Mittwoch, 22. Februar 2012

Glück – Kunst, Gabe oder Geschenk?

Wenn man bei Google den Begriff «Glück» eingibt, liefert die Suchmaschine ca. 131 Millionen Links. 131 Millionen Wege allein zu deutschem Glück! Dass es so viele sind, rührt wahrscheinlich daher, dass das deutsche «Glück» sowohl das Glück in der Liebe als auch im Spiel meint, während im Englischen, sauber getrennt, «nur» 8 Millionen Pfade zu «Happiness» führen, aber 704 Millionen zu «Good Luck»; wie die meisten Sprachen ist hier das Englische präziser und unterscheidet zwischen Zufalls- und Lebensglück. Wie unterscheiden sich die beiden, wie hängen sie zusammen – und wie und wo findet man es, das Glück?

«The Pursuit of Happiness», die Suche nach dem Glück, ist sogar in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung festgeschrieben. Trotzdem: Glück ist und bleibt ein etwas wolkiger, schwammiger Begriff. Gewiss, die Sehnsucht danach ist beim Menschen ohne Zweifel da – so etwas wie Scham, sich diese Sehnsucht einzugestehen, aber offensichtlich auch. Man ist ja schliesslich erwachsen und macht sich keine Illusionen mehr. Bedeutet die Glückssehnsucht nicht, nach den Sternen zu greifen?

Wie auch immer: «Das Glück» ist ein Thema. Glücksforscher untersuchen stets von neuem die Glücksbefindlichkeit auf den Kontinenten und in den Ländern und stellen entsprechende «Hitparaden» auf. Sie finden dann zum Beispiel heraus, dass glückliche Menschen sich durch ein gesundes Selbstbewusstsein, Vorurteilsfreiheit und Intelligenz auszeichnen, dass sie mit anderen gut auskommen und ihr Leben im Griff haben. Doch haben sie ihr Leben im Griff, weil sie glücklich sind, oder sind sie glücklich, weil sie ihr Leben im Griff haben? Und hat nicht auch manch unglücklicher Mensch sein Leben im Griff?

Was ist das nun also – Glück? Bedeutet es, wie Epikur und Schopenhauer postulierten, negativ einfach die Abwesenheit von Schwierigkeiten, Schmerzen und Ungemach oder, etwas präziser ausgedrückt, die innere Freiheit von Mangel und Leid? Oder ist da doch mehr: Erfüllung, Sinn, erfülltes Leben, Erleuchtung gar und spirituelle Ekstase, gelebte Unio Mystica? Sicher ist: Glück lässt sich nicht so einfach definieren, weil es für jede und jeden von uns etwas anderes bedeutet, und nicht mal für jeden einzelnen von uns immer das gleiche. Natürlich gibt es die erwähnten Glücksforscher, die sich am Phänomen «Glück» mit soziologischem Begriffsbesteck zu schaffen machen, aber dieses von aussen definierte Glück zielt am Kern der Sache gewissermassen vorbei, weil sich das Glück eben gerade nicht von aussen beobachten lässt. Glück ist ein zutiefst subjektives Gefühl.

Soviel kann aber gesagt werden: Wenn einem Menschen die Bedürfnisbefriedigung auf einer elementaren Ebene verwehrt bleibt, ist es schwer, nach umfassenderen oder «höheren» Formen des Glücks zu streben. Die Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow unterscheidet zwischen den physiologischen Bedürfnissen (Atmung, Schlaf, Nahrung, Wärme, Gesundheit, Wohnraum, Kleidung und Bewegung), den Sicherheitsbedürfnissen (Recht und Ordnung, Schutz vor Gefahren, Einkommen etc.), den sozialen Bedürfnissen (Familie, Freundeskreis, Partnerschaft, Liebe, Kommunikation etc.) und den Individualbedürfnissen (Status, Respekt, Anerkennung, Einfluss, Erfolg). Erst ganz an der Spitze der Pyramide finden wir das Bedürfnis der Selbstverwirklichung, der Individuation, aber auch der Entrückung, der Erleuchtung, der religiösen Erfüllung. Vielleicht könnte man die Stufen dieser Bedürfnispyramide als Stufen des Glücks definieren. Wobei sofort klar wird, wie fragil und instabil diese «Konstruktion» ist, droht doch jederzeit der «Sturz in der Tiefe» – sei es nun in Form einer Krankheit, eines Partnerschafts- oder eines Arbeitsplatzverlusts oder gar einer Naturkatastrophe oder eines Kriegs – Ereignisse, welche die Erfüllung auch der elementarsten Bedürfnisse in Frage stellen. Glück ist eben nichts, was sich vor irgendeinem Richterstuhl einklagen liesse – auch nicht vor dem Richterstuhl Gottes, wie uns zum Beispiel die Geschichte von Hiob auf eindrückliche Weise zeigt.

Glück – ein Produkt des Belohnungssystems im Hirn?
Naturwissenschaftlich orientierte Geister vertreten freilich die Ansicht, das, was wir «Glück» nennen, sei lediglich die Folge einer Reihe von chemischen Vorgängen, eine Angelegenheit des Belohnungssystems, nach dem unser Gehirn offenbar funktioniert. Dieses aus vielfältig verzweigten Nervenverbindungen bestehende System lässt uns Gefühle wie Euphorie, Freude, Wohlbefinden, Motivation und Tatendrang empfinden, die sich ab und zu auch zu einem veritablen Glückssturm auswachsen können – vor allem, wenn wir uns frisch verliebt haben. Dabei spielen verschiedenste Neurotransmitter wie Dopamin oder körpereigene Opiate eine Rolle.

Was uns mit einem eher problematischen Aspekt des Phänomens «Glück» konfrontiert: Es lässt sich – zumindest temporär, aber welches Glückgefühl wäre das nicht – nämlich auch «künstlich» erzeugen. Schon Baudelaire kannte Drogen als «Transportmittel» auf dem Weg zu «künstlichen Paradiesen». Und weil diese Reisen so verlockend sind und das Glücksgefühl auf diese Weise so leicht zu haben ist, will man es natürlich immer wieder und will man immer mehr davon – eine unaufhörliche Spirale der Sucht beginnt sich zu drehen. Wie nicht nur die tragischen Beispiele von Stars wie Jimmy Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison und in jüngerer Zeit Michael Jackson, Heath Ledger, Amy Winehouse und Whitney Houston zeigen, folgen dem künstlich erzeugten Glücksgefühl meist länger anhaltende «Unglücksphasen», muss der Aufenthalt in den künstlichen Paradiesen nicht selten mit dem tiefen Sturz in die Hölle der Verzweiflung und der Angst bezahlt werden – mit einem elementaren Unglücklichsein, wie es auch im klinischen Sinn als Depression auftritt.

Auch diesem Zustand des Unglücklichseins lässt sich freilich mit Eingriffen in das Neurotransmittersystem begegnen: Der grösste Leidensdruck schwindet dann. Wirkliches Glück wird aber durch die Abwesenheit von Unglücklichsein vielleicht doch nicht erreicht. Die Fähigkeit, Glück zu erleben, lässt sich durch eine medizinische Behandlung allein nicht herstellen.

Trotzdem ist die Glücksforschung ein wichtiger Zweig auch der Pharmaindustrie geworden. Wir kennen inzwischen über 2000 chemische Substanzen, die in unserm Gehirn darüber entscheiden, ob wir uns eher glücklich oder unglücklich gestimmt fühlen. Die Anzahl der Menschen, die tablettenabhängig sind, um ihre Stimmungen unter Kontrolle zu haben, nimmt weltweit zu. Das gilt auch für Kinder: 2009 gingen in der Schweiz beispielsweise rund 280’000 Packungen Ritalin über die Apothekertheke: 10 Prozent mehr als im Vorjahr, Tendenz: weiter steigend. Ritalin wird vor allem an Kinder abgegeben, die als hyperaktiv gelten.

Glück ist eine Gabe, aber auch eine Kunst
Angeborene Persönlichkeitsmerkmale legen den Grundstein für die Erlebnisfähigkeit eines Menschen. Diese Erlebnisfähigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, Glück überhaupt empfinden zu können, sie ist gewissermassen unser Sensorium für das Glück. Wer beispielsweise für die Schönheit der Natur kein Auge und kein Ohr und auch sonst keinen Sinn hat, ist unempfänglich für das Glück, das dem Naturempfinden innewohnt. Der Genuss von Speis und Trank hat nicht nur mit den Qualität von Nahrungsmitteln zu tun, sondern auch und vor allem mit unserer Genussfähigkeit. Im Verlauf unserer individuellen Geschichte kann die Umgebung und die Umwelt diese Fähigkeit zum Genuss und zum Glück verstärken oder abschwächen. Glück ist wohl eine Gabe, aber auch eine Kunst, die es zu erlernen gilt.

Glück leitet sich vom Erreichen bestimmter Ziele ab – oder vielmehr vom Weg, den wir zu diesem Ziel gehen. Ist das Ziel erst einmal erreicht, verliert es nämlich seine Fähigkeit, uns glücklich zu machen. Das spürt jeder Künstler in der Leere, die auf die Vollendung eines Werkes so sicher wie das Amen in der Kirche folgt und die sich erst dann wieder füllt, wenn ein nächstes Projekt in Angriff genommen wird. Unterwegs stellt sich dann das ein, was der ungarische Psychologe mit dem unaussprechbaren Namen mit dem Begriff «Flow» umschrieben hat: Schaffensrausch, Tätigkeitsrausch, Funktionslust, ein völliges Aufgehen im Tun oder eben – eine Art Glück, das Mihaly Csikszentmihalyi mit folgenden Begriffen umschreibt: Mühelosigkeit, unsere Sorgen um uns selbst verschwinden, unser Gefühl für Zeitabläufe ist verändert, Handlung und Bewusstsein verschmelzen. Flow, sagt der Psychologe, könne als Zustand beschrieben werden, in dem Aufmerksamkeit, Motivation und die Umgebung zu einer Art produktiver Harmonie verschmelzen. Die Bewältigung von Herausforderungen stärkt zudem das Selbstwertgefühl, sie lässt das Zutrauen in die eigenen Fähigkeit, auch andere Ziele zu erreichen, wachsen und ist damit eine Voraussetzung für Glück.

