feuchtes schweres Tuch über ihn. Er stellte fest, dass er viel zu warm angezogen war für diesen Sommertag. Es lag am geschlossenen Jackett. Er gab viel auf ein gepflegtes Äusseres, und da galt es eben, Konzessionen zu machen und zu leiden.
Man schrieb den 29. Juni 1899, und der hoffnungsvolle junge Schriftsteller, der erst vor kurzem seine erste Novelle veröffentlicht hatte und jetzt an einem grossen Roman arbeitete – er sollte «Buddenbrooks» heissen – befand sich auf einer kurzen Urlaubsreise aus München in Zürich. Er hatte einfach mal wieder wegfahren, ausreissen müssen. Das Fernweh, ja, das Fernweh war schuld daran, dieses ziehende, lockende, zerrende Gefühl in der Brust. Auch hatte er gehört, dass es in der schweizerischen Stadt an der Limmat ungewöhnlich viele Künstler und sensible Männer gebe. Denn er wusste, dass er selbst im Grunde genommen einer dieser sensiblen Männer war, ein heimatloser Herr aus Anderswo. Vor anderen hätte er das natürlich nie zugegeben. Er gab es nicht mal vor sich selbst gerne zu. Das Unberechenbare, das mit der Neigung der Sensiblen verbunden war, machte ihm Angst: er empfand es als Strudel, als verschlingendes Chaos, hielt es für unlebbar. Und doch gab es Momente wie diesen: im viel zu warmen Jackett vor dem Bahnhof in einer fremden Stadt, mit dieser wilden Sehnsucht in der Brust. Er überlegte, wohin er seine Schritte wenden sollte. Es war erst früher Nachmittag, aber er war viel zu müde, um die Stadt zu erkunden. Er war ja auch nicht als Tourist hierhergekommen. So liess er sich einfach treiben, die Bahnhofstrasse hinunter und durch den Rennweg die Fortuna-Gasse hinauf auf den Lindenhof. Hier, auf diesem Platz über der Stadt mit den breitausladenden Bäumen, wollte er ausruhen. Er setzte sich auf eine der roten Bänke und fühlte sich völlig erschöpft. Er hatte die letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen. Wie im hohen Fieber hatte er Bilder von unaussprechlicher Laszivität halluziniert, ausgelöst von einer Beobachtung am Vortage, als er von seinem Schreibtisch aus – er versuchte, an «Buddenbrooks» zu arbeiten – einen jungen Tischler oder Zimmermann, wahrscheinlich noch ein Lehrbube, bei der Arbeit beobachtet hatte. Der Anblick des schlanken, muskulösen Mannes mit den jungenhaften Gesichtszügen und dem schwarzglänzenden Haar hatte ihn fast verrückt werden lassen. Einmal, so schien es ihm jedenfalls, hatte der Handwerker seinen Blick erwidert und ihn sogar verwegen angegrinst. Doch vielleicht hatte er sich das auch bloss eingebildet. Auf jeden Fall war er mit seinem Roman um keine Zeile weitergekommen. Und jetzt sass er im Lindenhof in Zürich und fragte sich, was er hier überhaupt wollte.

Er beobachtete drei alte Männer, die im Kies ein Spiel mit glänzenden Kugeln spielten. Eine Mutter mit ihrem kleinen Kind. Er fühlte sich schläfrig und ihm war, als könnte er ewig hier so sitzen. Gedämpft drangen von weit her die nachmittäglichen Geräusche der Stadt an sein Ohr, und für eine Weile wusste er nicht mehr, ob er wach war oder schlief. Aber dann, ganz unverhofft, tauchte eine Gestalt in seinem Blickfeld auf, deren Anblick ihn auf einen Schlag hellwach werden liess. Es war ein kleiner, zierlicher, sehr hübscher Bursche dunkler Hautfarbe, sehr fremd und unerwartet an diesem Ort, ein malaiischer oder indochinesischer Typ, wie er vermutete. Wie kam dieser Mensch in diese Stadt, fragte sich der Dichter, und wieso war er so seltsam angezogen? Der Bursche blieb etwa fünf Meter vor ihm einfach stehen und lächelte ihn an. Wie gelähmt sass der Dichter auf seiner Bank und konnte seinen Blick nicht von dieser Erscheinung lassen. Der Bursche trug dunkle Sonnengläser, so dass der Dichter seine Augen nicht sehen konnte, aber er war sicher, dass der Junge den Blick auf ihn gerichtet hatte. Er konnte es geradezu körperlich fühlen: ihm schien, als richte sich jedes Härchen auf seinem Körper auf. Der Junge war eigenartig angezogen, überhaupt nicht der Mode der Zeit entsprechend, aber diese Bekleidung – eine Art Unterhemd, blendend weiss auf der braunen, samthäutigen Haut, ohne Ärmel und so eng am Körper, dass man die kleinen, aufgerichteten Brustwarzen sehen konnte, eine hautenge, blaue Hose aus derbem Stoff, Schuhe mit hohen Absätzen, wie er sie noch nie gesehen hatte, dazu trug er ein goldenes Kettchen um den Hals und einen goldenen Ring im Ohr – war nicht nur eigenartig, sondern auch sehr erotisch, denn sie liess den schlanken, kräftigen, unbehaarten Körper des fremden jungen Mannes unter dem Stoff mehr als erahnen. Wie eine Woge ergriff den gesamten Organismus des Dichters eine niegekannte Erregung, die jene des Vortags beim Anblick des Handwerkers noch um ein Vielfaches übertraf. Beschämt nahm er zur Kenntnis, dass seine Männlichkeit nicht nur stand wie eine Eins, sondern dass seine Eichel bereits feucht wurde vor Lust.

