Donnerstag, 31. Januar 2008

Tsunami am Doubs



Felix sass, sitzt und wird gesessen haben in einem alten, klapprigen Volvo, zusammen mit seinen Dichterfreunden, es ist Freitag, sie wollen ein verlängertes Wochenende im Jura verbringen. Sie fahren von Bern aus über Hinterkappelen, Illiswil, Murzelen, Frieswil, Dettlingen und Radelfingen zunächst nach Aarberg. Felix ist gut gelaunt: keine Atmenbeschwerden, keine Herzbeschwerden, kein Stechen im Kopf und kein Zwicken im Magen, auch kein Flashback von einem LSD-Trip, alles ist okay. Er sitzt zunächst neben Roland vorn, angegurtet, denn das muss sein. Dänu, welcher mit Jean-Jacques hinten sitzt, ein grünes Beret trägt und verschiedenfarbene Hosenbeine hat: das linke grün, das rechte gelb, nein rot; oder das linke gelb oder rot, das rechte grün, Dänu findet die oben mit Namen genannten Dörfer zum Kotzen oder jedenfalls zum Motzen: sie gefallen ihm nicht und er würde, zum Exil zum Beispiel in Murzelen verknurrt, glattweg davonlaufen oder draufgehen. Ja, ja, Murzelen, Fliegenschiss auf der Landkarte, nicht der Rede wert, aber aus Murzelen besteht nun mal die Welt. In Aarberg machen sie einen ersten Halt, denn Roland will Zigaretten kaufen, Gauloises extra oder Marlboro Gold. Sie ringen mit sich und beschliessen, noch nicht in einem Wirtshaus einzukehren. Auch Aarberg ist übrigens nicht der Rede wert und doch die halbe Schweiz, so hat alles zwei Seiten. Felix sitzt jetzt hinten im Volvo, neben Jean-Jacques, während sie über Bühl, Hemrigen, Bellmund nach Biel fahren, durch Biel hindurch, sich quer durch die erste Jurakette pflügen, sozusagen, La Heutte und Sonceboz passieren, in Sonceboz nicht die Abzweigung Richtung St. Imier nehmen, sondern weiter nach Tavannes fahren, in Tavannes nicht die Abzweigung nach Tramelan-Saignelegier nehmen und etwas später auch nicht die Abzweigung nach Bellelay, wo die literarisch zumindest einmal verewigte (Friederich Glauser, «Der Tee der drei alten Damen»), an eine Schutz- und Trutzburg gemahnende Irrenanstalt steht, sondern weiterfahren durch Reconvilier hindurch (nicht abzweigen nach Loveresse), durch Malleray hindurch, durch Bévilard hindurch (wo Roland sich vorstellen könnte, Lehrer an der Gesamtschule zu sein), durch Moutier hindurch, nicht abzuzweigen Richtung Grandval-Crémines-Gänsbrunnen-Welschenrohr und Herbetswil, wo sich das Arschloch der Welt befindet, sondern schnurstracks weiter nach Roches, aber vor Choindez dann doch abzuzweigen nach Rebeveulier, ein Kaff, welches Dänu seit fernen Kindertagen in seiner Erinnerung mit sich herumschleppt (da gibt es ein grosses Schild, auf dem steht REBEUVELIER, und eine Burg, ein Schloss gar, und süsse Knappen, und stramme Pagen, und ein blondes Burgfräulein).



Die an eine Schutz- und Trutzburg gemahnende Irrenanstalt von Bellelay



Friedrich Glauser

Baurenhöfe gibt es in Rebeuvelier natürlich auch, und Hunde, zum Glück angebundene, einen Dorfladen und immerhin, wie sie erfreut feststellen, eine Beiz. In dieser Beiz gibt es einen Ölofen, eine Wirtin, einen weiteren Gast, Tische, tischtuchbedeckt, auf den Tischen Plastikkörbchen mit Erdnüssen, Pommes-Chips-Tüten nature und paprika, Kägi-Fret-Schoggiwaffeln und süsse Brezeln.



Roland trinkt einen Kaffee und Dänu eine warme Schokolade, er knappert dazu Salznüsschen, er scheint es süss-salzig zu mögen. Jean-Jacques nippt an einem Verveine-Tee. Felix hat eine grosse Flasche Bier (Warteck) bestellt, weil er ja nicht fahren muss und auch gar nicht fahren kann. Als sie die Beiz wieder verlassen, senkt sich bereits Dämmerung, wie der Dichter zu sagen pflegt, übers Land. Farbe des Schnees jetzt blau. Sie fahren wieder auf die Hauptstrasse zurück, passieren Choindez und Courrendin. Die verschneiten Felder links und rechts der Strasse sehen in der dreiviertelsatten Dunkelheit aus wie ein See. Folglich können sich unsere lieben Freunde vorstellen, auf einer Chaussee zu fahren. Sie stellen es sich vor. Sie fahren durch Delémont. Felix sitzt noch immer hinten. Nach Devilier steigt die Strasse an, auf den Col des Rangiers hinauf, welcher eine Höhe von 856 Metern über Meer aufweist.



Der zerstörte Fritz wird an einem Sonntag im Jahr 1984 entdeckt

Hier stand früher das zweimal zerstörte und dann nicht wieder aufgebaute Denkmal des «Alten Fritz» aus dem 1. Weltkrieg. Etwas unterhalb der Passhöhe zweigt die Strasse nach St. Ursanne ab. In rassigem Tempo kurvt Roland die sechs Kilometer runter auf eine Höhe von 434 Metern über Meer: hier fliesst gemächlich gemütlich der alte Vater Doubs: Au monde, il n’est rien plus doux/Que Saint-Ursanne au bord du Doubs.