Glück ist also nicht daran gebunden, dass alle Wünsche erfüllt oder dass alle Ziele erreicht werden. Im Gegenteil. Bekannt ist das Märchen der Gebrüder Grimm vom Fischer und seiner Frau, deren Wünsche an den Butt immer massloser werden, so dass sie am Schluss alles wieder verlieren. Ähnlich wie beim Streben nach künstlichen Paradiesen mittels Drogen entwickelt sich aus der Gier nach immer Mehr eine Suchtspirale. So erweisen sich die Glücksversprechungen der Werbung, die als Motor für unserer quantitatives Wirtschaftswachstum dienen, letztlich als Phantom: Sie bringen den Einzelnen als Konsumenten nicht die ersehnte Befriedigung. Die Konzerne werden zwar reich, jedoch wird der Planet dabei zerstört.

Bekannt ist auch das Märchen vom «Hans im Glück». Hans erhält als Lohn für sieben Jahre Arbeit einen kopfgrossen Klumpen Gold. Diesen tauscht er gegen ein Pferd, das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans und die Gans gibt er für einen Schleifstein mitsamt einem einfachen Feldstein her. Er glaubt, jeweils richtig zu handeln, da man ihm einredet, ein gutes Geschäft zu machen. Zuletzt fallen ihm noch, als er trinken will, die beiden schweren Steine in einen Brunnen. So glücklich wie ich, ruft er nun aus‚ gibt es keinen Menschen unter der Sonne. Mit leichtem Herzen und frei von aller Last geht er fort, bis er daheim bei seiner Mutter angekommen ist. Er ist glücklich, die schweren Steine nicht mehr tragen zu müssen.

Ob man sich selbst als glücklich bezeichnet, hängt überdies davon ab, mit wem man sich vergleicht oder eben nicht vergleicht. Das Problem dabei: man misst seine Situation fast immer an der Situation jener, die mehr haben. Der Banker vergleicht sich mit dem Boss der UBS und findet sein Gehalt von drei Millionen pro Jahr ziemlich mickerig. Natürlich sind 70’000 Schweizerfranken Währungsgewinn aus einem Dollarverkauf für den Notenbankchef nicht der Rede wert, während sie für den einfachen Bürger ein Jahreseinkommen bedeuten würden. So gesehen ist «Erfolg» ausgesprochen relativ und als Glückquelle deshalb denkbar ungeeignet, weil es ja immer jene gibt, die noch mehr haben. Ein Trost bei momentan fehlendem Glück mag sein, dass wir uns an weniger Einkommen, schlechtere Noten oder einen sozialen Abstieg meist genauso gewöhnen wie an neuen Reichtum und einen neu erreichten hohen Status. Wenn der aktuelle Zustand «normal» geworden ist, streben wir automatisch wieder nach erreichbarem neuem Glück.

In unseren westlichen Industriegesellschaften wird das Individuum oft vor die Gemeinschaft gestellt. Besitz, Macht und Prestige werden nicht selten höher bewertet als der soziale Zusammenhalt. Vom Standpunkt des Glücks aus sind diese Prioritäten jedoch falsch gesetzt. Wenn wir anderen dabei helfen, glücklicher zu sein, kommen wir nicht selten dem eigenen Glück näher. Geben sei seliger als Nehmen, heisst es auch im Neuen Testament. Das behauptet seit einiger Zeit auch die Wissenschaft. Eine gross angelegte US-Studie vom Institute for Social Research der University of Michigan konnte 2002 nicht nur zeigen, dass soziale Kontakte den Zeitpunkt der Sterblichkeit erheblich hinausschieben können, sondern auch, dass besonders die selbstlosen Menschen profitieren und sie sich darüber hinaus auch noch langfristig besser fühlen.

Das nationale Glück der Untertanen ist in Bhutan bereits seit über 30 Jahren das höchste Ziel der Monarchie im kleinen Land auf dem Dach der Welt. Mit ganz konkreten Folgen: Jede öffentliche Investition oder Gesetzesänderung muss auf den Prüfstand und kann erst umgesetzt werden, wenn klar ist, dass das Vorhaben für die Allgemeinheit von Nutzen ist. Es ist die Antithese zu materialistischem Streben. Das Glück, nicht der Reichtum des Einzelnen wird angestrebt.

Machen Religionen den Menschen glücklicher?
Glücksversprechungen sind nicht nur ein Kennzeichen von Werbung, sondern auch von Religionen und anderen Heilslehren. Die Kirchen leeren sich zwar, aber die Esoterik und die Ratgeberbranche boomen, und auch die Psychiater und Psychotherapeutinnen als illegitime Nachfolger der Priester und Pfarrer haben alle Hände voll zu tun. Wobei: Individuelles Glück kann durch eine religiöse Lebenshaltung durchaus begünstigt werden. Religiöse Menschen sind im Durchschnitt glücklicher als nicht religiöse. Untersuchungen belegen, dass sie leichter Lebenskrisen bewältigen, weniger häufig zu Suchtmitteln greifen und bei Erkrankungen zuversichtlicher auf den Heilungsprozess vertrauen. Religiöse Erziehung, die diesen Namen verdient, befähigt zum Leben, sie schenkt Vertrauen und lädt zur Liebe ein. Allerdings ist damit nicht ausgeschlossen, dass die Zuwendung zur Religion auch das Risiko beinhalten kann, unglücklicher zu werden. Davon können Organisationen wie Infosekta in der Schweiz, die sich mit sektenähnlichen Gruppierungen befassen, ein Lied singen: Solche Gruppierungen können eine ausgesprochen destruktive Wirkung auf ihre Mitglieder (und deren Angehörige) ausüben.

Auch die höchste Form des Glücks, die Gipfelerfahrungen, von denen wir eingangs im Zusammenhang mit Maslow sprachen, haben mit Religion – oder besser, in einem übergeordneten Sinn, mit Spiritualität – zu tun. Erleuchtungsvorstellungen gibt es in allen Religionen: Im Islam verbinden sie sich insbesondere mit dem Sufismus, im Judentum mit der Kabbala. Im Buddhismus kennt man sie als Bodhi, im Zenbuddhismus als Satori, im Hinduismus als Samadhi, im Christentum als die Einswerdung der Unio Mystica. Als Erleuchtung bezeichnen wir gemeinhin eine umfassende Erfahrung, bei der das Alltagsbewusstsein überschritten und Einsicht in eine – wie auch immer geartete – universelle Wirklichkeit erlangt wird. Die Konzepte von «Erleuchtung», vor allem aber die Methoden, wie sie zustande kommt, sind von Tradition zu Tradition verschieden. Erleuchtung wird als spontan eingetretener Durchbruch (Satori) oder aber als aus eigener Kraft erlangtes Endergebnis eines Prozesses geistiger Übung und Entwicklung (Samadhi), als Vereinigung mit einem universalen Bewusstsein oder als eine durch göttliche Gnade erlangte Heiligmässigkeit verstanden. Ob dieses universale Bewusstsein als konkretes göttliches Wesen gedacht wird oder als Wirken einer allem zugrunde liegenden «Energie», hängt also vom jeweiligen Kontext ab. Im Christentum sind mystische Strömungen allerdings nicht unbestritten: Der Dominikanermönch und Mystiker Meister Eckhart (1260 – 1327) zum Beispiel wurde nach seinem Tod von der Kirche als Ketzer verteufelt und viele seiner Schriften gingen verloren.

So unterschiedlichen Religionen wie dem Christentum und dem Buddhismus wohnt freilich die Überzeugung inne, dass Glück im Diesseits weder erstrebenswert noch erreichbar sei. Die Vorstellung des irdischen Lebens als Jammertal, das sich nur im Hinblick auf ein Jenseits sinnvoll leben lässt, ist nicht nur dem Barock ein Begriff. Und der Buddhismus setzt Leben und Leiden sogar gleich, ein Zustand, der sich erst dadurch aufheben lässt, dass man alle Verhaftung an das Leben löst und ins Nirvana – ins «Nichts» – eingeht.

Eine andere Art von – wenn auch zukünftigem – Glück versprechen deshalb die Paradiesvorstellungen. Solche kennen wir vor allem aus dem Christentum, dem Judentum und dem Islam. Die Bibel schildert das Paradies eher abstrakt und vage. Die Erlösten befinden sich in der Nähe Gottes, leben in ewigem Frieden, erfreuen sich eines herrlichen Daseins und preisen Gott mit Lobliedern. Das Wort «Paradies» finden wir im Neuen Testament nur an drei Stellen. Die Offenbarung des Johannes spricht zum Beispiel «vom Baum des Lebens, der im Paradiese steht» – als Nahrung für jene, die getreu ausgehalten haben. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Formulierungen und Bildreden, die mit anderen Worten auf eine paradiesische Existenz im Himmel hinweisen. Dazu gehören u.a. nach die Aussagen von Jesus über das «Himmelreich» oder «Reich Gottes» und vor allem die Weissagungen der Offenbarung des Johannes, der vom «neuen Himmel und der neuen Erde» spricht und vom «himmlischen Jerusalem», einer neuen Stadt, die am Ende der Apokalypse auf der Erde entstehen wird.

Im Judentum spielen Paradiesvorstellungen keine so wichtige Rolle wie im Islam und im Christentum. Der Ort, an dem sich die Gerechten endloser Glückseligkeit erfreuen, wird «Garten Eden» genannt. Im Koran nimmt das Paradies (arabisch Djanna, «Garten») als Aufenthaltsort der Gläubigen nach der Auferstehung als Belohnung für gute Taten und gottesfürchtiges Leben eine zentrale Rolle ein. Die im Koran beschriebenen «Gärten des Paradieses» sind Quartier für alle, «die glauben und tun, was recht ist». Der «Garten der Unsterblichkeit» wird mit zahlreichen Details als Ort des Glücks und der sinnlichen Freuden (mit Flüssen aus Wasser, Milch, Honig und Wein) beschrieben. Die Paradiesjungfrauen, die in vollendeter Schönheit als Lohn für die Gläubigen bereitstehen, sind nach neuester Forschung allerdings umstritten.