Während sich der Junge ihm näherte, lächelte dieser ihn womöglich noch breiter an. Schliesslich ergriff er seine Hand und streichelte sie kurz. «Hallo», sagte er in einem komischen Englisch, «I am Nui from Thailand. I make holiday here. I can show you a place. Very interesting for you. Come!»
Diese Aufforderung duldete keine Widerrede. Als der Dichter aufgestanden war, wurde ihm schlagartig bewusst, dass jedermann seine Erektion deutlich sehen konnte. Er schämte sich sehr, aber der dunkle Bursche zog ihn schon an der Hand den Lindenhof hinab, ausserdem war es inzwischen bereits dunkel geworden, worüber sich der Dichter nach allem aber auch nicht mehr allzusehr verwundern mochte. Der Junge führte ihn durch Gassen und Gässchen und an lärmigen Kneipen und Menschengruppen vorbei, die der Dichter nur verschwommen wahrnahm. Schliesslich standen sie vor der offenen Tür eines sehr alten Hauses – der Dichter hatte längst die Orientierung verloren – und der Junge sagte, indem er auf die Treppe deutete, die nach unten führte, und auf das rötliche Licht, dass von unten heraufdrang: «Go down here. Bye bye darling. See you maybe again in another life.» Der Dichter war zu perplex, um etwas zu sagen, und als er endlich seine Sprache wiedergefunden hatte, war der schöne junge Mann bereits im Dunkel der Nacht verschwunden.

Das Herz des Dichters war schwer, als er langsam die Treppe hinunterstieg. So kurz die Begegnung auch gewesen war, so sehr hatte sie ihn seiner Sehnsucht bewusst werden lassen. Nie würde sich diese namenlose Liebe für ihn erfüllen, nur im Traum oder in einem Moment der Trunkenheit liess sich diese Erfüllung erahnen.
Die Treppe führte hinunter zu den Katakomben der Stadt. Der Untergrund war sozusagen die Stadt unter der Stadt, und in dieser gab es ein geheimes Leben. Nachdem ihm ein wohlwollender, stummer Butler das Jackett abgenommen hatte – denn es war auch hier unten angenehm warm, und hier war Anderes als in der «Oberwelt» comme il faut – tauchte der Dichter ein in diese alternative Welt, in der alle Regeln der Logik auf den Kopf gestellt schienen. Dass er mit einem jugendlichen Oscar Wilde, der übrigens sehr feminin wirkte und äusserst elegant, aber auch extravagant aufgemacht war, ein Glas Champagner trank und dieser ihm erzählte, wie es mit Bosie wirklich war und was er in Reading so alles erlebt hatte – das meiste war fürchterlich, aber es gab auch einige erregende Momente – ging ja noch an, denn Wilde war immerhin ein (noch) lebender Zeitgenosse, auch wenn er auf dieser Party ganz und gar nicht wie ein fünfundvierzigjähriger, gebrochener Mann wirkte und auch immer wieder von kommenden Zeiten redete, in denen für sensible Männer alles anders und die mannmännliche Liebe auch in der Oberwelt quasi legitimiert, auf der anderen Seite dadurch aber auch zu etwas Gewöhnlichem werde, und das könne man ja auch nicht wünschen, nicht wahr? Aber da gab es auch andere Gestalten, solche aus der Vergangenheit – der dicke Shakespeare etwa und der kahlköpfige, knollennasige Sokrates, der jedem hübschen Jüngling, dem er begegnete – denn solche gabs natürlich haufenweise, und für Sokrates war auch ein vierzigjähriger Bierbauch ein hübscher Jüngling – mit gierigen Wurstfingern an den Hintern griff – und solche aus der Zukunft – zum Beispiel ein äusserst leutseeliger, netter Herr, der zwar etwas verklemmt auf seinem Stuhl sass, aber mit äusserster Empathie in sein Gegenüber geradezu hineinkroch. Er nannte sich Alfred, Alfred Biolek («Du kannst Bio zu mir sagen»), und er trat im Fernsehen auf. Ein Fernseher sei ein Kasten mit einer Scheibe, die wie ein Spiegel bunte, bewegte Bilder zeige und Töne von sich gebe, und in diesem Kasten trete dann und wann eben auch der nette Herr auf. Das war für den Dichter nur schwer vollstellbar, bis er später solche Kästen in anderen Räumen des Labyrinths tatsächlich zu Gesicht bekam. In ihnen war allerdings gerade nicht der nette Herr zu sehen, sondern ein exzentrischer junger Engländer mit grünen Haaren, einem grellrot geschminkten Mund und wundervoll gekleidet, der sang ein Lied zu einer barbarischen Musik und wurde Boy George genannt. Natürlich gab es auch frauenliebende Frauen da unten: er wurde der Dichterin Mercedes de Acosta vorstellt, trank einen Kaffee mit der Schauspielerin Inge Meysel und rauchte ein Pfeifchen Haschisch mit Gertude Stein. Die Dichterin Sappho hatte er erst gar nicht erkannt.

