Donnerstag, 29. Mai 2008

Auf der Flucht (Teil 3)




Als Wolf, nachdem er lange und ausgiebig geduscht hat, ins Zimmer zurückkommt, scheint der Junge bereits tief und fest zu schlafen. Einer Intuition folgend, durchsucht Wolf die Taschen der Hosen des Jungen, die auf einem Stuhl liegen. Und tatsächlich befinden sich neben einigen zerknüllten Bath-Tausendernoten auch ein paar DM-Hunderter darin. Als Wolf seine Geldbörse kontrolliert, stellt er fest, dass ihm genau dieser Betrag fehlt. Wolf lächelt und macht dann ein böses Gesicht. Unsanft packt er den Jungen, der sich schlafend stellt, an den Schultern und fährt ihn, während er ihm anklagend die Banknoten unter die Nase hält, barsch an, dass er gehen solle. Nun beginnt ein grosses Lamento: Mit zusammengelegten Händen und auf dem Boden kniend wie zum Gebet fleht der Junge aus Lamphun Wolf an, ihn doch nicht wegzuschicken, ihm zu verzeihen, er sei ein sehr armer Junge und habe kein Geld. Wolf ist nicht wirklich wütend, viel eher amüsiert und ein klein wenig betroffen, aber das zeigt er dem Jungen natürlich nicht. Inzwischen ist es vor dem Fenster bereits wieder heller Tag, und Wolf merkt, dass er hundemüde ist. Wolf steckt die Bath-Noten in die Hosentasche des Jungen zurück und macht ihm noch einmal unmissverständlich klar, dass er sich vom Acker machen solle. Wolf will jetzt nur noch seine Ruhe haben und schlafen. Mit den vier- oder fünftausend Bath, die er dem Jungen lässt, ist dieser weiss Gott geradezu fürstlich entlohnt. Wolf ist nicht so heuchlerisch, dass er dem Jungen dessen kriminelle Energien übel genommen hätte, aber er traut ihm nun natürlich erst recht nicht mehr und muss womöglich gar um seinen Koffer voller Geld im Schrank fürchten. Aber er wird den Jungen, der nicht aufhört, zu betteln und zu beschwören und zu versprechen, erst dann los, als er ihm gelobt, ihn anderntags wiederzusehen. Wolf denkt allerdings nicht im Traum daran, diesen Schwur zu halten, auch wenn er dadurch den Menschen, den er noch vor Stunden für den allererotischsten auf der ganzen Welt gehalten hat, womöglich nie mehr sieht – der ist verweht, vergangen wie eine Fata Morgana.

Als Wolf erwacht, stellt er mit Erstaunen fest, dass es bereits wieder früher Nachmittag ist. Sein Zeitgefühl ist noch immer durcheinander. Er fühlt sich erfrischt und unbelastet vom Nachhall irgendwelcher dunklen Träume. Er fühlt sich sogar ausgesprochen gut: Das Leben liegt gewissermassen wie eine weite, fruchtbare Ebene vor ihm, er ist frei und hat alle Möglichkeiten dieser Welt, diese Freiheit so zu nutzen, wie es ihm passt. Er merkt gar nicht, dass er lauthals unter der Dusche singt, denn in seinen Gedanken ist er bereits daran, zu planen, was er es als nächstes unternehmen will. In Bangkok will er keinesfalls länger als ein paar Tage bleiben. Er will sich einen vertrauenswürdigen Jungen suchen und sich von dem dann dessen Heimatdorf zeigen lassen, im Norden oder Nordosten oder auch im muslimischen Süden des Landes – das ist immer noch die beste Art, Thailand kennen zu lernen. In zwei oder drei Wochen will er sich dann mit seinem Freund treffen – dann erst wird er offiziell in Thailand eingetroffen sein. Anschliessend gilt es, Geschäfte zu tätigen und Investitionen zu planen. Noch tropfend geht Wolf zum Schrank, um sich ein sauberes T-Shirt und eine leichte Baumwollhose zu holen. Doch während er die Schranktür öffnet, breitet sich in seinem Bauch ein siedend heisses Gefühl aus, das die Extremitäten beinahe taub werden lässt. Noch bevor die bewusste Erkenntnis sich in seinem Hirn festsetzen kann, blinken überall in seinem Körper Warnlichter auf: Etwas stimmt nicht. Und dann weiss er auch schon, was dieses Etwas ist: der Metallkoffer mit dem Geld, mühsam erbeutet und redlich gestohlen mit der Neunmillimeterkreditkarte und mit viel Glück durch Zollabfertigungen und Zolleinfuhren geschleust, ist weg, ist einfach nicht mehr da. Wolf fühlt sich einen Moment lang so, als würde ihm der Boden unter den Füssen weggezogen. Panik steigt in ihm auf; Schweiss tritt ihm auf die Stirn. Die Gedanken wirbeln wild durcheinander: Der Koffer ist weg, also muss ihn jemand genommen haben; derjenige, der ihn genommen hat, muss sofort gefunden werden. Der Junge mit den Segelohren, geht ihm als erstes durch den Kopf – der muss es gewesen sein, ich muss ihn finden, und zwar jetzt. Noch spürt er keinen Ärger, keine Wut, nur Panik und Entsetzen. Bis auf ein paar wenige hundert DM und ein paar lächerliche tausend Baath hat er nun kein Geld mehr, ist quasi über Nacht vom Krösus zum armen Schlucker geworden. Ich muss ganz ruhig sein, sagt er eindringlich zu sich, schön langsam überlegen. Sein Mund ist völlig ausgedörrt, und sein glühender Körper mit kaltem Schweiss bedeckt. Er nimmt sich ein Wasser aus dem Kühlschrank und zündet eine Zigarette an. Der segelohrige Junge aus Lamphun kann durchaus der Kofferdieb sein, das ist keineswegs auszuschliessen – er kann, aber er muss es nicht gewesen sein. Es ist nicht einmal wahrscheinlich, dass er es gewesen ist. Oder doch? Er hat Geld aus Wolfs Portemonnaie klauen können, während der unter der Dusche stand, also hätte er in diesem Zeitraum auch einen Metallkoffer aus einem Schrank entwenden und ihn irgendwo ausserhalb des Zimmers versteckt haben können. Allerdings – warum hätte er dann auch noch das bisschen Kohle aus Wolfs Brieftasche klauen sollen? Aber vielleicht wusste er damals ja noch gar nicht, dass der Koffer Geld enthält. Ziemlich sicher konnte er das zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, der Koffer ist ja verschlossen gewesen; allerdings ist es nicht allzu schwer, einen solchen Koffer zu öffnen, selbst wenn man die Zahlenkombination nicht kennt. Oder es handelte sich dabei um ein ziemlich raffiniertes Ablenkungsmanöver. Pump aus Lamphun, falls er denn der Dieb ist, hat allerdings höchstens ahnen können, dass im Koffer Geld ist. War. Das übrige Gepäck – inklusive einer Spieglreflexkamera und einem brandneuen Minidisc-Recorder – ist, soweit es Wolf aufs erste überblicken kann, unberührt geblieben.
Wer kommt sonst noch als Dieb in Frage? Die Leute vom Hotel, irgendwelche Angestellte – alle, die in der letzten Nacht während Wolfs Abwesenheit im Hotel Zugang zu seinem Zimmer hatten. Das Zimmer ist nicht aufgebrochen worden, also kann Wolf ohnehin unwahrscheinliche unbeteiligte Dritte ganz ausschliessen. Zur Polizei kann Wolf mit seinem Verlust auf jeden Fall nicht gehen – was er freilich ohnehin nicht tun würde, selbst dann, wenn er das Geld nicht selbst geklaut hätte.