Sie kehren zunächst im Hotel du Soleil ein, um einen halben Weissen zu trinken. Sie sind wieder quasi die einzigen Gäste. Sie kommen auf den Erdrutsch zu sprechen, der sich etwas oberhalb von St. Ursanne ereignet hat und sich jetzt gegen den Doubs vorschiebt. Mit einem, zwei oder auch drei Stundenkilometern Geschwindigkeit. Wenn die Erdmassen im Bett des alten Vaters Doubs gelandet sein werden, wird es eine Stauung geben, ist ja klar. Der auf diese Weise entstandene Damm oder Wall wird natürlich brechen können. Dann wird sich eine Springflut ereignen, ein Tsunami: zehn, zwanzig Meter hoch. Und St. Ursanne wird den Doubs runtergespült werden, an Ocourt vorbei und womöglich ohne die nötigen Zollformalitäten über sich ergehen zu lassen über die französische Grenze. Und unsere Freunde mittendrin. Aber vom Zoll später. Wegen der drohenden Springflut, überlegen sich unsere leicht paranoid veranlagten Dichter, ist das Dorf fast menschenleer.
Nach dem halben Weissen suchen sie sich nichtsdestotrotz mit einem etwas mulmigen Gefühl eine Unterkunft. Neben dem «du Soleil» bietet sich noch das «Cigogne» an, was wahrscheinlich in etwa unserem deutschschweizerischen «Storchen» entspricht. Alle anderen Hotels sind geschlossen. Man ist auch im «Cigogne» nicht gerade begeistert über ihren Besuch: am übernächsten Tag sind Betriebsferien. Nein, es herrscht in der Tat keine Saison für den Fremdenverkehr in St. Ursanne. Eine junge Frau zeigt ihnen die Zimmer, Doppelzimmer für 80 Franken die Nacht. Es stinkt in den Zimmern nach Moder, Verfaultem und Schimmel, obwohl sie frisch renoviert sind. Ausserdem funktioniert das Etagen-WC nicht, und eines der Zimmer hat keine eigene Toilette. Felix bezieht mit Roland das eine der Zimmer, das toilettenlose. Dann wollen sie essen, ein Ansinnen, das mit befremdetem Erstaunen quittiert wird: auch das noch! Sie bekommen eine Karte vor den Latz geknallt, die sich nicht gerade durch Fantasiereichtum auszeichnet. Sie bestellen wieder Weissen. Immerhin ist eine Aktion im Angebot: zwei Forellen für 15 Franken. Forellen sind schliesslich die Spezialität des Clos-du-Doubs. Felix, Dänu und Jean-Jacques bestellen denn auch brav ihre Truits à la meunière, während Roland, der manchmal etwas zum Querschlägertum neigt, heissen Schinken bestellen muss, weil er sich vor Fischgräten fürchtet resp. vor dem durch solche verursachten Erstickungstod. Die Strafe folgt auf dem Fuss: der Schinken schmeckt ganz fürchterlich, wie Roland mit angewiderten Gesichtszügen erläutert, er ist wohl etwas zu gut abgehangen, so gut, dass er bereits einen gewissen Arschgeruch ausdünstet. Roland flucht über die Weiberwirtschaft; das Hotel mitsamt dem Restaurant wird ausschliesslich von Frauen geführt. Die Forellen schmecken ganz passabel. Felix denkt hin und wieder an die Springflut; es scheint nicht unmöglich, dass sie kommt. Er rechnet immer mit allem, um nicht mit unangenehmen Überraschungen konfrontiert zu werden. Solche Gedanken werden ohne Erbarmen mit Weisswein runtergespült.
Nach dem Essen machen sie noch einmal einen Rundgang durch das verschlafene mittelalterliche Städtchen. Nur wenige Fenster sind erleuchtet, obwohl es erst zehn Uhr ist. Dann sitzen sie etwas trübsinnig und natürlich ein weiteres Mal als einzige Gäste in einer Kneipe, es läuft ein Fernseher und im Fernseher irgendeine Sendung über die Weltraumfahrt mit Bruno Stanek.



Der heilige Bruno Stanek

Besser, man zieht sich ins Hotelzimmer zurück, auch wenn es dort ein bisschen nach Moder stinkt. Roland und Felix nehmen ein Gutenachtbier mit aufs Zimmer. Sie spielen, in den Betten nebeneinander liegend, eine Partie Schach. Felix baut einen Grasjoint. Die Partie endet mit einem eindeutigen Patt. Während sie im Badezimmer ihrer Freunde Wasser resp. Bier abschlagen (da das Etagen-WC, wie gesagt, nicht funktioniert), werden sie von einem grundlosen Lachanfall geschüttelt. Dann liegen sie wieder im Bett, Felix ist am Einschlafen, sein Hirn befindet sich bereits im Alpha-Zustand, während Roland noch liest (Christoph Geiser, Brachland) und den Kopfhörer seines Walkman übergestülpt hat.



Christoph Geiser

Felix träumt von der Springflut. Da weckt ihn ein gewaltiges, grollendes Geräusch. Es ist aber nicht der Tsunami, wie Felix nach einigen bangen Sekunden, die er braucht, um sich zu orientieren, feststellt, sondern das Geräusch stammt bloss von seinem schlafenden Kumpel im Nachbarbett, der sich ungeniert einer exzessiven Schnarchorgie hingibt. Roland hat Felix gewarnt: Ich schnarche ein bisschen, hatte er gesagt. Felix wickelt sich das Kissen um den Kopf. Alle Viertelstunden dröhnen die Kirchenglocken vor dem Fenster des Hotelzimmers. Dazwischen horcht Felix auf die Springflut. Ein Königreich für zwei Ohrenstöpsel!
Dafür hat man am anderen Morgen einen zauberhaften Ausblick auf den Kirchplatz und die Kirche oder vielmehr das Kollegial, von welchem Gonzague de Reynold behauptet: «L’admirable Collégiale, on peut la comparer à bien des églises fameuses de l’Italie ou de la France, mais savons-nous assez ce qu’elle représente?» Wir wissen es, lieber Gonzague, frank und frei gesprochen, nicht.



Der heilige Gonzague de Reynold

Es schneit vor dem Fenster in dichten Flocken, während sich Roland rasiert und Felix duscht, weil die Springflut nun doch nicht gekommen ist. Dann wird gefrühstückt, denn solcherlei Tun ist, zumindest zwischen neun und zehn Uhr, im Zimmerpreis inbegriffen. Dänu wundert sich darüber, dass das Brot nach Camembert riecht. Aber es ist nicht das Brot, das nach Camembert riecht, sondern die Butter, denn die ist ranzig. Oh diese Weiberwirtschaft! stösst Roland ingrimmig zwischen den Zähnen hervor. Als es ans Bezahlen geht, warten die Weiber vergeblich auf ein Trinkgeld. Und jetzt wendet man sich dem historischen Teil der Reise zu: nämlich wird nun das Collégiale besichtigt, was man nicht mit Kloster, sondern mit Stift zu übersetzen hat. Ein Kloster war das Stift nur bis 1119, nämlich ein benediktinisches, dann wurde es in das offizielle Kapitel eines Domherrn umgewandelt. Das Domkapitel besitzt in Deutschland (ausser in Bayern) und der Schweiz sowie einigen weiteren Diözesen (beispielsweise im Erzbistum Salzburg) unter anderem ein Wahlrecht bei der Neubesetzung des Bischofsstuhls der Diözese, jedenfalls aber ein Wahlrecht für den Kapitelvikar, welcher im Fall der Vakanz des Bischofsstuhles die Diözese interimistisch leitet, sofern kein apostolischer Administrator bestellt ist. So viel nur am Rand und für Nichtkatholen. Auf jeden Fall hat St. Ursanne seinen Ursprung einem frommen Eremiten namens Ursicinus oder Urcinus zu verdanken.



Der heilige Ursicinus

Dieser kam zusammen mit ein paar anderen Heiligen vom fernen Irland via Bregenz an die Gestade des Doubs, wo er die Barbaren Mores lehren wollte und um 620 nach Christus das Zeitliche segnen sollte. Später tauchte der heilige Wandrille, Nobelmann des Königs Dagobert I., zusammen mit Donald und Daisy Duck und Tick, Trick und Track in St. Ursanne auf und so weiter, während unsere nicht ganz ausgeschlafenen Freunde im Kreuzgang wandeln und es heftig schneit.