Natürlich bestimmte nicht nur die Sehnsucht nach dem Paradies, sondern vor allem auch die Furcht vor der Hölle lange Zeit das Leben der Menschen. Die Vorstellungen von der Hölle sind denn auch viel konkreter als die des Paradieses: Sie ist der «Pfuhl, der von Feuer und Schwefel brennt», in ihr werden die Seelen «Tag und Nacht gequält», und zwar bis in alle Ewigkeit. Wie konkret diese Höllenvorstellungen waren, kann man sich sehr gut vorstellen, wenn man sich den entsprechenden Teil auf dem Gemälde «Der Garten der Lüste» von Hieronymus Bosch betrachtet. Dabei waren Vorstellungen von der Hölle sehr oft von den höchst realen «Höllen» des Alltags im Diesseits inspiriert.

Heute sind es weniger die himmlischen als die irdischen Paradiese, die unsere Vorstellungen von Glück beflügeln. Sie lassen uns Jahr für Jahr während des Urlaubs Flugzeuge, Schiffe und Automobile besteigen, um uns auf die Suche nach unseren Sehnsuchtsorten zu machen, an welchen wir endlich das ultimative Glück finden sollen. Und wem die Verheissung des Glücks nicht vom Paradies aus winkt, der erwartet sie vielleicht von Utopia. Glück in diesem Sinn wäre eine ideale Gesellschaft, in der, zum Beispiel, die Ideale der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – verwirklicht wären. Oder eine Gesellschaft – eine Welt! – in der es wirklich «Wohlstand für alle» (Ludwig Ehrhard, 1957) gäbe. Oder eine Welt des ökologischen Gleichgewichts. Allerdings scheinen diese glückversprechenden Welten ebenso fern wie die Paradiese der Religionen.

Jeder seines Glückes Schmid?
Mit dem Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg brach in den westlichen Industriegesellschaften wieder einmal eine Aera ungezügelten Zukunftsoptimismus und Fortschrittsglaubens an. Doch auch sie löste ihre hohen Erwartungen und Glücksversprechungen nicht ein und der Fortschrittsglaube begann mit der 68-er-Bewegung und der Ölkrise endgültig und unwiderruflich zu bröckeln; der «Club of Rome» proklamierte die «Grenzen des Wachstums». Erich Fromm, der berühmte Philosoph und Soziologe, meint dazu: «Man muss sich die Tragweite dieser grossen Verheissungen und die fantastischen materiellen und geistigen Leistungen des Industriezeitalters vor Augen halten, um das Trauma zu verstehen, das entstand, als der Gesellschaft langsam klar wurde, dass sich ihre Träume nicht verwirklichen würden.»

Heute befinden wir uns – immer noch oder schon wieder – in einer Phase der Desillusionierung. Sie hat zunächst einmal einen schrankenlosen Egoismus und Zynismus hervorgebracht, der manchmal geradezu sozialdarwinistische Züge annimmt. Das Recht des Stärkeren gilt. Wer nicht glücklich ist, ist selber schuld. Die Glücksideologie der westlichen Industriegesellschaften verlangt von uns, zumindest glücklich zu wirken. Das Glücklichsein wird getragen wie ein teures Accessoire, es ist das Attribut jener, die es geschafft haben und die es noch schaffen werden. Wer unglücklich, traurig oder niedergeschlagen ist, macht etwas falsch und gehört verdienterweise auf die Verliererseite: selber schuld und Pech gehabt. All jene, die es nicht schaffen, sind selbst dafür verantwortlich und verdienen nicht unser Mitgefühl, sondern gehören auf die Anklagebank. Sie verkörpern das «Schwache», das es auszumerzen oder zumindest auszugrenzen gilt. «Sozialschmarotzer» und «Scheininvalide» sind Begriffe, die auf Menschen angewandt werden, die auf andere – den Sozialstaat, die Solidargemeinschaft – angewiesen sind, weil sie, so die Diffamierung, zu faul (oder zu blöd) sein sollen, für sich selbst sorgen zu können – etwa so wie heute in Griechenland, wo eine ganze Mittelschicht unter dem Spardruck der EU in die Proletarisierung und ins Prekariat – sprich in die Armut – gezwungen wird. Allerdings mehren sich nach der Bankenkrise die Anzeichen, dass auch dieses Zeitalter sich dem Ende zuneigt und einer hoffentlich etwas menschlicheren Sichtweise Platz machen muss – auch wenn natürlich immer die Gefahr besteht, dass gewiefte Politiker das bestehende Unbehagen auch weiterhin von den Profiteuren der stets weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich auf Sündenböcke, die ganz unten stehen (wie etwa Migranten oder anderweitig «Fremdartige»), umlenken.

Die Gefahr des Glücks
Aber vielleicht ist das «Glück» – als Dauerzustand – für den Menschen ja gar nicht erstrebenswert. Teresa von Avila meinte, über erhörte Gebete seien mehr Tränen vergossen worden als über unerhörte. Paul Watzlawick entwarf mit dem Buch «Anleitung zum Unglücklichsein» ein radikales Gegenstück zu der – vor allem in den USA – weit verbreiteten Ratgeberliteratur rund um das Glück. Er zeigt auf, wie man sein Leben unerträglich gestalten kann. Glück, so Watzlawick, sei schlimmer als die Pest; nichts sei so schwer zu ertragen wie eine Reihe von guten Tagen. Sogar den Tieren gehe es nicht besser: Im Zoo seien sie vor Hunger, Gefahr und Krankheit geschützt – und würden so zu Neurotikern.
Um zu verhindern, dass die Menschen an ihrem Glück ersticken, liefert das Buch von Watzlawick einige wirkungsvolle Rezepte zum Unglücklichsein, die wir Ihnen am Schluss dieses Beitrags nicht vorenthalten wollen:
• Verherrlichen Sie die Vergangenheit («früher war alles besser»).
• Suchen Sie den verlorenen Schlüssel da, wo es Licht gibt und nicht da, wo sie ihn verloren haben.
• Verscheuchen Sie Elefanten: Ein Mann klatscht alle zehn Sekunden in die Hände. Nach dem Grund für dieses Verhalten befragt, erklärt er: «Um die Elefanten zu verscheuchen.» Auf die Bemerkung, dass es hier gar keine Elefanten gebe, antwortet er: «Na, also! Sehen Sie?»
• Wählen Sie auf keinen Fall das rote Hemd: Eine Mutter schenkt ihrem Sohn zwei Sporthemden. Wenn er eines der beiden anzieht, blickt sie ihn traurig an und sagt: «Das andere gefällt dir wohl nicht?»
• Seien Sie unbedingt spontan.
• Helfen Sie jemandem nur, wenn Sie ganz sicher sind, dass sie keine selbstsüchtigen Hintergedanken dabei haben.
• Beobachten Sie die anderen so lange, bis Sie sicher sein können, dass diese sich hinter Ihrem Rücken lustig über Sie machen.
• Treten Sie nie einem Club bei, der bereit ist, jemanden wie Sie aufzunehmen.
• Leihen Sie nie beim Nachbarn einen Hammer aus – denn dieser Rüpel könnte ihn Ihnen vielleicht verweigern. Watzlawick bezeichnet das als die «Konfrontation eines ahnungslosen Partners mit dem letzten Glied einer langen, komplizierten Kette von Fantasien, in denen er eine entscheidende, negative Rolle spielt.»

Wir haben es also tatsächlich selbst in der Hand, das Glück – bis zu einem gewissen bescheidenen Grad. Darüber hinaus gilt wahrscheinlich, was Ernest Hemingway einmal formuliert hat: «Glück ist eine gute Gesundheit und ein schlechtes Gedächtnis.» Oder, in den Worten Theodor Fontanes: «Das Glück ist kein Geschenk – nur ein Darlehen.» Sind wir uns dessen bewusst, dann ertragen wir womöglich nicht nur die unglücklichen, sondern auch die glücklichen Zeiten besser.

Sonntag, 14. August 2011

Literatur und Politik

«Politik ist Verallgemeinern», erklärte mir Leo. «Literatur ist Differenzieren, und die beiden stehen zueinander nicht nur in einem reziproken Verhältnis – sondern in einem feindlichen Verhältnis. Für die Politik ist die Literatur dekadent, schlaff, unerheblich, langweilig, verschroben, fade, etwas, das weder Hand noch Fuss hat und das es eigentlich gar nicht zu geben braucht. Warum? Weil der Wunsch nach Differenzierung schon Literatur ist. Wie kann man Künstler sein und Nuancen ausser Acht lassen? Wie kann man Politiker sein und Nuancen beachten? Der Künstler sieht die Nuance als seine Aufgabe. Die Aufgabe besteht darin, nicht zu vereinfachen. Auch wenn man sich dazu entschliesst, so einfach wie möglich zu schreiben, etwa wie Hemingway, bleibt die Aufgabe, die Nuancen herauszuarbeiten, das Komplizierte aufzuhellen, die Widersprüche darzustellen. Und nicht, die Widersprüche wegzuwischen, die Widersprüche zu leugnen, sondern zu forschen, wo innerhalb der Widersprüche der gepeinigte Mensch zu finden ist. Man muss das Chaos mit einkalkulieren, man muss es zulassen. Man muss es zulassen. Sonst produziert man Propaganda, wenn nicht für eine politische Partei, eine politische Bewegung, dann stumpfsinnige Propaganda für das Leben selbst – für das Leben, wie es sich vielleicht selbst gern in der Öffentlichkeit dargestellt sehen möchte. (…)»

Philip Roth, in «Mein Mann, der Kommunist», übersetzt von Werner Schmitz, rororo Taschenbuch, Seite 275

Montag, 1. August 2011

Eyjafjallajökull oder Das Haus, in dem die Schatten der Vergangenheit wohnen

Er klopfte ohne zu zögern. Er musste mit dem Direktor sprechen, schliesslich hatte sich ein Unglück ereignet, ein Unfall oder gar ein Verbrechen, in das ältere oder alte Damen verwickelt waren. Auf sein Klopfen wurde nicht reagiert. Vorsichtig öffnete Oesch die Tür, trat ein und blieb überrascht stehen. Der Raum war unglaublich gross und in dämmriges Grün getaucht. Überall standen überdimensionierte, tropisch anmutende Pflanzen, riesige Farne, bizarr anmutende Kakteen, Bananenbäume, Heliconien, Orchideen... Oesch war kein Pflanzenkenner, aber ein Pflanzenliebhaber – ihn faszinierte das Büro des Direktors, in dem es feucht, süsslich und erdig roch, in dem die Luft schwer und warm war und durch das Kolibris und andere kleine, bunte Vögel schwirrten. War das möglich? Warum sprengte das Büro des Direktors alle Proportionen, gab es überhaupt Platz in einem Stadthaus für einen riesigen Raum wie diesen? Und warum war das Büro – gar kein Büro? In dieser Halle gab es weder Schreibtische noch Gestelle oder weitere Büromöbel und auch keine Kopiergeräte, Computer und andere Büromaschinen. In diesem Büro gab es Natur pur und sonst gar nichts. Fehlten nur noch die Schildkröten und in den Baumkronen herumturnende Affen. Vom Direktor fehlte hingegen jede Spur.