Was ist nun zu tun? In Wolf macht sich das Gefühl einer grossen Hoffnungslosigkeit breit, ein lähmendes, bitteres Gefühl, das sich als Reaktion auf den durch die kurzzeitige Panik ausgelösten Adrenalinschub einstellt und ihm das Denken erschwert. Wolfi hat Scheisse gebaut, denkt es in ihm, Wolfi ist ein Arschloch und hat eine Strafe verdient. Wolfi nennt er sich immer dann, wenn er sich selber hasst, wenn er sich selber nur noch beschimpfen und erniedrigen und demütigen kann. Wolfi hat ihn seine Mutter genannt, wenn sie böse mit ihm war. Wenn Wolfis Mutter mit Wolfi böse war, dann schlug oder bestrafte sie ihn nicht, nein, niemals, so war Wolfis Mutter nicht, nicht so, sie wusste, dass man Kinder nicht schlagen oder mit sadistischen Strafen quälen soll, aber sie gab ihm dann das Gefühl, nichts wert zu sein, absolut unfähig, ein hoffnungsloser Fall, ein verabscheuenswürdiges Stück Scheisse, ein verachtenswerter Abschaum, wie ein ekelerregendes Gefühl im Mund, das man so schnell wie möglich loswerden will. Jetzt, wo das Geld verschwunden ist, ist Wolfi wieder ein Nichts wie eh und je. All diese Gedanken und Empfindungen steigen in ihm auf und breiten sich in ihm aus und zerplatzen wieder, ohne dass er etwas dagegen tun könnte, während er auf seinem Bett sitzt und vor sich hinstiert und eine Zigarette nach der anderen raucht. Er muss etwas tun, aktiv werden, aus diesem Gefühl des Blockiertseins herauskommen, aber er hat absolut keine Ahnung, was er unternehmen soll. Noch will er der Möglichkeit, seine Beute endgültig und unwiederbringlich verloren zu haben, nicht ins Auge sehen.

Dienstag, 27. Mai 2008

Auf der Flucht (Teil 2)



Telephone Bar, Bangkok

Als Wolf erwacht, fühlt er sich nicht sehr ausgeruht. Schlimmer: er fühlt sich völlig zerschlagen, seine Psyche fühlt sich an, als wäre sie in einen Flugzeug-Crash geraten. Obwohl er mehr als acht Stunden geschlafen hat und es draussen schon lange wieder dunkel ist, fühlt er sich sehr viel schlechter als bei seiner Ankunft in Thailand. Die Euphorie vom Morgen ist komplett verflogen. Er fröstelt; die Klimaanlage hat die Luft im Zimmer auf etwa achtzehn Grad heruntergekühlt, und er liegt nackt auf dem Bett. Wolf stellt sich unter die heisse Dusche und versucht, sich an den Traum zu erinnern, aber er erinnert sich nicht mehr an den Inhalt, sondern bloss an das Gefühl der Irritation, das er beim Erwachen gehabt hat.
Er nimmt ein kleines Singha-Bier aus der Bar und schaut nach, ob der Koffer mit dem Geld noch im Schrank steht. Er versucht, die Unruhe, die ihn angesichts des Geldes packt, in sich niederzukämpfen. Als er das Hotel verlässt, schlägt die schwülheisse Luft wie eine körperhafte Substanz über ihm zusammen. Die Gerüche der zahlreichen Garküchen am Strassenrand vermischen sich, aber es riecht hauptsächlich nach Abgasen, und fast augenblicklich hat Wolf das Gefühl, dass sich der Schweiss auf seinem Körper mit den Schmutzpartikeln in der Luft verbindet. Für einen Augenblick glaubt er, sich übergeben zu müssen. Dann sitzt er in einem klimatisierten Taxi und lässt sich am Lumpini-Park vorbei zur Silom-Road fahren. In Bangkok herrscht vierundzwanzig Stunden lang im Tag die gleiche, angesichts von Hitze und Stinkluft schier unglaubliche hektische Betriebsamkeit, obwohl die Menschen sich fast immer den perfekten Anschein von Gelassenheit und Freundlichkeit geben. Aber das Überleben ist hart in Bangkok, auch heute noch oder heute erst recht, trotz Wirtschaftswachstum und futuristischen Glaspalästen im Stadtbild. Es ist härter geworden, denn fortwährend wird alles teurer, und die Lebenshaltungskosten betragen in der Metropole sicher das Doppelte oder mehr als im thailändischen Durchschnitt. Natürlich gibt es auch einige Gewinner in diesem Spiel, aber die Zahl der Verlierer ist grenzenlos.
In der Telephone-Bar, die schon brechend voll ist, hauptsächlich mit Farangs aus Europa und den USA, setzt sich Wolf an einen freien Tisch im ersten Stock, von wo aus er über den Rand der Balustrade hinaus das Treiben an den Bartheken im Erdgeschoss beobachten kann. Vielleicht findet er schon hier einen hübschen Boy für die Nacht. Von den jungen Thai, die sich im Telephone herumtreiben, sind die meisten bereit, für 500 und erst recht für 1000 oder 1500 Bath die Nacht mit einem Farang zu verbringen. Er bestellt sich einen Whisky mit Eis und Soda und fried rice mit Hühnchen, Spiegelei und etwas rohem Gemüse, obwohl er eigentlich keinen Hunger hat. Folglich isst er ohne Appetit und beobachtet dazu einen alten, glatzköpfigen Farang, der von einem Thai bearbeitet wird, ihn mitzunehmen. Der Farang, der wie ein Amerikaner aussieht, scheint unschlüssig zu sein. Der junge, etwas vollschlanke Thai hat ein pickliges Gesicht, das Wolf schon fast hässlich findet – von einer faszinierenden, dicklippigen Hässlichkeit, die durchaus sehr erotisch sein kann. Jetzt legt er seine Hand auf die fetten Oberschenkel des Amerikaners und flüstert ihm etwas Feuchtes ins Ohr. Auf den Tischen der Telephone Bar stehen alte Telefonapparate in allen Farben, die aber nicht funktionieren. Die Musik wird unterbrochen und die Verlosung einer Flasche Whisky angekündigt – Jack Daniels oder VAT und nicht etwa Thai-Whisky der Marke San-Tip natürlich. In der Bar erhebt sich ein Geschrei, als der Gewinner auf dem Los die richtige Zahl entdeckt. Wolf trinkt seinen dritten Whisky und beginnt, sich zu langweilen. Zwei- oder dreimal wollen sich junge Thai an seinen Tisch setzen, die ihm aber völlig ohne Reiz scheinen und deren Kontaktaufnahmeversuche er mit einem reservierten Lächeln einfach ignoriert. Es liegt wohl daran, dass sie sich allzu offensichtlich wie Strichjungen benehmen. Es fehlt Wolf der Reiz des Jagens und Gejagtwerden, das Unberechenbare, das eine Begegnung vielleicht ein bisschen gefährlich, aber auch sehr spannend machen kann.