Dagobert I.; Tick, Trick und Track 1; Tick, Trick und Track 2

Auf einer Steintafel stehen die berühmten Namen derer von Asuel, von Landskron, von Ze Rhein, von Hallwyl, von Wattenwyl, von Neuchâtel, von Montjoie, von Lichtenfels, Dänu sieht, wie er im Kreuzgang steht mit seinem grünen Beret und den verschiedenfarbenen Hosenbeinen, mehr denn je aus wie der Narr, Trumpfkarte des Tarot mit der Ziffer Null, Zero, Hoffnarr Dagoberts I., immerhin ist Dänu trotz seines italienischen Nachnamens Bernburger und hat also, wenn auch entfernt, einen Bezug zu Aristokratischem.



Als sie genug von Kunst- und überhaupt Historischem haben und zu allem Überfluss an einem riesigen Altersheim vorbeispaziert sind, taucht das Problem der Weiterfahrt auf. Da St. Ursanne in einem Talkessel liegt, die Strassen inzwischen schneebedeckt sind und der grüne Volvo nicht gerade als schneeresistent oder schneetauglich bezeichnet werden darf, bleibt eigentlich nur noch die Strasse entlang dem Doubs, Richtung Frankreich, als Ausweg. Na ja, und auf dieser Strasse gleiten sie nun dahin. Die Landschaft ist, um wieder einmal ein Dichterwort zu bemühen, zauberisch. Fast nur Landschaft und nur wenig Zivilisation. Und Schnee, überall Schnee, das ist ja auch Natur, nicht wahr. Also Natur in Form von Schnee auf Natur in Form von nackten Bäumen und, was man allerdings nicht sieht, in Form von nackter Erde, das heisst unbegraster Erde oder Erde bedeckt von kümmerlich-braunem erfrorenem Gras. Es ist Winter, fürwahr. Und der grüne Volvo, ist der auch Natur? Von Schnee bedeckt ist er allemal. Und die Menschen im grünen Volvo, sind die Natur? Immerhin, es pulsiert Blut in ihren Adern, rot und organisch. Es hängt Fleisch an ihren Knochen, und an manchen nicht zu knapp. Es pulsieren Gedanken in ihren zweifellos organischen Hirnen. Sind die Gedanken auch natürlich? Und wenn ja, welche? Und wenn nein, warum nicht? Eigentlich ist doch alles Natur, denkt Felix. Bei Brémoncourt die Grenze zu Frankreich. Ist diese Grenze auch Natur? Hervorgebracht, um nicht zu sagen: erfunden von menschlichen, organischen Menschenhirnen, die sich längst in ihre Moleküle aufgelöst haben. Kleines Kaff in der Schneewüste. Mit mindestens zwei Beamten, dem schweizerischen und dem französischen Zollbeamten, die hier, am Arsch der Welt – aber nein, der befindet sich ja bei Herbetswil –. pistolenbewaffnet ihren Dienst an ihrem jeweiligen Vaterland tun. Zwei Arbeitslose weniger auf der Welt. Pässe, Identitätskarten, Legitimationen, Ausweise, alles verschwindet im Passhäuschen. Da wird nun geprüft, wie unsere Dichterfreunde annehmen dürfen, vielleicht nur mittels Fahndungsbuch, vielleicht bereits via mit Interpol verbundenem Polizeicomputer, ob Roland, Jean-Jacques, Dänu und Felix keine national oder international gesuchten verdächtigen Personen – Terroristen, Verbrecher, Mörder, Diebe, Kinderschänder, Rauschgiftschmuggler – sind. Felix hat noch ein bisschen Gras, Cannabis indica sattiva enthaltend und bestimmt der Natur entstammend, im Nessecaire, dem Notwendigen, nachbarlich bei Zahnbürste und Rasierzeugs. Der Schweizer Zöllner interessiert sich aber nicht fürs Gepäck, bloss für die Ausweise, das ist dem doch egal, was in Frankreich, wo Gott lebt, nicht hockt, aber speist, und zwar gut, nämlich wie Gott, eingeführt wird. Dafür interessiert sich schon eher sein französischer Kollege, er schaut sich ihr Gepäck an, aber nur von aussen, er wird sich sagen, dass man es nicht übertreiben soll mit dem Pflichteifer, ist ungesund, lieber demnächst einen Aperitif trinken, den Pflichteifer kann er getrost seinen Schweizer Kollegen überlassen. Franzosen sind selbst als Beamte nicht so, denkt Felix. Gepäck anschauen ja, aber nur von aussen. Gott ist eher zu ertragen, wenn er lebt, als wenn er hockt. Und er lebt, wie das Sprichwort sagt, wenn er speist, in Frankreich. In der Schweiz mag er Kohle scheffeln und auf Goldbarren hocken, in Frankreich schlürft er Austern und schlückelt Veuve Cliquot oder gar eine Flasche sauteuren Louis Roederer Cristal (es klingt übrigens sehr lustig, obwohl das überhaupt nicht hierher gehört, wie uns natürlich sehr bewusst ist, wenn ein Thailänder diesen Markennamen auszusprechen versucht, nämlich etwa wie Rouis Loedelel Clistar).



Und so gleiten sie auf verschneiten Strassen über Glère-Vaufry-Soulce-Cernay nach St. Hippolyte, welches, unnötig zu betonen, wieder ein von einem Heiligen beschützter Ort ist. Ein durchaus nicht unsympathischer Ort. Es ist inzwischen fast zwei Uhr geworden und unsere vier Terroristen und Verbrecher haben Hunger, kein Wunder nach dem ranzigen Frühstück. Sie finden eine Beiz eher am Rand oder an der Peripherie des Städtchens, welche sich schlicht und einfach und ohne zusätzliche Schnörkel «Pizzeria» nennt. Die Pizzeria an und für sich. Dabei bekommt man in dieser Pizzeria nicht einmal Pizza. Immerhin hat es aber zur Ausnahme auch mal andere Gäste da. Und einen Töggelikasten, eine Tischfussballkiste. Der Beizer sieht ein wenig versoffen aus. Unsere Freunde bestellen Aperitif, Pernod oder Pastis, und Kleingeld für das Töggelispiel. Und das Menu, Suppe, Koteletten mit Spaghetti, und vorher Charcuterie, später Fromage. Einen Liter Roten. Sie spielen: Dänu kann’s, Roland kann’s auch ganz gut, Jean-Jacques und Felix spielen schlecht, aber mit viel Einsatz. Unsere Freunde sind jetzt beinahe ausgelassen. Nach dem Essen und einem weiteren Töggelispiel besuchen sie die verfallende Kirche des heiligen Hippolyte, der lächerlich fromm als Statue auf seinem Ehrenplatz steht. Alsbald wird er von Roland geschmäht. Das hätte Roland besser nicht getan; kaum sind sie auf der jetzt schneefreien Strasse in Richtung Maîche unterwegs, als am Volvo das Gas nicht mehr richtig zieht und es der Wagen am Hang gerade noch auf die Mofageschwindigkeit von maximal vierzig Stundenkilometer bringt. Man muss also annehmen, dass gewisse Heilige, obwohl längst verstorben, empfindlich sind und eine Vergeltungsmentalität pflegen. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als im Schneckentempo weiterzutuckern. Immerhin scheint jetzt die Sonne. Wintersportler hasten auf Langlaufskiern durch die Gegend. Nach Charquemont fällt die Strasse wieder ab ins Tal des Doubs.