Oesch versuchte, sich an den Direktor zu erinnern. Er musste den Direktor doch kennen, schliesslich arbeitete er nicht erst seit gestern beim Hilfswerk. Aber sein Gedächtnis liess ihn im Stich. War der Direktor jung oder alt, ein Mann oder eine Frau, ein angenehmer Mensch oder nicht? Oesch musste sich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte. Vielleicht existierte der Direktor gar nicht? Aber ein umfassendes Hilfswerk von einer solchen überragenden Bedeutung musste doch einen Direktor haben – oder etwa nicht?

Oesch drang weiter in den Raum vor. Er fühlte sich trotz seiner Verunsicherung auf eine nicht unangenehme Weise leer, erwartungslos, ja geradezu wurstig gestimmt. Er nahm einen Geruch wahr, der ihn an Zoo und Tropenhaus erinnerte. Er war im Dschungel.

Die Pflanzen, überall die wild wuchernden Pflanzen: Sie riechen, sie bewegen sich, sie greifen nach mir.
Natürlich, die Pflanzen sind lebendige Wesen. Komisch. Das war mir bisher gar nicht recht klar. Die haben zwar kein Hirn und keine Augen und keine Ohren und so. Und doch sind sie aus einem Stoff gemacht, dass sie fühlen können. Aus einem besonderen Stoff, aus einem feinen Stoff: dem Stoff, aus dem die Träume sind.
Ja, sie sind wie Blinde, die Pflanzen. Wie Blinde tasten sie mit ihren knochenlosen Pflanzenarmen in der ewigdunklen Suppe ihrer Umgebung.
Oder, was wahrscheinlicher ist, sie tasten nach mir, unschuldig getrieben von ihrem Instinkt. Sie wollen mich verschlingen. Es sind nämlich Fleisch fressende Pflanzen. Ich bin in einen Urwald geraten. Wie komm ich bloss in diesen Urwald?
Ich muss fliehen.
Aber wohin?
Da, die Tarzanlianen – sieht aus wie in einem Comic-Strip. Ist aber alles echt. Plastisch. Vielleicht ist es ein 3-D-Comic.
Wenn es nur ein Comic wäre! Oder ein Film. Oder ein Traum. Einfach erwachen können – das wäre schön!
Wäre das schön?
Auf jeden Fall mach ich mir hier in die Hosen in diesem Urwald. Wobei ich ja gar keine Hosen anhabe. Ich bin ziemlich nackt. Ich habe nur eine Baseballmütze auf dem Kopf und einen Gürtel mit Dschungelmesser umgeschnallt und grobe Stiefel an den Füssen.
Das kommt davon, wenn man zum Abenteurer geboren ist.
Verdient man aber schwer Geld auf diesen Expeditionen, Goldsucherfahrten, El-Dorado-Trecks.
Was ist denn das für ein Brüllen und Quietschen?
Ach ja, der Urwald. Hab ich schon fast wieder vergessen. Ein Urwald voller Affen, Tiger, Leoparden, Schlangen, Spinnen, Kannibalen…
Ach hör schon auf!
Mir ist komisch. Kalt oder heiss. Zu kalt oder zu heiss. Zu kalt und zu heiss. Ich brauch etwas. ICH BRAUCH ETWAS!
Ich muss raus hier.
Diese geilen Pflanzen versuchen die ganze Zeit, mir zwischen die Beine zu greifen. Ich hab einen Steifen, weiss gar nicht warum. Geil bin ich jedenfalls nicht. «Hart wie der Zahn der Bisamratte…»
Weg da! Pfoten weg!
Ich will in die Stadt! Ich will in die Stadt, denn ich brauche etwas, Geld und ETWAS, ich bin ein Stadtjunge, verdammt noch mal. Ich hasse die Natur. Scheissnatur! Scheissnatur!

Die Stadt.
Die stinkende Welt der Stadt.
Die Welt des täglichen Verkehrskriegs und des vertrauten Bildes von Erbrochenem auf der Strasse.
Der Welt der aufeinander prallenden Menschenmassen in den Einkaufsparadiesen und den Bars.
Die neonfunkelnde Welt der Stadt.

Da vorn ist es ein bisschen lichter. Vielleicht sollte ich auf einen Baum steigen. Vielleicht sehe ich dann was. Ein Hochhaus zum Beispiel. Eine Autobahn. Einen Spielsalon. Einen Waschsalon. Einen Saloon mitten im Wilden Westen. Die Luft flimmert in der Hitze, man hört keinen Ton, aber jetzt hört man das Getrampel von Pferdehufen, und ein Haufen bärtiger Männer mit wilden Gesichtern reitet in die Stadt und hat nichts Gutes im Sinn.

Das ist ja ein Sumpf da vorn. Ein stinkender Sumpf. Es riecht wie im Bumsraum einer ungepflegten Schwulensauna.
Hier hats bestimmt Krokodile.
Die liegen im Wasser und bewegen sich nicht und sehen aus wie ein angefaulter Baumstrunk, aber wenn man ihnen zu nahe kommt, dann schnapp! Gemein wie das Leben.
Ich spüre, wie sich meine Körperhaare aufrichten, eins nach dem andern.
Etwas kommt näher.
ETWAS.
Hilfe, ich will weg hier. Lasst mich raus!
Es ist so eng und feucht und heiss –
krieg keine Luft mehr –
ich – glaub – ich – verrecke –

Scheisstraum das. Dass ich immer so einen Scheiss zusammenträumen muss. Hm, Nachmittagsträume. Ich glaub, ich brauch etwas. Fühl mich wirklich ein bisschen komisch. Wo hab ich denn… Ja: das reicht jetzt noch bis am Nachmittag. Das nehm ich jetzt, und dann will ich noch ein bisschen liegen. Dann träum ich bestimmt nicht mehr solchen Scheiss. Und dann muss ich mir Geld besorgen, mindestens einen Hunderter. Besser natürlich einen Fünfhunderter oder einen Tausender. Vielleicht find ich ja heut einen, der mich adoptiert. Wo sind die Streichhölzer? Eine Zigarette möchte ich rauchen. Nicht jetzt, nachher. Durst habe ich auch. Aber jetzt nehm ich zuerst was. Und dann lege ich mich nochmals ins Bett, um zu überlegen, wie ich denn heute zu Geld komme. Wenn ich doch ein richtiger Krimineller wäre! Wer einen Banküberfall machen will, muss planen und organisieren können, braucht Kreativität, kriminelle Intelligenz, Durchsetzungskraft. Und wenn er die hat, wird er nicht Bankräuber, sondern Banker. Ist einfacher. Bringt mehr Kohle. Geht bei mir nicht. Mach ich halt den Strich.
Ja.
Mhm, schon besser.
Wenn ich jetzt auf den Strich geh, ist mir alles scheissegal. Nun kommt angelatscht, ihr alten, hässlichen, frustrierten Typen mit euern Eheweibern zuhause und den knackigen Söhnen, die ihr nicht anfassen dürft! Mich interessiert Sex nicht mehr, ist eine unappetitliche Sache, und wenn ich einem den Sabberschwanz nuckeln soll, kommt mir echt das grosse Kotzen. Nein, das mach ich nicht mehr mit. Sollen sie an mir rumfummeln, können auch meinen halbsteifen Schwanz lutschen, während sie sich einen runterholen dabei. Manche verlangen, dass man sie anpisst oder ihnen auf den Kopf scheisst, so ekelhaftes Zeug, ist mir auch egal, solange sie mich in Ruhe lassen, ist leicht verdientes Geld. Ja, da trifft man schon ganz komische Vögel.

Also, ich bin vielleicht ja selbst auch ein bisschen schwul, aber nicht richtig, damit, dass ich auf den Strich gehe, hat das nichts zu tun. Ich brauche einfach den Zaster.
Ich bin müde.
Ich möchte ewig so liegen bleiben und gar nicht mehr aufstehen müssen.
Vielleicht ist es so, wenn man tot ist.
So herrlich gleichgültig, satt.
Wie im Paradies.
Wind, kleine flinke Wölkchen am Himmel.
Ein weisses Häuschen, das auf einem Felsen steht hoch über dem Meer.
Junge braune Männer, die ihre nackten Körper über die Klippe segeln lassen.
Junge Männer, die fliegen können.
Wassertropfen schmiegen sich an ihre glatte, braune Haut, während die Sonne ihre Körper küsst.
Dann tauchen ihre Körper ins Meer ein.
Das Leben ist ein Tanz, ein Spiel.
Und rings der Raum so weit, so weit.
Und die kleinen flinken Wölkchen unendlich fern am weiten Himmel.
Und ich sitze auf dem Felsen hoch über dem Meer.
Ich bin nackt, und der Wind und die Sonne liebkosen meine Haut.
Tief unten schäumt und gischt das Meer.
Ganz klein schwimmen die jungen Männer mit ihrer dunklen Haut im Wasser.
Sie rufen mir etwas zu, aber ich verstehe sie nicht.
Ich höre den hellen Klang ihrer Stimmen.
Sie winken mir: Ich soll zu ihnen runterspringen.
Ja, ich will auch ein fliegender Knabe sein.
Ich springe auf die Füsse.
Ich hüpfe auf dem Felsen wie auf einem Trampolin, nackt, schwerelos.
Ich segle über die Klippen und falle langsam wie in Zeitlupe auf die Wasser zu
und tauche ein in das silberne Element,
den reinen Stoff des Lebens.