Wolf zahlt und begibt sich in die Bar auf der gegenüberliegenden Seite, die auch nicht viel anders ist. Dies ist das eine Zentrum der Bangkoker Schwulenszene. Das andere entlang der Sukumvit besteht vor allem aus einer Unzahl von Gogobars, in denen die mit Nummern versehenen Boys an Metallstangen ihre fast nackten Körper verrenken und darauf warten, die unterschiedlichsten Bedürfnisse der einheimischen und fremden Kunden befriedigen. Da gibt es Sex-Lifeshows auf der Bühne, die punkto Artistik kaum mehr zu überbieten sind (die Jungs vögeln, oder tun sehr überzeugend so, als ob, während sie kopfüber von der Decke hängen). Für Wolf sind diese Lokale, nachdem er sie eine Weile frequentiert hat, aber nicht mehr interessant.
Er sehnt sich nach einer Begegnung. Tatsächlich fühlt er sich ein kleines bisschen einsam, ein Gefühl, das aber mit steigendem Alkoholkonsum abnimmt – Alkohol ist die Medizin der Männer und auch von ein paar Frauen. Es nimmt ab wie übrigens auch die kleine Depression und die uneingestandene Sorge um den Koffer mit dem Geld, der praktisch ungeschützt, aber gut getarnt in seinem Hotelzimmer steht. Aber daran will er jetzt nicht denken. Er will seine erste Nacht in Bangkok geniessen.



Die Disco ist proppevoll. Auf der Tanzfläche im Erdgeschoss, auf der Treppe, die zur Bar im Obergeschoss führt – überall Trauben von jungen Thai, dazwischen auch einige Farang. Wolf stellt sich im Obergeschoss an die Balustrade in der Nähe der Bar. Hier hat er einen guten Überblick, und auch der Nachschub von alkoholischen Getränken ist leicht zu bewerkstelligen. Aber er braucht nicht lange auszuharren. Unten in der Menge zwischen den Tanzenden entdeckt er den Jungen mit den Segelohren. Der hat ihn ebenfalls bemerkt und fixiert ihn mit derselben fast verzweifelten Intensität wie schon am Morgen am Swimmingpool. Diesmal regiert Wolf: er schenkt dem Jungen ein ganz kleines Lächeln und einen kaum länger als zufälligen Augenkontakt. Doch das reicht dem Jungen aus, und bevor Wolf seinen zweiten Drink bestellen kann, hat sich der segelohrige Thai zu ihm hoch gekämpft und berührt ihn jetzt am Arm. Die physische Präsenz, die erotische Ausstrahlung des Jungen erzeugt eine Empfindung auf seiner Haut, die sich anfühlt wie feine elektrische Ladung. Der Junge sagt nichts, sondern schaut ihn nur an mit seinen hungrigen fordernden Augen, während er Wolf am Arm gepackt hält, als wolle er ihn fortschleppen wie ein erlegtes Wild. Diese Situation irritiert Wolf ein bisschen. Einerseits gefällt ihm die Direktheit des Jungen und die Vorstellung, sich mit ihm gewissermassen ohne Worte unverzüglich in ein sexuelles Erlebnis zu stürzen, andererseits fühlt er die gleiche Verunsicherung wie vor vielen Jahren, als er sich einmal, ohne das vorher zu bemerken, mit einem taubstummen Jungen eingelassen hatte. Aber der Junge kann ja sprechen, und auf die Frage, ob er etwas zu trinken wolle, sagt er: «Yes, I want have wodka olange.» Er hat eine rauhe Stimme, die zu seiner übrigen Erscheinung passt: Sie ist voller Sex. Warum sie das ist, hätte Wolf nicht zu beschreiben gewusst, genauso wenig, wie er hätte erklären können, warum er den Jungen an sich so unglaublich sexy findet. Eine solche Wahrnehmung spielt sich auf einer Etage ab, die für den menschlichen Verstand unzugänglich ist und sich zu der völlig unlogischen Überzeugung in Wolfs Hirn verdichtet, dass er soeben auf den unter den inzwischen insgesamt sechs Milliarden Menschen gestossen ist, der ihn am meisten sexuell zu erregen vermag. Dabei läuft es ihm kalt den Rücken hinunter. Er sucht nach einem Satz in seinem Hirn, um eine Konversation oder wenigstens so etwas wie eine Konversation zu beginnen und vor allem, um die Kontrolle über die Situation zurück zu gewinnen, die ihm immer mehr zu entgleiten droht. Der Junge steht jetzt nämlich dicht vor ihm und hat seinen Arsch an Wolfs Schwanz gepresst, der längst hart geworden ist. Wolf fühlt sich ausserstande, sich aus diesem Körperkontakt zu lösen, und deshalb bietet er dem Jungen jetzt seinen eigenen Drink an. Der Junge wendet sich um und schaut ihn mit seinem leicht irren Blick an. Ob er wohl auf Drogen ist? Dann sagt er: «Let’s go!», eine Aufforderung, die mit keinem Widerspruch rechnet, und ein Widerspruch ist auch nicht zu erwarten. Wolfs Widerstand ist vollständig zusammengebrochen. So hat sich Wolf das zwar nicht ganz vorgestellt, aber jetzt ist es zu spät, dem Geschehen noch eine andere Wende zu geben.