Zwischen dem französischen und dem schweizerischen Grenzposten Biaufond no mans land. An diesem schweizerischen Grenzposten, der den Brückenkopf nach dem Übergang über den Doubs bildet, werden ihre Papiere, Ausweise, Idenitätskarten, Passeports Suisses, Passaporti Svizzeri wieder mit Akribie untersucht. Danach werden sie von einem Zöllner mit dem Gesicht eines Schäferhundes aufgefordert, den Wagen zu verlassen und mit dem Gepäck ins Zollhäuschen zu kommen. Das ist ja ein Cerberus ganz eigener Art, denkt Felix. Er hat das Gras, einer Eingebung oder bösen Ahnung folgend, vom Toilettentäschchen in seine linke Hosentasche transferiert. Der Zöllner-Schäferhund prüft das Gepäck sehr sorgfältig. Nachdenklich hält er ein Päckchen Zigarettenpapierchen Rizla bleu, von dem ein Eckchen Karton abgerissen ist, welches Verwendung als Filter gefunden hat, in der Hand. Als er im Gepäck von Jean-Jacques einige Optalidon-Tabletten findet, fragt er seinen Kollegen Henri, der missmutig und zweifingrig eine Schreibmaschine bearbeitet, ob es sich hierbei um eine legale oder um eine illegale Droge handle. Aber sicher, aber sicher, sagt der Kollege uninteressiert, von dem ich annehme und der auch so aussieht, als möchte er vor allem mit möglichst wenig Scherereien durchs Leben kommen. Als die Kontrolle des Gepäcks keinen illegalen Tatbestand ergibt, der den Schäferhund veranlassen könnte, seines Amtes zu walten oder zuzubeissen, wird eine Leibesvisitation der mittleren Intensität über die vier potenziellen Gangster verhängt. Einer nach dem anderen müssen sie dem Schäferhund in ein Nebenräumchen folgen, wo sie aber etwas ganz anderes als ein Schäferstündchen erwartet. Als erster ist Jean-Jacques dran. Jetzt gilt es für Felix, zu handeln. Er muss das Gras loswerden, und zwar sofort, wenn sie nicht in diesem verdammten Biofond hängen bleiben wollen. Er steckt das kleine Päckchen also schwups hinter einen Prospekt des Uhrenmueums von La Chaux-de-Fonds. Jetzt kann er sich vom Beamten ruhig betatschen lassen. Nachdem der Schäferhund auch noch den alten Volvo auseinandergenommen hat, dürfen sie endlich weitertuckern. Uff!



Die Strassen von Novosibirsk

Sie beschliessen, in La Chaux-de-Fonds zu übernachten und womöglich einen Garagier zu finden, der ihnen das Auto flickt. Das ist gar nicht so einfach an einem Samstagabend, aber schliesslich stossen sie auf einen Monsieur Jungen, der sie zu seiner Werkstadt am westlichen Ende der Stadt lotst. Da stellt er bald einmal fest, dass die Membran kaputt ist. Kleine Sache! Für Jungen kein Problem!, sagt Monsieur Jungen. Er hat nur gerade keine passende Ersatzmembran zur Hand. Aber der Kollege X oder der Kollege Y, er telefoniert französisch, fährt gleich mal nach Le Locle, während unsere schiffbrüchigen Dichter und Gangster im Büro des Meisters Jungen warten. Dieser gibt Anweisungen: Wenn das Telefon läutet: Ne touchez pas! Wenn ein Kunde kommt: Hinhalten! Sagen, der Jungen sei nur schnell weg! Als er vom Kollegen X und vom Kollegen Y wiederkommt, hat er zwar eine Membran, aber es ist eine, die nicht zu dem alten Volvo passt. Doch was ein Jungen ist, der gibt nicht so schnell auf. Ich versuche es noch beim Kollegen Z, meint Herr Jungen, obwohl es Roland inzwischen schon peinlich ist und er den Garagisten beschwört, der möge sich doch nicht so derangieren. Nein, nein, der Ehrgeiz des Meisters der Schraubenschlüssel ist angestachelt, während der Magen von Felix knurrt. Leichte Atembeschwerden, leichtes Herzstechen von der Anspannung im Wagen, auf dem glitschigen Eis und im Schnee, Fantasie, dass die grausame Mutter Natur sie verschlingt, mit Mund und Geschlecht, Untergang in den Wassern der Springflut und im immer dichter wirbelnden Schneegestöber, dann die Anspannung am Zoll – was hilft da besser als Speis und Trank? Endlich kommt Monsieur von Kollege Z zurück. Sie haben sich schon vorgestellt, dass Jungen seinerseits eine Panne gehabt oder sogar einem Unfall zum Opfer gefallen oder durch einen Herzinfarkt dahingerafft worden sein könnte. Aber auch die Membrane von Z passt nicht: Murphys Gesetz. Merde, flucht Jungen, nun echt frustriert. Jetzt müsse er aber heim, die Alte warte mit dem Essen. Am Montag, ja am Montag sei das Problem bestimmt blitzschnell gelöst. Ob sie ein Hotel brauchen würden? Ja. Dänu wünscht sich eines mit Kegelbahn. Das «Moulin» hat Kegelbahn. Jungen, der offenbar leidenschaftlich gern und mit kaum zu überbietender Weltgewandtheit telefoniert, lässt zwei Zimmer reservieren. Die Gaststube des «Moulin» ist wieder einmal leer. Eine schlampige und offenbar verladene Serviertochter bringt ihnen Bier (dem Felix ein Grosses und Roland eine Stange), heisse Schokolade (Dänu) und Kaffee (Jean-Jacques). Dann muss Felix scheissen. Er hat leichten Durchfall. Während er sitzt und scheisst, schaut er in Ermangelung einer anderen Zerstreuung oder Lektüre seinen Pass an. Schweizerische Eidgenossenschaft. Confederazione Svizzere. Nr. 2 703 320. Nom Name Cognome Name. Enfants voir page keine Ziffer. The holder of this passport is a Swiss citizen and is entitled to return to Switzerland at any time. Geboren am 12. November 1955 fünf/fünf. Grösse 172 cm. Cheveux Blond. Occhi Grau. Distinguishing Marks Keine. Dieser Pass wurde ausgestellt gestützt auf Passempfehlung. Bern, den 3. März 1975 Kantonale Polizeidirektion Unterschrift nichtentzifferbar. Gebühr Fr. 25.- Sfr. Stempel: 2. Juni 1975 Entrada Portbou. Bab-Sebta 10. Dezember 1975. Ouel Moumen 1. Dezember 1975. Direccion General Seguridad Fronteras 7. Juni 1976 Salida C Ceuta (El Tarajal). Felix blättert um. Namen: Sezal. Santa Cruz Airport Bombay. Eyzinon. Immigration Officer Taftan Check Point (Pakistan). Gerstungen DDR. Graniczna Mirjaveh Kontrolna Centralnego Portu Lotniczego Wraszawa-Okecie. Departure Mirjaveh Border. Section Consulaires de l’Ambassade de la Rép. Islamique de l’Iran à Berne. Kapikule Demiryolu Kapisi T.C. Edirne 15.VIII. 80 Giris. Departure from Sonauli. K.B. Bahtia Consular Agent Embassy of India Islamabad. Seen at the Royal Nepalese Embassy New Dehli. Fee Rs. 90.-/Ninty only. Jetzt hat der Druck in den Gedärmen von Felix ganz aufgehört. Felix kann den Pass wieder in die Tasche stecken und zu seinen Freunden zurückkehren aus dem Orkus. Nachdem sie Bier, Kaffee und heisse Schokolade ausgetrunken und bezahlt haben, beziehen sie die Zimmer. Das eine Doppelzimmer mit Dusche, das Dänu und Felix beziehen, kostet 60 Franken die Nacht, das andere, ohne Dusche, 50 Franken. Dann suchen sie eine Kneipe zum Essen. In La Chaux-de-Fonds liegen mindestens 60 Zentimeter Schnee, da die Stadt fast 1000 Meter über Meer liegt, also schon fast ein Höhenkurort ist. Roland fühlt sich von der ungeschminkten Hässlichkeit der geometrisch angelegten Stadt positiv angesprochen. Las Vegas, meint er. Nein, eher Novosibirsk.