Scheisse, wie spät ist es? Schon nach vier. Muss wohl wieder eingeschlafen sein. Muss wohl geträumt haben. Ich habe eine Latte. Es war wohl ein erotischer Traum, schade, dass man Träume immer gleich wieder vergisst.
Ich will mal einen Kaffee trinken und eine Zigarette rauchen. Und was essen.
Allzu mager sollte ich nämlich nicht werden.
Das mögen die Freier nicht, so ein klappriges Knochengestell.
Die wollen dralles Fleisch am Arsch und stramme Schenkel, die geilen Böcke.
Mein Gesicht gefällt mir. Die schwarzen Augenbrauen wachsen fast zusammen auf dem zarten Fleisch über der Nase. Jetzt sind die Haare wieder länger: braun und dicht. Lange Haare stehen mir einfach besser als kurze.
Gestern habe ich ein Gesicht gesehen: Schutzlos und schön. Ein fleischgewordener Traum Gottes.
Vielleicht sind wir ja alle Figuren aus den Träumen Gottes.
Vielleicht gibt es Gott ja tatsächlich.
Und manchmal hat Er einen geilen Traum, dann wieder einen Alptraum.
Was Gott wohl empfunden hat, als er mich träumte... ?
Halt, nein: Er träumt mich ja jetzt!
Eigenartig.

Der Kaffee ist heiss.
Ich weiss gar nicht, wie das die Leute machen: acht, neun Stunden am Tag arbeiten. Die zwei, drei Freier, die ich pro Tag bediene, sind rasch erledigt.
Die können ihren Sprutz ja meistens nicht schnell genug loswerden.
Trotzdem: Langweilig wird mir nie.
Einfach die Tatsache, dass man überhaupt lebt.
Eine von Millionen von Samenzellen gewinnt den Wettlauf und befruchtet das Ei.
Im Grunde ist jeder, der geboren wird, schon mal ein ganz grosser Gewinner. So gesehen.
Die Kraft hat alles, was ist, ins Dasein geschleudert, ejakuliert, die Berge, die Bäume, die Autos und die Atomkraftwerke.
Sie macht, dass das Herz schlägt, der Atem geht, die Bagger sich durch das Erdreich wühlen und die Raketen ins All fräsen.
Die Ideen, Gedanken und Gefühle des Wesens, das uns gemacht hat, müssen alle zu Fleisch werden, das ist das Wunder und der Fluch der Existenz.
Ich möchte es verstehen. Ich muss darüber nachdenken.
Unbedingt.
Ich hab doch mal was gelesen über den menschlichen Geist.
Dass dieser Geist pure Magie sei oder so.
Auch die Ideen und Gedanken und Gefühle des Menschen müssten zu Fleisch und Blut werden, zu handfesten Wirklichkeiten.
Deshalb sei alles so, wie es sei, gebe es keinen Ausweg aus diesem Labyrinth.
Es passiere, was passieren müsse. Im Guten wie im Schlechten.
Wenn man mit einem solchen Hunger zur Welt kommt wie die Menschen, dann muss man sich nicht wundern, dass schliesslich alles kahl gefressen ist.
Insbesondere, weil der Appetit mit dem Essen kommt, wie man sagt.

Ich bin müde.
Ich möchte im warmen Wasser liegen.
Der Wind müsste mich in seine Arme nehmen.
Das Feuerchen in meinem Herzen gibt warm.

Dienstag, 12. Juli 2011

Zweiheimisch. Bikulturalität als persönliche Identität und Teil einer sozialen Lebenswelt

Binationale Kinder im Spannungsfeld zwischen zwei (oder mehreren) Kulturen.

Was heisst «binational» oder besser «bikulturell» überhaupt? Von welchem Kultur-, von welchem Identitätsbegriff gehen wir aus? Ist nicht jeder «Fall», von dem wir sprechen, eben ein Einzelfall und müsste gesondert betrachtet werden? Kultur ist nicht etwas Unveränderbares und Statisches. Sie ist in einem ständigen Um- und Aufbau begriffen. Und wenn der Mensch von seiner kulturellen Umwelt – oder seinen kulturellen Umwelten – geprägt wird, ist das doch immer nur ein Teil seiner Identität. Unter Vorbehalt dieser Überlegungen nähere ich mich dem Thema mit der Absicht, auf einige Chancen und Risiken hinzuweisen, die es mit sich bringt, mit zwei Kulturen aufzuwachsen.

Dass in binationalen Familien aufgewachsene Menschen es weit bringen können und oft hervorragende Qualitäten als «Brückenbauer» aufweisen, wissen wir nicht erst, seit Barak Obama Präsident der Vereinigten Staaten wurde. Durch die Globalisierung sind sich die verschiedensten Kulturen tatsächlich sehr nahe gekommen, auch in der Schweiz. Viele Jugendliche aus bikulturellen Familien, aber auch Jugendliche aus Migrantenfamilien der zweiten oder dritten Generation, betonen denn auch, dass es nichts Besonderes sei – oder dass es eigentlich ganz „cool“ sei –, in zwei Kulturen zuhause zu sein. Typisch dafür ist die Aussage der 14-jährigen Sarah: «Mein Leben unterscheidet sich nicht sonderlich von anderen. Oft kam die Frage: ‹Welchem Land fühlst Du Dich mehr zugehörig? Der Schweiz oder Mexiko?› Ich habe darüber nachgedacht und festgestellt, dass ich mich gar nicht entscheiden muss! Ich fühle mich in beiden Ländern zu Hause und könnte mir in beiden Ländern ein Leben vorstellen.»

Wir alle – nicht nur Menschen, die in binationalen Familien aufgewachsen sind – haben inzwischen mehr oder weniger eine Patchwork-Identität. Als gesellschaftlicher Normalfall ist heute weniger ein in ein übergeordnetes Ganzes eingefügtes und einheitliches Identitätsgefüge zu erwarten als vielmehr ein «Patchwork» von unterschiedlichen «Teilidentitäten», die unterschiedlichen Eigenlogiken folgen. Insofern ist die Situation binational aufgewachsener Kinder und Jugendlicher der Normalfall von morgen.

Man kann Binationalität also als verborgenen oder auch schon erschlossenen Schatz sehen, den binationale Kinder und Jugendliche durch ihre spezielle Situation mitbekommen. Probleme mit Binationalität und -kulturalität haben in der Tat oft nicht die, die durch ihre Geburt binational sind. Es ist eher die soziale Umgebung, beim Kindergarten angefangen, die diesen «Schatz» nicht erkennt und es schlecht aushält, wenn die Einordnung in «einheimisch» und «ausländisch» nicht gelingt.

Die Familiensituation binationaler Eltern (im Sinne von schweizerisch-ausländisch) unterscheidet sich von schweizerisch-schweizerischen, aber auch von Migrantenfamilien vor allem in folgenden Bereichen:

Rechtlich untersteht die ausländische Partnerin, der ausländische Partner in einer binationalen Familien nicht selten dem Ausländergesetz. Dies bedeutet u.a.: Wenn der nichtschweizerische Elternteil nicht aus einem EU-Land stammt, (noch) nicht eingebürgert wurde oder die Niederlassungsbewilligung (Ausweis C) erhalten hat, verliert er im schlimmsten Fall bei einer Trennung/Scheidung oder beim Tod der Partnerin, der Partners die Aufenthaltsbewilligung. Diese Situation verschärft sich noch, wenn beide Elternteile nicht schweizerischer Nationalität sind. Besuche der nichtschweizerischen Grosseltern oder anderer Verwandter sind in vielen Fällen vom Familieneinkommen abhängig; der Nachzug von Stiefgeschwistern unterliegt den restriktiven Bestimmungen für Familienzusammenführung; Reisen in andere Länder sind unter Umständen abhängig von Visaerteilungen etc.

Die ökonomische Situation binationaler Familien ist häufig davon geprägt, dass der nichtschweizerische Elternteil auf dem Arbeitsmarkt keine seiner Qualifikation entsprechende Arbeit findet oder auch arbeitslos ist (auch dies gilt vor allem dann, wenn der ausländische Partner aus einem Nicht-EU-Land stammt; gut qualifizierte EU-Bürgerinnen und -Bürger sind in dieser Hinsicht in der Schweiz kaum benachteiligt). Stammt der männliche Teil eines binationalen Paares aus dem Ausland, sorgt oft die schweizerische Partnerin für das Familieneinkommen. Mancher ausländische Ehemann und Vater empfindet diese Rollenumkehrung als demütigend und abwertend, als eine zusätzliche Abhängigkeit und Ungleichheit in der Beziehung des Paares, was sich auch auf die Gestaltung des Familienlebens auswirken kann. Dazu kommt, dass der Kontakt zu der nichtschweizerischen Verwandtschaft eher kostspielig ist – umso kostspieliger, je weiter weg von der Schweiz sie sich befindet. Leben die Verwandten der ausländischen Partnerin, des ausländischen Partners in sehr ärmlichen Verhältnissen, besteht zudem oftmals so etwas wie eine moralische Unterstützungspflicht für sie oder ihn, zum Beispiel, weil die Eltern in Ländern leben, in denen es keine staatliche Altervorsorge gibt und es zu den Pflichten der Kinder gehört, im Alter für Vater und Mutter zu sorgen. Nicht wenige binationale Familien leben deshalb insgesamt in einer Situation, in der die Ausgaben höher und die Einnahmen geringer sind als in anderen Familien.