Während er mit dem Taxifahrer den Preis von 60 auf 40 Bath herunterhandelt, wirkt der Junge völlig normal. Dann sitzen sie stumm im Wagen, der um diese Zeit fast zügig vorankommt, aber diese Stummheit ist sehr beredt: Wolfs Eingeweide sind elektrisiert, und er fühlt sich ganz ausgefüllt von einem überwältigenden, irgendwie unirdischen Verlangen. Der Junge hat Wolfs Hand genommen und sie auf seinen Oberschenkel platziert. Wolf spürt durch den Stoff der Jeans die Körperwärme des Jungen. Er muss alle seine Willenskraft aufbieten, um den Jungen nicht auf der Stelle zu küssen. Um sich abzulenken, fragt er ihn, wie er heisse. Pump, antwortet er, und er komme aus Lamphun im Norden des Landes, «I’m Pump from Lamphun». Er sagt das beinahe trotzig.

Im Hotelzimmer zieht Wolf den Jungen ohne alle weiteren Umschweife an sich heran und beginnt ihn zu küssen und hört nicht mehr auf damit. Seine Geilheit ist wie ein Feuer, das sich in ihm langsam auszubreiten beginnt und dann über ihn hinaus und dabei immer heisser wird. So etwas hat Wolf noch selten erlebt. Er lässt sich aufs Bett sinken, sodass der Junge auf ihn zu liegen kommt, und hört nicht auf, dessen saftige Lippen zu küssen. Dabei ertasten seine Hände durch die Kleider des Jungen hindurch dessen Körper. Ihn immer weiter küssend, entblättert er ihn wie eine Blume. Legt sich auf ihn, fickt ihn ganz langsam und sachte zwischen die Oberschenkel. Er wird immer langsamer und sachter, bis er sich schliesslich gar nicht mehr bewegt, aber das kann nicht verhindern, dass sich eine gewaltige Eruption in ihm ankündigt, bis sich seine Lust in einem Orgasmus, der fast schmerzhaft ist in seiner Intensität, entlädt. Dann küsst er den Jungen an jeder Stelle seines Körpers, ohne jede Hast und geniesserisch wie ein Gourmet, dessen ärgster Hunger gestillt ist und der sich aus purem Vergnügen und Kunstverstand an den köstlich zubereiteten Speisen ergötzt. Der Junge wird immer erregter. Sein Penis ist ungewöhnlich lang und ziemlich dünn – und den will er Wolf jetzt in den Hintern stecken. Während er immer wieder an einem Poppers-Fläschchen riecht, rammelt er wie ein Wahnsinniger, bis er sich röchelnd und wie von Sinnen in Wolf hinein ergiesst. Inzwischen nähert auch Wolfs Lust sich wieder dem Höhepunkt. Er setzt sich den Jungen rittlings auf seine Latte und lässt in seinem ganzen Körper bis hinauf ins Hirn, während er den Mund des segelohrigen Jungen trinkt und sich vorsichtig in ihm bewegt, den zweiten Orgasmus dieser Nacht geschehen.

Mittwoch, 21. Mai 2008

Auf der Flucht (Teil 1)



Wolf hat die Augen geschlossen und spürt die klebrige Hitze wie ein Gewicht auf seinem Körper. Am anderen Ende des Pools hört er zwei Thais palavern, in dieser Sprache, die das Ohr sanft umschmeichelt; er könnte stundenlang zuhören, ohne ein Wort zu verstehen. Nie wird ihm langweilig dabei, er liebt die Melodie und den Klang dieser Sprache so, dass er keine Inhalte dazu braucht, keine Bedeutung, oder sich selbst eine zusammenfantasieren kann, wobei er sich denkt, dass in dieser Sprache nichts Verletzendes, aber auch nichts Direktes gesagt werden kann; die Unterhaltung der beiden kommt ihm vor wie das Gemauze zweier Katzen, die um einen heissen Brei herumschleichen …
Es beruhigt ihn, diese Stimmen in dieser Sprache reden zu hören. Es enthebt ihn noch mehr der Wirklichkeit. Er ist müde, aber auch sehr wach, euphorisiert, was einerseits mit dem Jetlag zu tun hat und der Tatsache, dass er in dieser Nacht überhaupt nicht geschlafen hat, andererseits aber auch mit dem Druck und der Anspannung zusammenhängt, die nun plötzlich von ihm gewichen ist. Das ist immer so nach einem gelungenen Hände-Hoch-Job oder einer Einkaufstour mit der Neun-Millimeter-Kreditkarte. Dem Adrenalin-High folgt ein kleines Burn-out – das ist normal. Plötzlich hat er Lust auf einen Drink, Gin mit dem Saft frischer Limetten, obwohl es noch früh am Morgen ist, vielleicht acht oder neun, aber in Deutschland ist es eben trotz der blendendhellen thailändischen Vormittagssonne erst zwei oder drei Uhr in der Nacht. Zwei oder drei Uhr in der Nacht ist doch eine hervorragende, ja die beste Zeit für einen Drink.
Er weiss nicht, warum er als Unterkunft immer noch dieses einfache, aber bequeme Mittelklass-Hotel in einer ruhigen Seitenstrasse zur Petchburi-Road wählt, obwohl er sich doch jetzt sogar das «Oriental» leisten könnte – wahrscheinlich ist das die Macht der Gewohnheit. Bangkok ist ein Geschwür, keine Stadt, eine Anhäufung von zehn Millionen Menschen und Gebäuden in einer unermesslichen Ebene, ohne Zentrum und mit dem sich seit 1990 im Bau befindlichen Baiyoke Tower als einzigem visuellem Anhaltspunkt, der wie ein überdimensionierter Obelisk in den blassblauen Smoghimmel über der Stadt ragt. Bangkok mit seinen legendären, vom Verkehr verstopften Strassen, der dreckigen Luft und dem feuchtheissen Klima ist ein Alptraum, in Bangkok als Ganzem gesehen kann man sich nur verlieren. In einem Quartier wie diesem aber stösst man unverhofft immer wieder auf Inseln der Ruhe und des Friedens, wenn man in die Seitenstrassen einbiegt. Kurz: Das Opéra ist für Wolf sozusagen ein Stück Heimat.