Es war eine sinnliche, aufregende und verwirrende Welt, in die er da geraten war. In dieser Welt wurde getanzt, geliebt und gelacht. Da gab es laszive Jünglinge und lederbekleidete Muskelmänner, feinsinnige Intellektuelle und vom Bacchus besessene Saftwurzeln, selbstverliebte Egomanen und hingebungsvolle Weltverbesserer, lustige und traurige Gestalten und solche, die über die Tragik des Lebens Bescheid wussten. Da gab es Männer und Frauen und solche, die zwischen den Geschlechtern standen. Und alle, alle waren sie anders. Das vereinte sie. Sie gehörten nicht zur Oberwelt, und sie genossen das.

Als er wach wurde – von einem Schmerz im Kreuz, wahrscheinlich verursacht durch die unbequeme Sitzposition auf der harten Bank –, merkte er nicht bloss, dass er das alles nur geträumt hatte, sondern auch, dass er nicht Thomas Mann war und schon gar nicht ein vierundzwanzigjähriger Thomas Mann, der soeben an seinem ersten Roman «Buddenbrooks» schrieb, sondern ein vierundvierzigjähriger gewöhnlicher schwuler Mann. Und man schrieb mitnichten den 29. Juni 1899. Immerhin stimmte, dass er auf einer Holzbank im Lindenhof sass und auf die Limmat und das Limmatquai hinunter sehen konnte. Auch die boule-spielenden alten Männer existierten, die Mutter mit dem Kind. Es war nicht mehr oder noch nicht Nacht, und die frühsommerliche Sonne filterte ihr Licht durch die Kronen der Bäume. Und nun tauchte sogar der junge Asiate wieder auf, blieb zwanzig Meter von ihm entfernt stehen. Doch, es war genau derselbe wie im Traum. Er hatte dasselbe herausfordernde Grinsen im Gesicht, und trotz der Sonnenbrille war der ältere Schwule auf der Bank sich sicher, dass der schöne Junge seinen begehrenden Blick erwiderte.