Die bikulturelle Partnerschaft

Man hört oft die Meinung, dass vor allem binationale Partnerschaften mit Beteiligten aus einander sehr fremden Kulturen belastet und deshalb vom Scheitern bedroht seien. Die Herkunft allein sagt aber nichts über allfällig zu erwartende Schwierigkeiten und vor allem auch nichts über die Bewältigungsstrategien der Beteiligten aus. Viele Faktoren wie Status, Bildung, soziale Herkunft, Sozialisation, gegenseitige Erwartungen aneinander, vorhandene oder fehlende persönliche Ressourcen, individuelle Charaktereigenschaften etc. spielen beim Gelingen einer binationalen Partnerschaft eine ebenso grosse Rolle wie die kulturelle Distanz.

Bikulturelle Paare müssen ihre eigenen gemeinsamen Übereinkünfte bezüglich ihrer Verhaltensmuster und Interaktionsmodelle treffen. In der Literatur habe ich drei «idealtypische Muster» in Hinblick auf kulturelle Anpassung von bikulturellen Paaren gefunden, die ich hier wiedergeben möchte:

• Das einseitige Arrangement: Einer der Partner gibt zugunsten des anderen wesentliche Werte und Verhaltensmuster in sprachlicher, religiöser und sozialer Hinsicht auf und übernimmt stattdessen jene der Partnerin. Gründe dafür können sein: Einer der Partner zeigt deutlich dominantere Züge; die eine Kultur überwiegt im Lebenskontext oder der eine Teil des Paares hat nur noch eine schwache Bindung an seine Herkunftskultur.

• Koexistenz: Die Handlungs- und Wertemuster beider Kulturen werden abwechslungsweise gelebt, es werden Kompromisse geschlossen oder Mischungen zwischen den Konzepten ausprobiert. Ein relatives Gleichgewicht entsteht. Gründe dafür können sein: Beide Partner schätzen die jeweils anderen Verhaltensmuster, sie geniessen die Vielfalt oder sie möchten ihre einseitige Fixierung auf ihre eigene Herkunftskultur «aufweichen».

• «Kreatives Arrangement»: Das Paar führt neue Verhaltensmuster ein, entweder weil sich beide kulturellen Muster als zu konflikthaft erweisen oder weil das Paar ihre bisherigen Werte und Verhaltensmuster selbst in Frage stellt. Es entsteht ein so genannter «dritter Weg».

Wie das Paar mit den unterschiedlichen Kulturen umgeht, hat natürlich auch einen Einfluss auf die Kinder und Jugendlichen in der Familie. Aspekte der Selbstverortung bzw. Aspekte der Fremdzuschreibung spielen eine wichtige Rolle bei der Identitätssuche und -findung von Jugendlichen. Die Kinder und Jugendlichen sind nicht nur in einen bikulturellen Kontext, sondern manchmal auch in einen bilingualen Kontext eingebettet. Werte und Normen der Eltern können annähernd deckungsgleich, aber auch stark divergierend sein. Die Art zu denken, bestimmte Werte zu vertreten, aber auch geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und Normen sowie die verbale und nonverbale Kommunikation können kulturspezifisch geprägt sein.

Prüfstein für jede partnerschaftliche Lebensgemeinschaft ist die Alltagsbewältigung
mit ihren ganz konkreten Aufgaben und Herausforderungen. Wenn es dem Paar gelingt, sich sozusagen als Team zu verstehen, sich im Sinne eines kultur-, geschlechts- und rollenunabhängigen «Familienunternehmens» gegenseitig zu unterstützen, ohne dabei die eigene kulturelle Tradition und Herkunft verstecken oder verleugnen zu müssen, dann kann davon ausgegangen werden, dass diese emanzipatorische Leistung für alle Beteiligten bereichernd und befruchtend ist und sich dementsprechend in solchen Familien für Kinder und Jugendliche positive Lernfelder eröffnen.

Dabei geht es nicht um Gleichmacherei oder kulturelle Plafonierung. Berechtigte Differenzen dürfen und sollen sein. Aber sie müssen eingebettet sein in einen Rahmen, der das ganze Familiengefüge zusammenhält. Was für die interkulturelle Gesellschaft gilt, gilt sinngemäss auch für die binationale Familie: Nur die Balance von rechtlicher Gleichheit und kultureller Verschiedenheit macht eine interkulturelle Gesellschaft möglich.

Innen- und Aussensicht

Je nach Innen- oder Aussensicht unterscheidet sich die gesellschaftliche Einordnung von Kindern und Jugendlichen in binationalen Familien manchmal gewaltig. Wir haben gesehen, dass die Kinder und Jugendlichen selbst ihre Zugehörigkeit zu zwei Kulturen sehr oft als bereichernd empfinden. Von ihrer Umgebung bekommen sie allerdings nicht selten ein negatives Feedback, indem sie als «anders», «fremd», «nicht dazu gehörig» eingestuft werden. Kinder aus binationalen Familien wachsen häufig zweisprachig auf. Sie erfahren durch Kontakte mit der ausländischen Verwandtschaft anderskulturelle Familienstrukturen als eine andere Normalität. Diese Heterogenität finden sie in ihrem Schweizer Alltag oftmals nicht; ihre Fähigkeiten (Umgang mit kultureller wie persönlicher Differenz; Kenntnis anderer Rituale, anderer Feste und anderer Formen des Gemeinschaftslebens; Mehrsprachigkeit etc.) werden nicht als solche anerkannt resp. gefördert, sondern negiert oder unter Umständen gar mit Sanktionen belegt. Kulturelle Unterschiedlichkeit, anderes Aussehen, unterschiedliche Denkmuster und Verhaltensweisen werden von der Mehrheitsgesellschaft manchmal als defizitär oder zumindest «problematisch» wahrgenommen und stehen damit im Widerspruch zu der Selbstwahrnehmung der Kinder und Jugendlichen.


Deshalb gibt es Kinder und Jugendliche aus binationalen und eingewanderten Familien, die froh wären, wenn man ihnen die Bikulturalität nicht anmerken würde. Es gehört zu ihrer Realität, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung, im Kontakt mit Nachbarn, Lehrern, im Betrieb oder in der Freizeit manchmal darauf reduziert werden, «Ausländer» zu sein, auch wenn sie das gar nicht sind oder sich zumindest so nicht fühlen. Die sicherlich oft interessiert gemeinte Frage «Woher kommst du?» oder die anerkennende Feststellung «Du sprichst aber gut Deutsch» ist für einen jungen Menschen, der nie woanders gelebt hat und mit der einheimischen Sprache zumindest seit dem Kindergarten vertraut ist, im günstigen Fall eine hohe Irritation. Die indirekte Mitteilung «Du gehörst nicht dazu, du bist anders» ist ja auch für viele Kinder von Migrantinnen und Migranten, die hierzulande aufgewachsen sind, eine individuelle Kränkung und ein soziales Dilemma. Die Reaktionen der Kinder und Jugendlichen darauf sind unterschiedlich: manche betonen ihr Anderssein bis hin zur Selbst-Ausgrenzung, andere versuchen, die Bikulturalität ihrer Biografie zu verdrängen. Für die allermeisten ist es schwierig, in einem Alter, in dem die Suche nach Zugehörigkeiten vorrangiges Bedürfnis ist, Ausgrenzung zu erfahren, die von ihnen nicht beeinflusst werden kann.

Alle Jugendlichen werden in der Identitätsfindung mit den Fragen konfrontiert: Wo gehöre ich dazu? Wo will ich dazugehören? Wovon möchte ich mich abgrenzen? Mit welchen Personen möchte ich in Kontakt treten und zu welchen Gruppen dazugehören? Welchen Belastungen zum Beispiel in Form von Gruppendruck, familiären Erwartungen und anderem kann ich mich entziehen und wo gelingt dies nicht? Manchmal wird für die erkämpfte Autonomie oder für die konformistische Anpassung ein sehr hoher Preis bezahlt. Diese Suche nach Antworten ist eine immens wichtige Entwicklungsaufgabe, die sich für den jungen Menschen stellt – auch für den jungen Menschen mit binationalem Hintergrund.

Wenn die Identifizierung mit der Peer-Group, also den Gleichaltrigen, immer mehr zunimmt, tritt die kulturelle Herkunft scheinbar in den Hintergrund. Jugendliche haben ihre eigene Kultur, die sich bewusst von der Kultur der Erwachsenen abhebt – sei es nun die schweizerische oder eine andere. Die «Jugendkulturen» bedienen sich virtuos der Elemente von verschiedensten Kulturen und kreieren daraus ihren eigenen kreativen Mix.

Aber es gibt auch bikulturelle Jugendliche, die in der wichtigen Entwicklungsphase der Identitätsfindung Schwierigkeiten haben, sich zwischen unterschiedlichen und manchmal widersprüchlichen kulturellen Werten zu orientieren. Einige finden dann Orientierung darin, dass sie sich besonders eindeutig zu einer bestimmten Kultur bekennen. Ist dies der Fall, so kann man erleben, wie die Jugendlichen gewisse in dieser Kultur verkörperte Ideale besonders hervorheben, verteidigen und vertreten. Werte und Ideale eignen sich nämlich hervorragend zur Identitätsstiftung. Diese Werte werden mitunter spezifisch definiert und ausgelegt. Durch sie erhält der Jugendliche die Möglichkeit, sich zu identifizieren und gleichzeitig abzugrenzen. Damit kann er ein klares Bekenntnis ablegen, ein Zugehörigkeits- und «Wir-Gefühl» zum Ausdruck bringen. Für manche Jugendliche ist dies ein Ausweg aus einer als schwierig empfundenen Ambivalenz.