Er öffnet die Augen und zündet sich eine Zigarette an. Drüben am Pool schwatzen die beiden Thais immer noch zusammen, wobei ihr Gespräch manchmal von kehligem Lachen untermalt wird. Der eine ist Kellner im Opéra und kein ganz junger Boy mehr, während der andere nicht älter als neunzehn oder zwanzig sein kann – wobei das natürlich nie mit Sicherheit zu sagen ist. Thais sehen nun mal meist jünger aus als sie sind.

Der Junge ist nicht die klassische Schönheit, dazu hat er ein zu eigenwilliges Gesicht und zu grosse Segelohren. Diese Segelohren und der unverschämte, herausfordernde Ausdruck in den Augen, dazu die langen schlanken Beine, die in einen aufreizend gerundeten Arsch übergehen, der haarlose gut geformte Körper mit der samtenen braunen Haut – bemerkenswert. Die Gier nach diesem Körper überfällt Wolf schlagartig, unerwartet heftig und ziemlich überraschend. Er will diesen Jungen. Er will ihn von der Scheitel bis zur Sohle, und dabei keinen Quadratzentimeter auslassen. Mehr noch: er will ihn auffressen, genüsslich verspeisen mit Haut und Haar.

Der Junge hat natürlich sofort gemerkt, dass Wolf aufgewacht ist. Er schaut ihm direkt in die Augen, auffordernd und eindeutig. Aber Wolf reagiert nicht auf diesen Blick, obwohl er merkt, dass eine gewaltige Erektion seine Badehose bläht. Er zieht diskret das Badetuch über den Unterleib, winkt den Kellner herbei und bestellt Gin mit Limetten. Aus den Augenwinkeln bemerkt er die Frustration des Jungen, der ihn wütend anstarrt, die Augen noch weiter aufreisst und mit einer ungeduldigen Bewegung die Schultern hochzieht. Wolf muss innerlich grinsen, als er die Augen wieder schliesst. Er lässt den Jungen zunächst ins Leere laufen und hofft, dass er ihn später wieder trifft. Er ist sich fast sicher, dass er ihn später erneut treffen wird.

Seine Beute befindet sich in einem Metallkoffer, und dieser Metallkoffer steht nun in seinem Hotelzimmer im Schrank. Das ist vielleicht ein bisschen leichtsinnig, das ist ziemlich sicher sogar sehr leichtsinnig, aber er kann das Geld – ungefähr 120000 DM dieses Mal – ja nicht gut im Hotelsafe deponieren, und immerhin würde in einem gewöhnlichen Schrank in einem drittklassigen Hotel wohl niemand solche Summen vermuten. Später würde er einen Teil der Beute vorerst einmal auf die verschiedenen Konten seines thailändischen Freundes bei der Thai Farmers und der Bangkok Bank deponieren. Wolf hat den vagen Plan, ein Haus oder eine Bar zu kaufen oder beides: ein Haus in Pattaya und eine Openair-Bar auf Ko Samet und natürlich eine Wohnung in Bangkok und natürlich einen robusten Geländewagen. Aber zunächst will er sich ein bisschen erholen von den Anspannungen der vergangenen Wochen. Das Leben geniessen. Auf Phuket Motorrad fahren. In den Riffs vor den Phi-Phi-Inseln tauchen. Von Mae Hong Song aus das Grenzgebiet von Myanmar erkunden. In den Dschungel und die Tempelwelt eintauchen. Stippvisiten nach Hongkong, Bali, Kambodscha und Vietnam machen. Den gewaltigen Sternenhimmel auf sich wirken lassen. Immer wieder die scharfen thailändischen Gerichte kosten, von denen man soviel essen kann, wie man will, und trotzdem nicht dick wird. Mit jungen Polizisten flirten. Ganze Scharen hübscher thailändischer junger Männer verführen – oder sich vielmehr von ihnen verführen lassen. Er weiss, dass er bei den Thais sehr gut ankommt. Erstens: Wolf ist ein Farang und hat Kohle. Zweitens: er ist immer noch ziemlich jung – um genau zu sein, wird er in Kürze 37 – und er sieht gut aus, ist schlank, muskulös, hat einen sinnlichen Mund und ein nicht unbeträchtliches Stück in der Hose. Und er ist blond mit erst wenigen, kaum sichtbaren grauen Stellen im Haar. Er glaubt zudem zu wissen, wie man mit den Thais umgehen muss. Seit zwei Jahren hat er einen «festen» Thai-Freund, der ihn jeweils mitnimmt in das Dorf seiner Eltern in Zentralthailand. Dort ist zwar nichts los, aber es gibt Wolf die Gelegenheit, sich mit den Sitten und Gebräuchen dieses Menschenschlags vertraut zu machen. Er nimmt sich vor, dieses Mal etwas mehr Thai zu lernen.