Zwischen den Fahrbahnen der Hauptstrasse (Rue de la Liberté) türmen sich Schneewälle bis unter die nackten Kronen der in Zweierreihe angepflanzten Bäume. Unsere Freunde einigen sich schliesslich auf das Restaurant «Cercle des Italiens». Sie bestellen Pizze quatro stagioni und Salat. Eine Flasche Rotwein. Dann Kaffee mit Grappa. Auf der Pizza hat es zu viel Wurst.



Danach spazieren sie wieder durch die kälteklirrenden Strassen von Novosibirsk. Kehren noch einmal ein, dieses Mal ist es ein Spunten, in dem sich interessanterweise die Jugend trifft. Musik läuft, Jazz oder wohl eher Jazzrock. Die Kellnerinnen haben zu tun, es ist Samstagabend, die Kneipe ist, im Unterschied zu anderen Kneipen, die unsere Freunde auch schon gesehen haben, voll. Unsere vier Weltenbummler und Bettentummler stehen oder sitzen in der Bar ein wenig wie bestellt und nicht abgeholt rum in der Bar in der Bar ja was machen sie da? Roland und Felix trinken dunkles Bier, Dänu und Jean-Jacques einen Likör der ist süss und schwör. Geräuschkulisse für die Ohren, Formen und Farben für die Augen. Felix überlegt sich, ob er ein zweites Bier bestellen soll, aber da verkündet Roland schon, dass er müde sei und gehen wolle. Na gut, denkt Felix, kann ich ja im Hotel noch eine Flasche (Cardinal) aufs Zimmer nehmen. La Chaux-de-Fonds ist, da im Kanton Neuenburg liegend, Cardinal-Gebiet, während der Kanton Jura sich biermässig ganz in der Hand der Basler Brauerei Warteck befindet. Aber das nur entre Paranthèse. Im Hotelzimmer zieht sich Dänu ganz aus, also nackt bis auf die Haut, er ist tatsächlich splitterfasernackt. Er hat ein Buddha-Bäuchlein, das aber ganz gut zu ihm passt. Felix behält seinen Pullover an, da er sich nur sehr ungern erkälten oder verkühlen möchte (er erkältet sich dann aber trotzdem). Dänu ist schon erkältet, also spielt es keine Rolle mehr und so schläft er eben nackt, wie Gott oder die Natur ihn schufen. Sie lesen noch ein wenig, der eine bepullovert, der andere nackt, der eine liest «Versuch über die Pubertät» von Hubert Fichte (Dänu), der andere von Guido Bachmann «Echnathon». Drüben, im anderen Zimmer, spielen Jean-Jacques und Roland eine Partie Reiseschach, die aber zu keinem eindeutigen Ergebnis in Form eines triumphierend ausgestossenen «Schachmatt!» führt. Felix liest: «Ein Affenknabe mit grossem Glied wollte sich immer wieder einer dunklen Äffin nähern, wurde aber geohrfeigt. Sie schien sich mehr für mich zu interessieren; denn sie wies mit dem Zeigefinger nach mir, lachte und klopfte sich auf die Schenkel. Sie kehrte sich um und präsentierte sich hingekauert. Sie schaute über die Schultern und begann, sich zu masturbieren. Der Affenjunge besprang sie. Er drang kurz ein, wurde aber wieder geohrfeigt.» Felix las das Buch mit einer Mischung aus Abscheu, Langeweile und Faszination. Er fand das Buch einen ganz reizvollen Eintopf aus Hans Henny Jahnn und der Illuminatus-Trilogie von Robert Shea und Robert Anton Wilson. Gewürzt mit einer Prise Meyrink und abgeschmeckt mit einer Fingerspitze Genet.



Hubert Fichte, 1935 bis 1986

Dänu las inzwischen: «Die Männer trinken den Urin dessen, der den Fliegenpilz ass, und werden gross und reichen bis an die Wolken, die nächsten trinken den Urin derer, die den Urin dessen tranken, der den Fliegenpilz ass, und werden gross und reichen bis an die Wolken und die nächsten trinken den Urin derer, die den Urin derer tranken, die den Urin dessen tranken, der den Fliegenpilz ass, und werden gross und reichen bis an die Wolken.»