Bikulturelle Jugendlichen mussten, ich sage es noch einmal, schon als Kinder oft hin- und herwechseln zwischen den Verhaltensanforderungen des Domizillandes, dem Kulturverständnis des Vaters und dem Kulturverständnis der Mutter. Sowohl sprachlich als auch gedanklich – in fast automatischer Abgleichung – switchen sie zwischen ihren diversen Kulturerwartungen und Erfahrungen hin und her. Das erfordert von ihnen Flexibilität in der Kontextvielfalt. Oft können binationale Jugendliche das ganz selbstverständlich und – wie es scheint – mühelos leisten. Manchmal aber finden sie sich in Situationen wieder, in denen sich die Frage der kulturellen Zugehörigkeit zuspitzt. Sie werden dann durch spezifische Erwartungen – aber auch zwischen «Tradition» und «Moderne» – hin- und hergerissen.

Risiken und Chancen

Wir sehen schon jetzt, dass Risiken und Chancen bikulturellen Aufwachsens nahe beieinander liegen. Wir haben es angesprochen: Damit aus Ressourcen Kompetenzen werden, braucht es ein soziales Umfeld, in dem die Vielfalt gelebt werden kann, nichts Abweichendes und nichts Besonderes, sondern selbstverständlicher Bestandteil des Alltags ist, Normalität eben. Wenn kulturelle Pluralität nur in der Abweichung auffällt, ist dies der Spiegel eines monokulturell eingeschränkten gesellschaftlichen Horizontes, der diese Pluralität nicht zu integrieren versteht. Die Trennlinie zwischen Chancen und Risiken verläuft entlang sozialer wie kultureller Benachteiligung und ist nicht in der ethnischen Herkunft begründet

Die Mehrheit der bikulturellen Jugendlichen lernt schon früh, zwischen den unterschiedlichen kulturellen Angeboten zu wechseln und je nach Situation das entsprechende Verhaltensmuster anzuwenden. Im Zeitalter der beruflichen Mobilität und der Erwartung an ständige persönliche Veränderung ist diese biografische Verortung im Sowohl-als-auch durchaus ein Lebensmodell der Zukunft und zum Teil auch schon der Gegenwart. Binationale Jugendliche haben die Chance, divergierende Grundhaltungen des Lernens, die von den Bezugspersonen unterschiedlich stark vorgelebt werden und mit Beziehungsarbeit verknüpft sind, zu adaptieren und damit offen und tolerant den Umgang zu pflegen.

Fast alle Jugendlichen, die bikulturell aufwachsen, bilden unterschiedliche Sprachkompetenzen aus. Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, haben in ihrem Ausdruck mehr Wahlmöglichkeiten, denn der Gebrauch der jeweiligen Sprache ist an Gefühle, bestimmte Handlungen, Orte oder Personen gebunden. Eine gelungene mehrsprachige Erziehung fördert das Denken in unterschiedlichen Strukturen und unterstützt damit nicht zuletzt den intellektuellen Zugang auch in anderen Bereichen.

Binationale Jugendliche können mitunter Kenntnisse mehrerer Sprachen vorweisen, die meistens entweder von der Mutter oder vom Vater vermittelt wurden. Bedauerlicherweise sind die Jugendlichen manchmal aber auch damit konfrontiert, dass sie weder die eine noch die andere Sprache gut genug beherrschen und sich dies oft auch in mangelnder Kompetenz der Sprache des Domizillandes ausdrückt. Dies ist häufig dann der Fall, wenn Mutter und Vater eine andere Sprache sprechen als die Sprache des Domilzillandes, also zum Beispiel bei binationalen Familien ohne deutschsprachigen Elternteil, die in der deutschen Schweiz leben. Bei Kinder/Jugendlichen, deren einer Elternteil die Sprache des Domizillandes spricht, ist dies in der Regel nicht der Fall. Im Gegenteil: Die Sprachkompetenz von auf diese Weise zweisprachig aufwachsenden Kindern ist überdurchschnittlich hoch.

Untersuchungen zeigen, dass kompetent mehrsprachige Kinder und Jugendliche Unterschiede bewusster reflektieren und ihnen der Umgang mit Vielfalt leichter fällt. Die mit den Sprachen erlebte Erfahrung von Wechsel und Mischung als individueller Ausdruck ermöglicht ihnen auch, eine entsprechende Haltung zu unterschiedlichen kulturellen Traditionen und Lebensformen zu entwickeln – ein unschätzbares Kapital in einer globalisierten Welt. Bilinguale junge Erwachsene wissen das: viele von ihnen pendeln zwischen den Ländern (und Sprachen) und kultivieren die Transkulturalität zu ihrem Lebensstil. Dies ist ein Potenzial, das aktuell jedoch noch weitgehend brach liegt. Die erschreckenden Zahlen über Schul- und Ausbildungsabschlüsse von Jugendlichen aus eingewanderten Familien lassen vermuten, dass hier die grösste Diskrepanz zu finden ist zwischen Ressourcen einerseits und der Transformation in Kompetenzen andererseits.

Bikulturell aufwachsende Menschen erleben familiäre Normalität als mehrdimensional. Die unterschiedlichen Alltagsgewohnheiten mischen sich zu neuen Formen des Zusammenlebens. Kulinarisch ist dieser Mix aus multikulturellen Angeboten ja inzwischen auch im kleinsten Dorf zur Realität geworden. Im Haushalt steht neben dem Samowar die Espresso-Maschine, wird der Ramadan gefeiert und im Dezember ein Weihnachtsbaum aufgestellt. Zur engeren Familie gehören diverse Tanten und Onkel, viel Besuch zu haben ist eine Selbstverständlichkeit. Kinder und Jugendliche aus binationalen oder eingewanderten Familien haben oft Verwandte in der ganzen Welt. Sie fahren nicht als Touristen ins Ausland, sondern sie erleben dort einen anders strukturierten, für sie aber völlig normalen Familienalltag. Eine solche Lebenswelt erfordert ständige Anpassungsprozesse, eine hohe Sensibilität für situatives Handeln und ein ständiges Austarieren zwischen den eigenen Bedürfnissen und der Rücksichtnahme auf andere. Wer so aufwächst, lernt viel für ein Leben in einer hoch differenzierten Gesellschaft.

Bikulturelle Jugendliche haben sich in ihrer Adoleszenz oft mit sehr diskrepanten Erwartungen an die jeweilige Geschlechtsrolle auseinander zu setzen. Sie erleben in der Familie und in ihrem sozialen Umfeld unterschiedliche Bewertungen, wie Mann und Frau zu sein haben. Das ist manchmal nicht ganz leicht zu handhaben; Loyalitätskonflikte sind vorprogammiert. Dazu kommt, wir haben es gesagt, dass die Adoleszenz die Zeit der Ablösung von familiären Strukturen ist und die Aufforderung beinhaltet, sich in der sozialen Umwelt als eigenständiges Individuum zu positionieren. Letzlich haben bikulturell aufwachsende Jugendliche aber auch in dieser Hinsicht die Chance, durch die wechselnde Identifikation mit den kulturellen Prägungen ihrer Eltern und den Angeboten ihres aktuellen Lebensumfeldes eine Identität auszubilden, die mit unterschiedlichen Perspektiven spielerisch umgehen kann. Sie lernen früh, die damit einhergehenden Konflikte als Normalität anzusehen und die Möglichkeiten und Grenzen von Kompromissbildungen zu erproben.

All dies sind Chancen, Vorteile. Und die Risiken, die Nachteile? Die liegen vor allem darin, dass die jungen Menschen eben nicht – oder noch nicht, oder nur teilweise – in einer interkulturellen Lebenswelt aufwachsen. Ganz allgemein könnte man sagen, dass binational aufwachsende Jugendliche in einem akzentuierten Spannungsfeld stehen; die Komplexität des Lebens bekommen sie besonders stark zu spüren, sind aber auch besonders gut dafür gerüstet, damit umzugehen. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass dies eine anspruchsvolle Aufgabe ist, die von den Kindern und Jugendlichen je nach vorhandenen Ressourcen unterschiedlich gut bewältigt werden kann. Ob es gelingt, wird, wie gesagt, von sehr viele Faktoren beeinflusst.

Binationale Jugendliche laufen vor allem dann Gefahr, sich zu überfordern und/oder überfordert zu werden und damit Schaden zu nehmen,
• wenn sie zu sehr zwischen den divergierenden kulturellen Erwartungen der Eltern und evtl. auch noch der Kultur des Landes, in dem sie leben, hin- und hergerissen fühlen
• wenn sie es allen Seiten recht machen wollen und sich dabei selbst aus den Augen verlieren
• wenn sie vehement nur eine Seite idealisieren und die andere ständig abwerten müssen.

Ressourcen, die sich positiv dagegen auswirken, sind
• die Fähigkeit, psychologischen Stress zu bewältigen
• die Fähigkeit, effektiv zu kommunizieren
• die Fähigkeit, interpersonale Beziehungen aufzubauen.

Diese Fähigkeiten werden vor allem in der Familie ausgebildet. Aber auch die Schule und die Gesellschaft insgesamt sind hier – zum Wohl aller – gefordert.

Versuch einer Zusammenfassung

Zu den Stärken binationaler Jugendlicher gehört – wir haben es mehrmals betont – das Entwickeln von spezifischen interkulturellen Kompetenzen und ihr grosszügiges Verständnis für andere in ähnlicher Lage. Letztlich ist die kulturelle Zugehörigkeit binationaler Jugendlicher ein zentrales Lebensthema, das nicht per se Zerrissenheit impliziert – oder nur insofern, als wir alle von einer gewissen Zerrissenheit betroffen sind, mit der die «Monkulturellen» aber vielleicht weniger gut umgehen können als die «Bikulturellen». Und es ist der Umgang mit der Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen Kulturen eine sehr individuelle, eng mit der persönlichen Entwicklungsgeschichte verknüpfte Möglichkeit, die viele Chancen, Risiken und Herausforderungen beinhaltet. Wie anfangs gesagt: Das kulturelle Lebenskonzept wird ja auch stark individuell definiert. Hier hören die Möglichkeiten, Allgemeinverbindliches zu diesem Thema zu sagen, eben auch wieder auf.