Inzwischen ist der Junge mit den Segelohren verschwunden. Das findet Wolf einerseits schade, denn er hätte es gerne sofort und auf der Stelle mit ihm getrieben, andererseits aber weiss er, dass eine kleine Verzögerung, ein bisschen Katz- und Mausspielen das Vergnügen ungemein erhöht. Wolf wird den Jungen bestimmt wieder sehen, entweder hier vor dem Hotel oder später in der Nacht in der Telephone-Bar oder in der DJ-Station, einer beliebten Disco in einem der Vergnügungsviertel der Stadt. Wolf trinkt langsam seinen Gin und schaut zwei japanischen Mädchen beim Schwimmen zu. Ein weiterer Gast des Hotels, ein alter Engländer, sitzt mit seinem jungen Thai-Freund an einem der von Sonnenschirmen geschützten Tische am Pool; sie spielen Karten. Wolf bestellt sich einen weiteren Gin, eine Nudelsuppe und ein Omelett. Die japanischen Mädchen schwimmen und kichern; der junge Thai, der sich als äusserst knackig erweist in seinen knappen orangefarbenen Badehosen, springt jetzt ebenfalls in den Pool. Als er auf der anderen, Wolfs Seite des Pools angelangt ist, lächelt er Wolf an. Dieses Mal lächelt Wolf zurück, denn er will diesen Jungen nicht verführen; es ist nicht sein Ding, anderen ihre Freunde oder Lover oder Begleiter auszuspannen.
Trotzdem kommen die beiden miteinander ins Gespräch, misstrauisch beäugt von dem englischen Gentleman. Der Junge, erfährt Wolf zu seinem äussersten Erstaunen, ist kein junger Boy mehr, sondern älter als er selbst. Er ist, wie offenbar alle Einwohner von Bangkok, auf dem Land aufgewachsen, in einem kleinen Dorf im Nordosten des Landes, im Isan, in der Nähe der Stadt Roi Et.

Plötzlich fühlt sich Wolf sehr müde. Später will er sich dann erfrischt ins Nachtleben stürzen.



Wolf schläft unverzüglich ein. Er träumt, in einem Flugzeug zu sitzen. Das ist völlig normal. Aber etwas stimmt trotzdem nicht. Was ist es nur? Wolf denkt in seinem Sessel in der Business-Class angestrengt nach. Die Fluggeräusche deuten auf nichts Ungewöhnliches hin. Die MD 11 der Thai Airways gleitet völlig ruhig durch die Nacht – smooth as silk, wie die Werbung es ja auch verspricht. Keine Luftlöcher sind zu spüren, keine Turbulenzen zu verzeichnen. Plötzlich wird es Wolf bewusst: Er ist der einzige Fahrgast in der Business Class. Das irritiert ihn. Er steht auf und öffnet den Vorhang, der die Business Class von der Economy abtrennt: aber auch diese ist leer. Kein einziger Fahrgast befindet sich im Flugzeug. Unglaublich. Dabei ist dies doch ein gewöhnlicher Linienflug. Was aber noch beunruhigender ist: es zeigt sich auch niemand von der Crew. Zunehmend nervöser werdend, geht Wolf auf das Cockpit zu. Kalter Schweiss tritt ihm auf die Stirn. Keine Passagiere, keine Crew. Nein, das kann nicht sein. Er öffnet die Tür zum Cockpit. Nur die Lichter der Armaturen, das Flimmern der Bordcomputer. Er befindet sich allein an Bord der Maschine, die ruhig durch die Nacht fliegt, smooth as silk. Gerade dies, die Tatsache, dass nichts Dramatisches passiert – noch nichts Dramatisches passiert –, verstärkt das Grauen, das Wolf zunehmend empfindet. Das Schlimmste an dieser Situation aber ist: Er kann nichts tun! Er ist dem allem einfach ausgeliefert. Früher oder später wird das Flugzeug abstürzen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, spätestens dann, wenn der Maschine der Sprit ausgeht. Und er kann nichts tun! Ausser warten, abwarten, ausser sich selbst in dieser Situation aushalten, was schier unerträglich ist, um dann im abstürzenden Flugzeug zu sitzen, ganz allein. Als wäre er der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der letzte, der übrig geblieben ist. Warum nur haben sie ihm das angetan? Und wer sind sie, wenn er der letzte Übriggebliebene ist? Diese Fragen, auf die es keine Antwort gibt, erfüllen Wolf mit einer Bitterkeit, wie er sie bisher noch nicht gekannt hat.

Dienstag, 13. Mai 2008

Strassen

Auf der Verliererstrasse zu gehen, bedeutet: aus einem Mangel heraus leben, ein Loch sein, das gefüllt werden muss. Auf der Gewinnerstrasse lebt man aus einem Überfluss heraus – das ist der tiefere Sinn des Bibelwortes, dass Geben seliger denn Nehmen sei. Ob einer auf der Verlierer- oder auf der Gewinnerstrasse geht, ist unabhängig von unseren herkömmlichen Vorstellungen des Erfolgs oder Misserfolgs. Erfolg ist allenfalls ein sekundäres Nebenprodukt für den, der auf der Gewinnerstrasse geht. Geben und Nehmen spielt sich nur zu einem Teil auf der materiellen Ebene ab: es geht dabei auch und vor allem um Gefühle, um Energien, um Intelligenz. Auf der Gewinnerstrasse gehen, heisst aber auch: bewusst das Risiko des Absturzes in Kauf zu nehmen, mehr noch: die Kunst zu lernen, den Absturz zu geniessen, die Intensität des Absturzes zu geniessen. Hingabe braucht Mut. Das Grundgefühl dessen, der auf der Verliererstrasse geht, ist Angst. Diese Angst entsteht aus einem Sicherheitsbedürfnis, das nicht mehr zu befriedigen ist. Das Grundgefühl dessen, der auf der Gewinnerstrasse geht, ist ein Vertrauen, das derjenige, der auf der Verliererstrasse geht, als blindes Vertrauen bezeichnen würde, weil es keiner Logik, zumindest keiner beschreib- und begreifbaren Logik folgt. Dieses Vertrauen kann aber nur dem zufallen, der die Angst kennt: der durch die Angst hindurchgegangen ist. Niemand, der auf der Gewinnerstrasse geht, ist nicht zuvor auf der Verliererstrasse gegangen. Angst kommt von Enge, und in der Enge waren wir alle, bevor wir geboren wurden. Niemand, der die Kunst lernt, den Absturz zu geniessen, hat nicht zuvor viele Male die Panik vor der dem Absturz kennengelernt, die schmerzhafte Lähmung vor dem Fall. Nur der kann das köstliche Glück der Freiheit begreifen, der die Qual und die Verzweiflung des Gefangenseins, aber auch die Verführung zu Trägheit und Passivität, die in der Knechtschaft liegt, durchlitten hat: das ist ein Gesetz des Lebens.

