Montag, 21. Februar 2011

Ein Tag wie jeder andere (5)

Er machte sich auf den Weg zur nächsten Tramstation, den nördliche Teil der Langstrasse entlang, die am Limmatplatz endete, wo er mit dem Vierertram Richtung Bahnhof und dann den Limmatquai hinunter bis zum Bellevue und dann zur Tramhaltstelle Opernhaus fahren musste, wo er das Tram zu verlassen hatte, wenn er rechtzeitig an seinem Arbeitsplatz erscheinen wollte. Es begegneten ihm eine Menge heruntergekommener, ungesund aussehender Gestalten, die meisten jung, einige mit aufgeschwollenen Gliedern und offenen Abszessen, von denen ihnen der eine und der andere um Geld anging. Das machte Oesch ganz konfus, er konnte sich den Aufmarsch dieser Jammergestalten nicht erklären, bis aus einem hinteren Winkel seines Gehirns der Begriff «offene Drogenszene» auftauchte und sich in seinem Bewusstsein breit machte, ach ja, dachte er, richtig, der «Letten» unten am Fluss bei den Bahngeleisen, nur komisch, dass er sich erst nicht daran erinnert hatte. Überhaupt fühlte sich Oesch ganz grundsätzlich sehr irritiert, überhaupt nicht heimisch in dieser Gegenwart und in diesem Zürich, das mochte auch an der Tageszeit liegen, denn am Morgen fühlte sich Oesch nie ganz heimisch in der Aussenwelt, in die er zuungunsten seiner Innenwelt einzutauchen gezwungen war, aber ganz so fremd fühlte er sich an anderen Morgen denn doch nicht. Alles irritierte ihn: Wie die Menschen gekleidet waren, die Autos auf der Strasse, die Reklameplakate, die Auslagen in den Schaufenstern, so, als wäre das nur Staffage, Bühnenbild, Filmkulisse, gar nicht echt. Es war kalt, traurige schmutzige Schneereste lagen am Strassenrand, folglich war es Winter. Es fiel ihm auf, dass er keine Ahnung hatte, welches Datum man schrieb, ja nicht einmal, welcher Wochentag heute war. Montag oder Freitag? Das machte für einen werktätigen Menschen schliesslich einen erheblichen Unterschied. Die Montagslaune unterscheidet sich mitunter erheblich von der Freitagslaune. Er kaufte sich am Kiosk einen Tages-Anzeiger, dessen Layout ihm ebenfalls spanisch vorkam, bevor er zum eben einfahrenden quietschende und auf Oesch antiquiert wirkende Vierertram hastete. Er öffnete die Zeitung: Es war der 10. Dezember 1991, es war Dienstag, Aung Sang Suu Kyi, die zuvor in Burma die Wahlen gewonnen hatte, erhielt den Friedennobellpreis, den sie aber wegen Hausarrests in Burma in Oslo nicht abholen durfte, zwischen den EFTA-Ländern und der Türkei wurde eine Verständigungsprotokoll unterschrieben, bei einem Verkehrsunfall auf der A4 gab es sieben Tote, die Miss Schweiz signierte im Glattzentrum Autogrammkarten – Theophil Oesch erinnerte sich nicht, je von einer Sandra Aegerter gehört zu haben, aber seis drum, es kam ihm ja eh ziemlich alles ziemlich fremd, um nicht zu sagen surreal vor.

Im Büro war alles uralt. Der fleckige Spannteppich von einem unbestimmten Dunkelgrün, das Mobilar aus den Zwanziger- oder Dreissigerjahren, ein Büchergestell an der Wand mit Glasvitrinen war wohl noch älter, die lederrückigen schweren Bände im Gestell wohl auch, Brehm Tierleben und Meyers Grosses Conversationslexikon, nur auf dem Pult, vor dem ein altmodischer einbeiniger Drehstuhl aus Holz stand, stand ein winzigkleiner Apple-Macintosh-Computer. Vor seinem geistigen Auge hatte Oesch ein ganz anderes Bild, wenn er das Wort «Computer» hörte, dieser Winzling hier auf dem Pult war einfach lächerlich. Etwas weiteres fiel Oesch auf: Es roch im Büro nach Zigerettenrauch. Das man in Büros neuerdings wieder rauchen wurde, war ihm nicht bewusst gewesen. Aus dem Nachbarbüro gedämpft das Schnattern von Frauenstimmen.
Oesch setzte sich auf den Drehstuhl, noch immer in der gefütterten Jacke, und lauschte. Er lauschte, denn er hatte keine Ahnung, was er sonst tun sollte. Er bemerkte überrascht und mit Grauen, dass er keine Ahnung oder vielmehr: keine Ahnung mehr hatte, worin sein Job bestand und was er konkret zu tun hatte. Ganz allgemein wusste er das schon noch, er arbeitete im Verlag des Hilfswerks und war Redaktor eines Jugendjahrbuchs und einer Fachzeitschrift, aber er hatte entweder vergessen oder verdrängt, in welchem Arbeitsprozess er sich gerade befand. Er hätte auch gar nicht gewusst, wie er mit diesem lächerlichen Minicompüterchen auf dem Pult und der elektronischen Schreibmaschine hätte arbeiten sollen. Diese Arbeitsinstrumente erschienen ihm merkwürdig unadäquat, wie Spielzeug für Kinder. Also sass er da und lauschte dem Geschnatter aus dem Nachbarbüro. Er konnte drei Stimmen unterscheiden – weibliche Stimmen, wie gesagt, nicht mehr junge Stimmen, wenn er sich nicht irrte, Stimmen in lebhafter Unterhaltung.