Griot Mi Schwiz

Sonntag, 8. Mai 2011

Politik für Milliardäre

Parteipolitik hat sich in den letzten Jahren immer mehr von der Sachpolitik entfernt und ist zum reinen Marketing verkommen. Das heisst, dass nicht mehr die politische Lösung von Sachproblemen im Vordergrund steht, sondern die Frage, wie zusätzliche Wählerstimmen geholt werden können. Natürlich gehört Politikmarketing – die wählerorientierte Entwicklung und Vermarktung der Politik oder einer politischen Partei – zur Politik. Politikmarketing als notwendiges Übel ja, als Selbstzweck nein.

Von dieser Tendenz zum Überhandnehmen des Politikmarketings zuungunsten der lösungs- und konsensorientierten Sachpolitik ist keine der Parteien ausgenommen. Die einen machen es geschickter, die anderen weniger geschickt; die einen mit weniger Mitteln, die anderen mit dem ganz dicken Portemonnaie. Das macht die weniger geschickten – und damit weniger erfolgreichen – zwar eher sympathisch, verhilft ihnen aber natürlich nicht zu grösserem politischem Gewicht.

Es gibt in der Schweiz eine Partei, die das Spiel des politischen Marketings perfekt beherrscht. Es ist die Partei, die zuerst erkannt hat, wie wichtig dieses Marketing für den politischen Erfolg ist. Es ist auch die Partei, die die meisten Mittel dafür aufwendet – und die meisten Mittel dafür aufwenden kann. Klar – schliesslich ist es die Partei der Milliardäre; jene Partei, die Politik für Milliardäre macht.

Was heisst das nun – Politik für Milliardäre (zu denen ich hier auch diejenigen mit den vielen Millionen rechne, die es – noch? – nicht ganz in den Club der Milliardäre geschafft haben). Es bedeutet Steuersenkungen auch – und gerade – für die ganz Reichen, es bedeutet die Senkung der Staatsausgaben. Die Partei, von der ich spreche, ist die einzige Partei mit einer konsequent neoliberalen Politik in der Schweiz, einer Politik, die sich für einen schrankenlosen, von allen Fesseln befreiten Kapitalismus stark macht – und damit für einen möglichst schwachen Staat. Ein starker Staat wird von ihr nur in Sicherheitsfragen toleriert – wenn es darum geht, einen (imaginären oder realen) äusseren oder inneren Feind zu bekämpfen. Und allenfalls noch dann, wenn es darum geht, die Bauern – ursprüngliche Kernwählerschaft – vor ausländischer Konkurrenz zu schützen (und damit, nebenbei gesagt, auch wieder gegen die eigenen neoliberalen Prinzipien zu verstossen).

Wie machen die das?
Wir schafft es die Partei für Milliardäre, die eine Politik für Milliardäre macht, zu der wählerstärksten Volkspartei zu werden? Schliesslich sind Milliardäre auch in einem reichen Land wie der Schweiz nicht gerade in der Mehrheit. Das erfordert doch eine wahrhaft herkulische Leistung von den PR-Fachleuten der Partei. Wie machen die das?

Zunächst geht es natürlich darum zu verschleiern, dass die Partei Politik für Milliardäre macht – oder vielmehr zu suggerieren, dass diese Politik auch anderen Wählerschichten zugute komme: zum Beispiel dem Mittelstand, aber auch ganz generell allen «guten», «richtigen» Schweizern. Ein starkes, durch keine gesetzlichen Schranken behindertes Unternehmertum schaffe Arbeitsplätze; die Bedrohung von Sicherheit und Wohlstand erfolge ausschliesslich durch einen zu bekämpfenden inneren und äusseren Feind (EU, Ausländer generell, Scheininvalide, Sozialschmarotzer, Linke und Nette, Classe politique).

Das führt uns zum entscheidenden Hebel, an dem das Politikmarketing der Partei ansetzt: der Schaffung von Feindbildern. Dass Politikmarketing mit Feindbildern operiert, ist zwar auch bei anderen Parteien nicht gerade der Ausnahmefall, wird aber von keiner anderen Partei so permanent und konsequent umgesetzt und durchgezogen.

C.G. Jung hat das Konzept des Schattens entworfen, wobei der Schatten sozusagen die dunkle, im Schatten liegende Seite der Persönlichkeit ist. Er setzt sich aus all jenen mit den bewussten Identifikationen des Ich unvereinbaren Aspekten, Neigungen und Eigenschaften eines Menschen zusammen, die wir nicht in unsere bewusste Persönlichkeit integriert haben. Solange keine bewusste Auseinandersetzung des Ich mit diesem unbewussten Schatten stattgefunden hat, kann dieser nur ausserhalb des Ich wahrgenommen werden und wird deshalb häufig auf andere Personen und Personengruppen projiziert.

Insofern passt das Marketing-Konzept der Partei recht gut zur Erklärung des Schattenprinzips von C.G. Jung. Die Feindbilder der Partei sind sozusagen der «Schatten» der Schweiz, aber auch jeder einzelnen Wählerin und jedes einzelnen Wählers. Das, was uns bedrohlich erscheint, wird auf einen äusseren und inneren Feind projiziert, den man nun nur noch bekämpfen muss – indem man die Partei wählt, die das stellvertretend für uns tut –, damit alles gut wird und wir uns vermeintlich sicher fühlen können. «Jedem SVPler steht die Schweiz näher als die eigene Partei. Dies ist wohl der wesentliche Unterschied zu allen anderen Parteien, welche vor allem für die eigene (Partei-)Befindlichkeit und die Pöstchen einstehen, anstatt für die Unabhängigkeit und Freiheit unseres Landes», schreibt beispielsweise SVP-Nationalrat Alfred Heer.

Insofern ist der Erfolg der Partei auch eine Folge der Globalisierung. Diese löst Ängste aus, die nun nach Jungs Schattenkonzept auf ein Feindbild projiziert werden und damit aushaltbar gemacht werden kann. Dieses Bedrohungsgefühl ist gleichzeitig sehr diffus und tief sitzend, es betrifft den Identitätsverlust und das Gefühl, dass die Anderen, Fremden uns etwas wegnehmen könnten.

Feindbild Nr. 1: Ausländerinnen und Ausländer, alles «Fremde», «Unschweizerische» generell. In diesen Komplex gehören natürlich die EU, aber auch andere intergouvernementale und vor allem supranationale Strukturen (UNO, NATO, Abkommen von Schengen und Dublin). Dazu gehören Asylsuchende und alle Arten von Einwanderern. In dieses Kapitel gehört natürlich auch die Minerettinitiative, gehören Plakate wie jenes von den dunklen Händen, die nach dem Schweizerpass greifen, die Schäfchenplakate, die Plakate, die Ausländer als Mörder und Vergewaltiger zeigen etc.

Feindbild Nr. 2: «Sozialschmarotzer» und «Scheininvalide». Jede und jeder ist für sich selbst verantwortlich. All jene, die es nicht schaffen, sind selber schuld. Sie verkörpern das «Schwache», das es auszumerzen gilt. «Sozialschmarotzer» ist ein seit etwa Ende der 1970er Jahren verwendetes pejoratives Schlagwort für einen Einzelnen oder eine Gruppe von Menschen, die eine andere soziale Gruppe (z. B. einen Sozialstaat oder eine Solidargemeinschaft) „ausbeuten“ würden. Gelegentlich wird die Bezeichnung polemisch in Medien und politischen Debatten allgemein auf Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Langzeitstudenten, Asylanten, Totalverweigerer, Kinderlose oder auch Kinderreiche erweitert. Seltener werden auch Leute als «Sozialschmarotzer» bezeichnet, die notwendigerweise, wie etwa aus gesundheitlichen Gründen, aufgrund hohen Lebensalters oder aus Verfolgung auf soziale Hilfe angewiesen sind. Oft werden Personen, die angeblich oder tatsächlich unberechtigt staatliche Transferleistungen erhalten (Leistungsmissbrauch bzw. Sozialhilfemissbrauch) oder die Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung begehen, so bezeichnet. Steuerhinterzieher sind allerdings eher nicht gemeint, wenn die SVP von Sozialschmarotzern spricht.

Feindbild Nr. 3: Die Linken und die Netten. Unter dem Stichwort «Folgen der Multikultur» sagte SVP-Nationalrat Yvan Perrin in einem Referat zur «Ausschaffungsinitiative» 2010: «Die grassierende Ausländerkriminalität hat eine ideologische Grundlage: sie heisst Multikultur. Und für die grassierende Ausländerkriminalität gibt es politisch Verantwortliche: Es sind die Linken und Netten. Sie heissen SP, Grüne, CVP und FDP. Sie schwärmen von einer neuen Schweiz; von einer offenen Schweiz, die ihres Traditionsfundamentes beraubt der vielfarbigen Benetton-Werbung gleicht. Als Allianz weltfremder Träumer haben Linke und Nette während Jahren im Bundesparlament und in den Kantonsparlamenten alle Vorstösse und Lösungsbemühungen der SVP abgelehnt und abgeblockt. Die Folge ist eine verantwortungslose Schleusen-Auf-Politik.»

Interessant an diesem Zitat ist der Begriff der «Schleusen-Auf-Politik», der sehr schön das Konzept des Schattens, der auf ein Feindbild projiziert wird, illustriert. Das «Böse» kommt von aussen, es bedroht, mit Hilfe von «Kollaborateuren mit dem Feind» im Innern, die «heile Welt der Schweiz», die es zwar nie gegeben hat, die aber zweifellos eine schöne Wunschprojektion der Parteianhängerinnen und -anhänger ist, eine heile Welt, in der der Parteipräsident mit einem Lämmchen auf dem Schoss vor seinem bäuerlichen Anwesen sitzt, in der es keine Drogen und keine Kriminalität und keine arbeitenden Mütter gibt. Yves Perrin schliesst seine Rede mit dem ebenfalls aufschlussreichen Zitat: «Es ist somit an der SVP, das Bedürfnis der Schweizerinnen und Schweizer nach mehr Sicherheit, mehr Grenzen und vor allem nach konsequentem Durchgreifen beim Überschreiten der Grenzen, aufzunehmen und umzusetzen.»