Donnerstag, 8. Mai 2008

24 Gramm Sternenstaub



Es wird behauptet, das Universum sei vor 15 Milliarden Jahren entstanden; ob das stimmt oder nicht, sei dahingestellt, es spielt aber keine Rolle, auf ein paar Jährchen mehr oder weniger kommt es uns bei dieser gewaltigen Menge Zeit wirklich nicht an, da sind wir grosszügig. 15 Milliarden Jahre, wer kann sich das schon vorstellen? Da kann man gleich von Ewigkeit sprechen. Die Frage, was denn vor diesen 15 Milliarden Jahren war, also in der Vorvergangenheit gewissermassen, wollen wir in diesem Zusammenhang noch nicht einmal stellen. Der Stern, den wir die Sonne nennen, soll einer von 400 Milliarden Sternen allein in unserer Milchstrasse sein, und die wiederum soll eine unter vielleicht Milliarden von Galaxien im uns – ach ja, was heisst schon uns? Also wir persönlich sind da nicht mitgemeint – bekannten und unbekannten Universum sein. Die Erde entstand aus der Urmaterie des Sonnennebels ungefähr 4,6 Milliarden Jahren vor 1968, ein Umstand, der auf dem legendären Woodstock-Festival im Song «Woodstock», geschrieben von der unsäglichen Joni Mitchell, vorgetragen von der Band «Crosby, Stills, Nash and Young», mit folgenden Versen poetisch verklärt wurde: «We are stardust, we are golden/We are billion year old carbon/And we got to get ourselves back to the garden.» (Wobei es ja schon erlaubt sein soll, sich zu fragen, was denn so erhebend an der Vorstellung sei, Jahrmilliarden alter Kohlenstoff zu sein.) Etwa zehn Milliarden Jahre verflossen also vor der Entstehung der Sonne und der Planeten. Da kann einiges passiert sein, obwohl die Zeit damals, glauben wir den Vorstellungen unserer Wissenschaftler, doch eher gemächlich verflossen sein muss. Wenn es denn Zeit damals überhaupt schon gab. Kann man von Zeit sprechen, wenn niemand sie zählt und empfindet, keine Uhr, kein menschliches Gefühl? Während der ersten paar Millionen Jahre wurde die neugeschaffene Erde vom Planetenschutt, um es etwas despektierlich zu bezeichnen, der von der Entstehung des Sonnensystems her übrig geblieben war, ständig bombardiert, so behaupten es jedenfalls unsere Wissenschaftler; die sogenannten Kreationisten würden natürlich heftig widersprechen, aber das sei hier lediglich am Rand vermerkt. Für mehr als 500 Millionen Jahre war die Erde – aus Menschensicht gesprochen – bloss ein wüster, steriler Planet ohne jede Form von Leben. Nachdem die erwähnten Einschläge vor etwa vier Milliarden Jahren nachliessen, verdickte sich die Atmosphäre aufgrund von uns nicht und vielleicht von niemandem ganz verstandener Naturgesetze, bildeten sich die Ozeane und erste Lebensformen entstanden. Wir glauben uns zu erinnern, in diesem Zusammenhang das schöne Wort «Ursuppe» gehört zu haben, das es auch verdient hätte, 1968 in Woodstock besungen zu werden (wobei «Ursuppe» auf Englisch – etwa: Primeval Soup – natürlich nicht so toll klingt); hoffentlich wird von dieser Ursuppe noch manches Poetenhirn besoffen.
Das Leben auf der Erde begann vor etwa 3,5 Milliarden Jahren, als der erste einzellige Mikroorganismus Energie aufzunehmen, zu wachsen und sich zu vermehren begann (der erste einzellige Mikroorganismus hatte natürlich noch keine Bezeichnung, aber heute würde er sicher zu einem Medienstar mit putzigem Namen wie Gesine oder Kunigunde in der deutschen Presse und Sergej oder Iwanowa zum Beispiel in russischen Zeitungen; das ist gar nicht so absurd, wie Sie jetzt glauben, schliesslich haben bei uns sogar Hochs und Tiefs ihre Namen). Für die ersten drei Millionen Jahre der biologischen Evolution waren alle Lebensformen auf der Erde mikroskopisch klein. Im Kambrium, der ältesten Stufe des Paläozoikums, vor 545 Millionen Jährchen (plus minus ein paar zerquetschten) fand gewissermassen der «biologische Urknall», den ich mir als eine Art explodierende kosmische Knalltüte vorstelle, auf der Erde statt. Während dieser Zeitperiode entwickelten sich die meisten Hauptgruppen der existierenden Meerestiere.
Während der nächsten 500 Millionen Jahre wickelte sich auf der Erde die Evolution des Lebens ab (wie gesagt, die Kreationisten würden widersprechen) von den Mikroorganismen über die wirbellosen Tiere zu Wirbeltieren, Fischen, Amphibien, Reptilien, Dinosauriern und schliesslich, vor etwa 50 Millionen Jahren, zu den Säugetieren. Der Untergang der Dinosaurier vor etwa 65 Millionen Jahren, eventuell hervorgerufen durch den Einschlag eines Kometen oder Asteroiden, schuf ein gutes Umfeld für die rasche Entwicklung vieler Arten von Säugetieren – des einen Freud war schon immer des anderen Leid.
Während der letzten paar Millionen Jahre formte das Programm der Evolution die Primaten aus kleinen, nagetierähnlichen Kreaturen über die Hominiden, den Austrealopithecus, den Homo habilis, den Homo erectus und den Neanderthaler bis hin zum archaischen Homo sapiens und schliesslich zum modernen Menschen von heute. Ja, wir Menschen sind Tiere, auch wenn wir letzthin dem schönen Bild begegnet sind, das den Menschen mit einer Sandburg vergleicht, die zwar wie alles am Strand um sie herum aus Sand sei, aber sich dadurch davon abhebe, nur Sand zu sein, dass sie eine Idee verkörpere oder so. Wobei wir das so verstanden haben, dass der «Sand» das biologische Material sei und die «Idee» der «göttliche Funke» im Menschen oder so. Wahrscheinlich ist das aber auch nur wieder arrogantes Menschengeschwafel. Ob wir nun Stardust sind oder die Krone der Schöpfung, who cares? Anyway, die menschliche Kultur entwickelte sich von der Steinzeit mit ihren Steinkeulen über Eisenspeere, Schwerter, Hellebarden, die Erfindung des Schwarzpulvers bis hin zu unseren zeitgenössischen ferngesteuerten Lenkwaffen.