Guido Bachmann, 1940 bis 2003

Felix trinkt indessen nur einen Schluck gutes altes ordinäres hopfen- und malzhaltiges, kalorienreiches und eher basisches Bier der Bierbrauerei Cardinal. Dieses ergibt zwar auch ein gutes Quantum Urin, wir bezweifeln aber, dass der, der diesen Urin trinken würde, gross werden und bis an die Wolken reichen würde. Roland zieht währenddessen seinen Turm auf E8. Dann schläft Felix ein, zum 11431igsten Mal in seinem Leben. Gott sei Dank ist Dänu kein Schnarcher.
Am andern Morgen schmeckt die Butter nicht nach Camembert. Die Sonne scheint von einem wolkenlosen Winterhimmel. Sie fahren mit dem Bus den Hügel rauf, an dem sich die Stadt hochzieht. Spazieren mit vielen anderen im Schnee. Bis das Spazieren langweilig wird, die Füsse kalt werden, das Rutschen auf dem Eis verleidet, der Magen wieder einmal knurrt, und überhaupt. Jetzt beginnt erneut die Suche nach einem Restaurant. Auch in La Chaux-de-Fonds sind am Sonntag die meisten Kneipen zu. Schliesslich kehren sie im «Terminus» ein. Roland, Felix und Jean-Jacques bestellen Entrecôte, Pommes-frites und in Speck eingewickelte Bohnen, nota bene das Mönü, Dänu Walliser Spaghetti, das sind Spaghetti mit Fleischstückchen drauf, dazu zuerst einen jungen Beaujolais, der wie Sirup schmeckt, dann einen kräftigen Burgunder, Côte de Beaune-Villages 1983. Nach dem Essen will Dänu unbedingt Kegeln. Aber alle Kneipen mit Kegelbahn haben geschlossen, auch die Kegelbahn in ihrem Hotel darf an einem Sonntagnachmittag aus unerfindlichen Gründen nicht benutzt werden. Dann weichen sie aufs Billardspielen aus, oder wollen das vielmehr. Aber auch das Centre de Billard ist zu, runde Bälle – ausser vielleicht Fussbälle, aber nicht im Winter – scheinen in La Chaux-de Fonds am Sonntag einfach nicht angesagt. Und der Spielsalon auf drei Etagen, der Ort, wo sich La Chaux-de-Fonds Jugend am Sonntag trifft, ist dermassen überfüllt, dass sie das Lokal fluchtartig verlassen. Schliesslich setzen sie sich ins Bahnhofbuffet. Dänu macht ein saures Gesicht, es ist ihm langweilig. Dänu und Felix beschliessen, mit dem Zug, der viertel nach fünf Richtung Neuchâtel abfährt, La Chaux-de-Fonds zu verlassen. Jean-Jacques und Roland, welche noch eine weitere Nacht in der Schweizer Uhrenmetropole verbringen wollen, dürfen oder müssen, um anderntags den hoffentlich inzwischen von dem rührigen und findigen Herrn Jungen reparierten grünen Volvo in Empfang zu nehmen, beschliessen, die Kino-Vorstellung um halb fünf zu besuchen (Tati, Les vacances de Monsieur Hulot). Bis es so weit ist, hat man aber noch Zeit, eine Flasche Wein zu bestellen, dieses Mal Rosé vom Neuenburgersee, und wenn schon nicht zu kegeln oder zu billarden, so doch eine Runde «Tschau Sepp» zu spielen, ein Kartenspiel, das unseren Dichtern zum Abschluss ihrer kleinen Reise keinen allzu grossen geistigen Aufwand abfordert.



Der Bahnhof von Novosibrisk

Samstag, 26. Januar 2008

Spanischer Herbst und seltsame Zustände



WG-Leben


Felix macht schon wieder WG-Ferien und ist dieses Mal mit der ganzen Gruppe, die auch in Bern zusammen- und manchmal auch aneinander vorbei lebt, in Spanien. Das Haus, das sie gemietet haben und das einem Engländer gehört, hat einen eigenen Swimming-pool, ist schön gelegen und luxuriös ausgestattet, wenigstens in den Augen von Felix, der natürlich keine Ahnung davon hat, wie zum Beispiel eine wirklich luxuriöse Villa aussieht, da er seine Vorstellungen vom Leben der Schönen und der Reichen aus Serien wie Dallas oder Denver Clan bezieht. Das Essen in der Kneipe, wohin man sich mit dem Taxi bringen lässt (das Gelände ist weitläufig), schmeckt gut. Saufen reichlich, weil billig, die Nächte kurz, die Tage lang, die Sonne ungewöhnlich heiss, sie brennt auf der Haut, in den Augen, in den Därmen, am Nachmittag, nach dem ersten und vor dem zweiten Cerveça, treiben die Männer Gymnastik: Bauchmuskeltraining ist angesagt, sie wollen ja schliesslich attraktiv sein, die einen für die Frauen und die anderen für die Jungs. Dazu aus dem Kassettenrecorder der passende Popsong: «I want Muscles» von Diana Ross. Wobei Felix ja eigentlich schon ein warmes, heisses Päckchen ist, ein Muskelpaketchen, er hat den ganzen Sommer über mit Schaufel und Pickel in der Sonne geschuftet. Archäologie. Römerzeugs ausgebuddelt, Ziegelfragmente vor allem, aber auch einige Münzen und Fibeln. Also Bauchmuskeltraining, obwohl Felix es gar nicht nötig hätte im Moment, dann Köpfler ins laue Wasser des Swimming Pools, in dem schon ein paar Melonen schwimmen, weiss der Teufel, wieso. Muss sie jemand reingeschmissen haben. Aber warum? Darüber nachzudenken hätte Felix jetzt Zeit. Er denkt aber trotzdem nicht darüber nach. Er hängt vielmehr auf seinem Schattenplätzchen rum und tut so, als würde er im mitgebrachten Chandler oder Glauser lesen, dabei denkt er an etwas Unanständiges und legt diskret den aufgeschlagenen Glauser auf seinen Schoss.

Felix schwankt hier in diesem heissen spanischen Herbst die ganze Zeit hin und her zwischen ziemlich extremer Lustigkeit und einer total extremen Traurigkeit, die weiss der Teufel woher kommt und sich eines Morgens, als er vom Brandy total verkatert erwacht (zwar ohne Kopfschmerzen, es ist ihm auch nicht schlecht, aber verkatert ist verkatert, wenn ihr wisst, was ich meine), buchstäblich oder vielmehr unbuchstäblich über ihn und schüttelt ihn während zweier Stunden so richtig durch – also nicht bloss so ein bisschen weinen, weil man, wie gesagt, etwas nah am Wasser gebaut hat –, ein Zustand, in den er seit seiner Kindheit nicht mehr geraten ist (er hat so einiges seit seiner Kindheit nicht mehr erlebt. Als Kind hatte Felix nämlich noch ganz andere Fähigkeiten als exzessives Weinen, zum Beispiel konnte er damals in seinem Innern vor dem Einschlafen aus dem Nichts heraus die schönste Musik entstehen lassen, nicht wie ein Komponist, sondern wie ein Zuhörer in einem Konzertsaal, nur, dass er eben keinen Konzertsaal und auch keine Musiker mit Instrumenten dazu brauchte. Später, als er in der Schule Blockflöte spielen lernen sollte, behauptete seine Lehrerin, Felix sei total unmusikalisch. Dabei war Felix einfach damals schon manuell extrem unbegabt, aber sicher nicht unmusikalisch, da müssen wir schon bitten!). Das mit der Traurigkeit hängt vielleicht sogar damit zusammen, dass Felix seit seiner Kindheit so viele Verbindungen (Fähigkeiten? Erfahrungsräume?) abhanden gekommen sind. An seiner momentanen Lebenssituation kann es eigentlich nicht liegen. Felix sollte glücklich sein, ist er doch frisch verliebt. Die Trauer ist grund-los, das heisst sie ist wie ein unendlich tiefer unterirdischer See, gewissermassen ein Meer aus Traurigkeit, das nicht von dieser Welt ist. Mare lacrimae, das Meer der Tränen. Die Trauer ist ein zugleich warmes, nasses und bitteres Glück. Felix ist vielleicht traurig, weil er verliebt ist.