Sonntag, 2. März 2008

Bestenliste: Geliebte Rocksongs

A Million Miles Away: Rory Gallagher
Moonchild: Rory Gallagher (http://www.youtube.com/watch?v=gyHymAxUVrc)
Turn Your Lights on: Carlos Santana
Metal Minds: Atomic Rooster
I Am The Highway: Audioslave
Be Yourself: Audioslave
C'est La Vie: Emerson Lake and Palmer
Death Don't Have No Mercy: Garteful Death
School: Supertramp
Workin Class Hero: Marianne Faithful
Changes: Black Sabbath
Knocking At Your Backdoor: Deep Purple
Ain't No Sunshine: Al Green
Boulevard of Broken Dreams: Green Day
Clocks: Coldplay
Sleep: Dandy Warhols
Drive: R.E.M.
Talk Show Host: Radiohead
Lucky: Radiohead
Higher Ground: Red Hot Chili Peppers
Thief Soundtrack: Tangerine Dream
Soft Dog: Robert Fripp, Brian Eno
When Love Comes To Town: U2
Welcome To The Pleasure Dome: Frankie Goes To Hollywood
Wisging Well: Free
Killer/Papa Was A Rolling Stone: George Michael
Yellow And Blue: Golden Earrings
Sultans Of Swing: Dire Straits
Back Door Man: Doors
The End: Doors
Almost Full Moon: Enigma
White Room: Eric Clapton
My Guitar Wants To Kill Your Mama: Frank Zappa
Let's Work Togehter: Canned Heat
Ventilator Blues: Clarence Gatemouth Brown
Tabacco Road: David Lee Roth
Shadow On The Wall: Mike Oldfield
Clandestino: Manu Chao
Nights In White Satin: Moody Blues
In The Dutch Mountains: The Nits
Layla: Oasis
The Seeker: The Who
Jesus Just Left Chicago: ZZ Top
Heroes: Phlip Glass
Sinking Slowly: Yonderboi
Fairy Tale: Jan Garbarek, Eleni Karaindrou
Who Knows: Jimi Hendrix
Procession: Joe Zawinul
Stray Cat Blues: Johnny Winter
The Eternal: Joy Division
Your Time Is Gonna Come: Led Zeppelin
The Battle Of Evermore: Led Zeppelin
Woke Up This Morning: R.L. Burnside
Shine On You Crazy Diamonds: Pink Floyd
Keep Talking: Pink Floyd
Seven Seconds: Youusou N'Dour, Nene Cherry
Oaulauila Ar Tesninam: Tinariwen
Can't You Hear Me Knocking: Rolling Stones
Spoonful: Ten Years After
Empty Walls: Serj Tankian
Dejà vu: Spliff
Sugar Cane: Sonic Youth
Sebastian: Steve Harley and The Cockney Rebel
Whisky In The Jar: Thin Lizzy
Brid Of Prey: Uriah Heep
The King Will Come: Wishbone Ash

Zitat des Tages

"Und die Erkenntnis, dass dabei die organischen Formen ein unvergleichlich besseres Modell der Entwicklung des Menschen liefern als das mechanistische Weltbild, ist eine grössere wissenschaftliche Einsicht als jede physikalische Entdeckung von Archimedes bis Newton und Einstein. Der Fehler, der verhinderte, dass diese neue Auffassung vom Leben, die man heute Ökologie nennt, nicht schon längst erkannt und bewertet wurde, war, dass man sie zunächst als sogenannten Sozialdarwinismus missverstand - indem man sie nur mit dem Prinzip der organischen Evolution identifizierte und auf einen einzigen Aspekt dieser Evolution beschränkte, auf den der Anpassung und des Überlebens durch natürliche Auslese nämlich. Heute müssen wir aber zu einem geozentrischen, organischen und menschlichen Modell übergehen, das auf einer höheren geistigen Stufe steht - zu einem Modell also, in dem der Mensch zwar wieder Mittelpunkt des organischen Lebens ist, aber nicht mehr als ein auserwähltes Wesen mit göttlichem Adelspatent und somit Herr des Ganzen, sondern nur noch als dessen von ebendiesem Ganzen abhängige, zarte oberste Spitze. Alles andere kommt einer endgültigen Flucht aus der Wirklichkeit der organischen Welt und aus dem Kreislauf des Lebens in das Nichts gleich - in die Anti-Kreativität, die Entropie, die Unordnung und das Chaos -, ist also nekrophil und geschieht aus Liebe zum Tod und nicht aus Liebe zum Leben. ... Auf Grund der chemischen und physikalischen Eigenschaften der Erde ist die Natur hier für die Entstehung des Lebens prädisponiert, also lebensfreundlich - aber die Probe der Zeit bestehen nur Organismen, die sich selbst reproduzieren und erneuern können, die also sowohl Kontinuität bewahren wie schöpferische Kraft beweisen, und deshalb ist die vielleicht allerwichtigeste Aufgabe, die wir heute haben, mit allen Mitteln dafür zu sorgen, dass die ganze organische Welt möglichst fehlerfreundlich bleibt und dass auch wir Menschen uns um eine Lebensweise bemühen, die möglichst fehlerfreundlich ist."

E.Y. Meyer, Das System des Doktor Maillard