Unheilige George



George II. von England

Nach zwei weiteren Gläsern Bier mit Schorsche im Club verabschiedet Felix sich. Er ist in Hochstimmung und zieht aus, sich zu betrinken. Erst im «de Pul», mit einem Pärchen, er besoffen und voller Weltschmerz, nicht unsympathisch, sie sehr nett. Sie verschwinden dann mit dem Taxi in den Red-Light-Distrikt, während Felix in einem indonesischen Restaurant etwas isst. Dann in eine andere Kneipe. Später erfährt Felix vom Amerikaner Stephen, dass dies eine der Kneipen ist, in welchen «freie» Stricher anzutreffen seien – und die mitzunehmen gefährlich sei. Felix leuchtet in dieser Kneipe das halb holländische, halb surinamesische Gesicht seines zweiten Georges an diesem Tag entgegen. Der hat eine sehr fleischliche Erscheinung, geile Lippen. Felix ist etwas angesoffen und sie kommen ins Gespräch. Worüber sie sprechen? Wir wissen es nicht, dürfen aber vermuten, dass es sich dabei kaum um viel Geistreiches handelt. Jedenfalls kommt George dann mit Felix ins Hotel, wo sie schmusen und sich gegenseitig einen blasen und George von Felix 100 Gulden bekommt. Ausserdem verabreden sie sich für den nächsten Tag im «De Pul».

Anderntags besucht Felix den Zoo – zuerst den botanischen Garten, wo Felix Fotos macht, die er wenig später aber samt Fotoapparat verliert, dann kommen ihm beim Anblick der tropischen Pflanzen Tiere wie Tiger, Schimpansen, Krokodile und Papageien in den Sinn und er geht in den Zoo, wo er tatsächlich auf Schlangen, Affen, Löwen und natürlich Elefanten, seine Lieblinge, trifft. Nachher in der Sauna vergisst er die Zeit und taucht deshalb später als mit George II abgemacht im «De Pul» auf, unter anderem auch deshalb, weil seine Uhr stehengeblieben ist. In der Sauna gibt’s Sauna, sargähnliche, mit rotem Samt ausgeschlagene Liegen, in denen Männer liegen und in trübem Licht Bier trinken. Schliesslich raucht er wieder einen Grasjoint für fünf Gulden im Coffieshop, trinkt Wasser mit Bubbles und lässt sich von der Musik entführen, ist insgesamt mehr sinnliche Empfindung – und etwas Angst – als Gedankenwelt. Im Hotel versucht er etwas zu lesen, schreitet aber mehrheitlich im Zimmer auf und ab. Plötzlich ist Felix wieder im indonesischen Restaurant mit dem charmanten Kellner. Plötzlich ist er wieder, die kleinen, kaum ins Gewicht fallenden Biere trinkend, in einer Bar. Gegen Mitternacht, angenehm benebelt, auf dem Heimweg in die Kerkstraat. Vor seinem Hotel steht George II. und erwartet unseren Helden offenbar. Dieser ist eher unangenehm überrascht. Der junge Mann erscheint Felix jetzt ein wenig bedrohlich, aber um nichts weniger sinnlich anziehend. George nimmt eine Dusche, sie trinken Fruchtsaft. George holt den Schwanz von Felix raus und beginnt ihm sanft einen zu blasen, Felix wird wider Willen sehr scharf. George küsst Felix sehr intensiv, und dieser holt sich einen runter dabei. Die Lippen, der Mund des dunklen Mannes! Felix liebt ihn und fürchtet sich sehr davor, später. George «operiert» Felix eine Warze im Gesicht weg, von blosser Hand, mit brutaler Gewalt, es ist eine ziemlich blutige Sache – er liebe es, das zu tun, sagt George. Wie George der Erste ist auch dieser George im Sternzeichen der Zwillinge geboren. Später, gegen drei, will Felix ihn bezahlen, nachdem er nicht weiss, ob er will, dass George bei ihm schläft. «I hold you in my arms, you know», sagt George. Aber Felix weiss nicht, wie immer, er kennt George nicht, George wirkt sehr sanft und etwas bedrohlich und sehr verladen. Als Felix ihn bezahlen will, sind etwa 250 Gulden aus seinem Portemonnaie verschwunden, Felix weiss nicht, wie und wann. George II. hatte keine Gelegenheit, Felix etwas zu klauen, soweit Felix weiss, sie waren im Zimmer ja immer zusammen. Zudem ist sonst alles noch drin, Kreditkarten und so. George schwört, dass er nicht der Dieb war. Vielleicht stimmt es ja. Vielleicht hat Felix das Geld ja verloren. Felix kann ihm nur noch zwanzig Franken, dreissig Mark und zwanzig Gulden geben. Die Stimmung wird seltsam, beide fühlen sie sich betrogen oder sind sich jedenfalls nicht sicher, ob sie vom anderen betrogen worden sind. Sie reden nur noch wenig. Schliesslich geht George. Scheisse.

Montag, 5. Mai 2008

Vom Wesen der Poesie



«Jeden Abend legt er sich hin, die Stirne sorgenvoll gefaltet. Er kneift die Augen zusammen, alles kommt ihm hoffnungslos vor, er stöhnt, dann fangen die Sorgen an aufzusteigen, verändern ihre Gestalt, dehnen sich, ziehen sich zusammen, drehen sich um sich selbst, blubbern an die Oberfläche seines Körpers, zerplatzen da und entschweben, während er tiefer und tiefer sinkt bis auf den weichen, dunklen Grund seiner selbst, wo er sich verliert. Am nächsten Morgen sammelt er sich wieder, die Sorgen lassen sich erneut auf ihm nieder, er ordnet sie, lässt sie in sich eindringen, eine nach der anderen, bis er prallvoll ist von ihnen und fast erstickt, dann ist es wieder Abend, er legt sich ins Bett, stöhnt, die Sorgen steigen empor und entweichen. Schön. Dichter, die für Jahrhunderte sprechen, formen daraus Reime.»
Matthias Zschokke, Maurice mit Huhn, Ammann Verlag, 2006.