Am Dienstagabend haben sie ausführlich Abschied gefeiert, das heisst, der Abend hat sich nicht allzu sehr von den vorherigen Abenden unterschieden. Sie lagen sich, lange nach Mitternacht und nachdem die letzte Flasche Brandy endgültig leer war, in den Armen wie entwurzelte Bäume, deren Astwerk sich nach dem Sturm unentwirrbar ineinander verfangen hat. Am Mittwochmorgen holt sie früh ein Taxi ab, das sie nach Gerona bringen soll. Sie, das ist nicht die ganze Gruppe, sondern bloss Felix und ein Begleiter, auf den wir später zurückkommen wollen. Felix freut sich auf seinen neuen Freund, ist ungeduldig. Seine neue Flamme ist nicht nur Bäcker, sondern auch Konditor und Confiseur, also ein süsser Wohltäter der Menschheit. Aber Felix liebt ihn natürlich nicht nur deswegen. Sein Freund ist jung und schön, ein wenig tuntig zwar, aber wen stört das, Felix jedenfalls nicht. Die weiche, glatte Haut des neuen Geliebten schmeckt ein wenig nach Honig, Kardamon und Anis. Wenn Felix an seinem Bäcker herumschnuppert, steigt eine Hitze in ihm hoch, die beim Schnuppern zum Beispiel an einem Apfelstrudel kaum in ihm hochsteigen würde. Doch das ist ein anderes Kapitel, ihre Liebe ist noch jung und wir hüten uns, davon zu plappern (wir wollen das Glück der beiden ja nicht verschreien).

Im Taxi geht es Felix noch einigermassen gut. Der Fahrer, der eher wie ein Kneipenwirt aussieht, und zwar wie einer, der selbst sein bester Kunde ist, lässt Flamenco-Musik laufen. Felix sitzt da und geniesst es, seinem knusperigen Bäcker und Törtchenmacher entgegenzufahren oder entgegen zu schweben. Im Bahnhof von Gerona dann, nach einem Kaffee und einem Tortilla-Sandwich, versucht Felix vom Fräulein Señorita an der Informaçion zu erfahren, auf welchem der insgesamt vielleicht zwölf Geleise denn der Talgo nach Genf kurz vor oder kurz nach elf wohl einzufahren beliebe oder geruhe. Felix stammelt etwas auf Spanisch und das energische spanische Fräulein mit leichtem Damenbart fragt ihn in barschem Ton, ob er Französisch könne. Felix bejaht und stammelt etwas in einer Sprache, die er für Französisch hält. Als Antwort bekommt Felix die folgenden Wörter ungefähr in dieser Reihenfolge an den Kopf geschleudert: Ojo del culo, idiota, cabròn, hijo de puta, mierda, maricon! Ja ob er denn nun Französisch könne oder nicht, herrscht ihn das cholerische Fräulein Señiorita oder wohl doch eher die Señora mit Damenbart, nachdem sie sich ein wenig beruhigt hat, auf Französisch an. Da fasst sich Felix ein Herz und sagt in höchster Not: El tren a Ginevra, da donde va? Und siehe da, nun wird er verstanden. Der Zug nach Genf fahre überhaupt nicht, bekommt er auf Französisch in triumphierendem Tonfall zur Antwort, jedenfalls nicht heute. Felix will wissen, warum, aber die unbarmherzige Señora hat sich längst schon endgültig von ihm abgewandt. Blöde Kuh, denkt er, aber eher erschrocken als empört, suchen wir das Gleis eben selber!

Es stellt sich schliesslich heraus, dass der Talgo nach Genf an diesem Tag tatsächlich nicht verkehrt, und auch kein anderer Zug: Streik in Frankreich! Im Land der Tricolore streitet man sich über die Ursache sich häufender Zugsunglücke. Menschliches Versagen der Lokführer oder Stationsbeamten, hat die Regierung festgestellt. Mangelnde Sicherheitsvorkehrungen, zu wenig Personal, meinen die Gewerkschaften. Und Felix sitzt – natürlich zusammen mit dem kleinen Araber und einigen anderen Passagieren – zwischen der Regierung von Frankreich, notabene einer, die sich sozialistisch nennt, und der französischen Eisenbahnergewerkschaft in der Tinte und weiss nicht wohin mit seiner brennenden Ungeduld. Da stehen sie nun auf dem Bahnsteig des Bahnhofs von Gerona wie bestellt und nicht abgeholt. Auf dem Bahnsteig von Gerona, wo auf der Bank vor Felix eine Frau sitzt. Eine Frau, die Felix kennt. Aus der geriatrischen Abteilung des Zieglerspitals in Bern, Hauptstadt der Schweiz, wo Felix eine Zeitlang als Hilfspfleger kotverschmierte Greisenärsche saubergemacht hat. Schon damals sass dieser Frau der Tod wie eine grosse garstige und natürlich schwarze Spinne im Gesicht. Sie hält ein Taschentuch vor den Mund gepresst und ihre Augen schauen angestrengt ins Leere. Da wird Felix unruhig, ein leichter Schwindel ist in seinem Kopf, sein Atem geht schleppend oder stockend, wie man will. Manchmal kann sich Felix einfach nicht von den Seelenzuständen anderer Leute abgrenzen, es ist dann, also würde er von diesen Seelen geradezu eingesogen.
Sie steigen nach einer geraumen Weile in einen Regionalzug, der sich zwar Rapido nennt, was, soviel Felix versteht, an sich «schnell» bedeutet, der aber nichtsdestotrotz bei jedem Fliegenschiss hält. Nein, Felix kann die Schönheiten der gemächlich vorbeiziehenden Natur nicht geniessen, die Berge, die kahlen Hügel, das Meer. Er will vorwärts, er ist auf der Flucht. Er hat den Tod gesehen, auf dem Gesicht der alten Frau. Er will heim, ins Vertraute, verschmelzen mit dem heissen kleinen Punkt.
Der Zug, in welchem Felix sitzt und in dem es Felix unwohl ist, weil er Atembeschwerden und Angstzustände hat, führt sie nach Port Bou an die französische Grenze. In Port Bou sind Felix vor zehn Jahren, in umgekehrter Richtung fahrend, dreihundert Franken gestohlen worden oder er hat sie da verloren. Jemand wird damals seine Freude daran gehabt haben. In der Bahnhofshalle von Port Bou leben übrigens – sagten wir es schon? – Fledermäuse. Schräge Gegend da oben oder da unten.
Auch das ist uns nicht neu: Zwischen Port Bou und Cerbère, Cerberus, liegt die Grenze.
Felix sitzt also im Zug und fühlt sich immer komischer, seine Seele ruht weniger als sie sich windet auf einem Nadelkissen oder Nadelbrett, aber nicht wie ein Fakir, sondern eher wie der Leidende auf dem Prokrustesbett, sein Körper ist schwach und sein Hirn ist wach, jedenfalls wacher, als es sonst ist, gleichzeitig hat er das Gefühl, nächstens in eine Ohnmacht zu fallen, Nachbarin, ihr Fläschchen. Hysterisch, denkt Felix, aber er kann es nicht ändern, und wir können es auch nicht.
Alles, was einem Menschen üblicherweise Zuversicht und Vertrauen schenkt – das Bewusstsein, mit beiden Arschbacken, ja, mit den Arschbacken, meine Damen und Herren, fest auf dem Boden der so genannten Realität zu sitzen, fehlt Felix in diesem Moment ganz und gar. Er schwitzt kalt, seine Handflächen sind feucht. Er nimmt nur noch Seltsamkeiten wahr. Der Zug, die Leute im rumpelnden Zug, die vorbeigleitende Landschaft hinter dem Fenster, er selbst – alles verwandelt sich ganz und gar in Seltsamkeit, in etwas Fremdartiges, nie Gesehenes. Wenn alles Vertraute verschwindet, ist es wie Sterben. Dann gilt es Abschied nehmen, Freunde.
Cerbère, Cerberus, der dreiköpfige Höllenhund, Bruder der Sphinx, ans Mittelmeer gekettet, steht am Tor zu den anderen Welten und zeigt seine Zähne. «Da Herakles nicht wusste, was er mit dem Hund anfangen sollte, brachte er ihn dem Hades zurück.»
Cerberus bewacht das Reich des Hades, die Unterwelt, das Schattenreich, er sorgt dafür, dass die Toten nicht ins Reich der Lebendigen zurückkehren können.





Cèrbere ist der erste Ort auf französischer Seite nach der Grenze. Da kommen Felix und sein Begleiter um zwei Uhr am Nachmittag an. Das Wetter ist sommerlich-tropisch, obwohl schon Oktober. Trotz des Streiks soll ein Nachtzug nach Genf fahren, der Cerbère etwa um Mitternacht verlassen wird.
Na also! Alles halb so wild: in zehn Stunden geht es weiter!
Es ist jetzt an der Zeit, das Geheimnis zu lüften und der geneigten Leserschaft bekannt zu geben, wer denn der ominöse Begleiter an der Seite von Felix ist. Es handelt sich dabei um einen kleinen Araber oder Perser mittleren Alters, wie man sagt. Es ist ein alter Bekannter von Felix, ein Sonderling, mit dem dieser auch schon auf Reisen war, damals in einem roten Deux-chevaux namens Antonius. Wir kennen ihn alle unter dem Namen Ernst. Ein inzwischen rot gekleideter Araber, der sich auf dem Pfad der Erleuchtung des so genannten Bhagwans befindet und den es auf diesem Weg sogar nach Amerika, in die Vereinigten Heiligen Staaten von Amerika, verschlagen hat, ein Reich, in das der rote Araber so gar nicht passen will. Auch der kleine Araber gleitet am Himmel des Schicksals und weiss nicht, wohin es ihn verschlagen wird. Das Leben ist wirklich ein Abenteuer. Die Liebe ein anderer Himmel. Der Tod wird das letzte Abenteuer sein oder das erste. Und wir trinken von Lethe, dem Vergessen, dem süssen, süssen Vergessen. Es schmeckt nach Brandy, es hat den Geruch deiner Achselhöhlen. Es ist Fliegen, Gleiten, Jagen, es ist die heisse Sonne, der Wind, der dem Meer süsse Schauer über die Haut jagt. Die Ränder der Berge gegen den Horizont. Das Singen des Windes, der sich an einem Hohlkörper reibt. Der internationale Bahnhof von Cerbère, der auf halber Höhe mitten im Bild steht, der Zug von Port Bou, Spanien, entlässt immer mehr Ausländer, die eigentlich von Cerbère nichts wollen, die mit Cerbère nichts zu tun haben wollen, die nur weiter, heimzu wollen, in die warmen Kuschelbettchen und zu den gewohnten Schnullern, die die Schönheit von Cerbère nicht wahrhaben wollen oder wahrhaben können, diese grausame Schönheit des Höllentors, denn in Cerbère, diesem Übergang, wird gewartet. An den Tischchen in der näheren und weiteren Umgebung hocken in der Mehrzahl Schweizer und Schweizerinnen. Die schweizerische Jugend und auch die älteren Semester sitzen also wartend in Cerbère in einem Strassencafé und wundern sich, dass das Bier so teuer geworden ist. Man erzählt sich von dem, was war, und von dem, was sein wird, aber nie von dem, was ist.



Cerberus, der Höllenhund

Doch zurück zu Felix, der sich, in Cerbère angelangt, noch immer sehr unruhig fühlt. Immerhin ist er froh, raus zu sein aus dem klaustrophobischen Zug. Er will sich bewegen. Sie können, nach einem längeren Theater an einem Schliessfach, ihre Reisetaschen bei der Gepäckaufbewahrung, an einem Schalter mit der Bezeichnung «Bagages» bei einem Mann, der eigentlich streikt, gegen eine ziemlich hohe Gebühr in Verwahrung geben. Sie können sich sogar Couchette-Plätze im Nachtzug reservieren.
Aber es hilft alles nichts. Sie gehen in ein Restaurant am Häfchen essen. Felix bestellt Hühnchen mit Pommes-frites, er ist nicht hungrig, aber er denkt, dass es ihm, nachdem er etwas gegessen und getrunken hat, besser gehen wird. Doch das Gegenteil ist der Fall. Der leise Schwindel im Hirn verstärkt sich. Das Herz schlägt unvermindert schnell. Felix schwitzt und ringt um Atem. Er fühlt sich immer noch gleichzeitig müde und überwach. Das ohne Genuss verspeiste Hähnchen liegt beleidigt in seinem Magen. Er will an den Strand, der allerdings nicht sandig ist, sich hinlegen und ein wenig schlafen. Er legt sich in die Sonne. An Schlaf ist allerdings nicht zu denken. Es kommen ihm vielmehr die beiden Buben in den Sinn, Schweizerbuben, die er in Sant Antoni di Calonge am Strand beim Spielen beobachtet hat. Das heisst, eigentlich haben sie ja nicht gespielt, sie schienen sich im Gegenteil zu langweilen. Es war Unruhe in ihren Körpern. Diese Unruhe deutete auf das langsame oder auch plötzliche Erwachen neuer Sinne hin. Felix stellt sich nun diese Unruhe vor, das beruhigt ihn ein wenig, während er an einem anderen Strand liegt, in der Bucht von Cerbère, und auf Erlösung wartet, auf irgendeine Erlösung, er ist da nicht wählerisch, er nimmt jede. Die Eltern der schönen Buben hatten den ganzen Tag vor der Strandbar gesessen und gefressen und gesoffen und die dicken hässlichen Ehefrauen der dicken hässlichen Ehemänner hatten gesagt: Schön, sich auch einmal bedienen zu lassen. Aber die Buben waren noch wie junge Tiere.



Der Strand von St. Antoni di Calonge

Die Beruhigung ist nur eine oberflächliche. In tieferen Tiefen brodelt es noch immer ohne Rücksicht auf das Ruhebedürfnis von Felix. Jemand muss Felix einen Trip in einen Drink getan haben. Oder er leidet unter einem Flash-back. Zu so einer Hundsgemeinheit ist die Chemie seines Körpers durchaus fähig. Die Nerven mit Adrenalin geschmiert. Der kleine Araber entdeckt Kurt Furgler, den Bundespräsidenten der Confoederatio Helveticae, der inkognito in der Bucht von Cerbère badet, sich vor dem Sprung ins Wasser eine Zigarette anzündend, um sich Mut zu machen, und danach, um sich für den Mut zu belohnen. Geheimdienst überwacht ihn, den Bundespräsidenten mit dem verkniffenen Mund, diskret, der spanische, der französische natürlich, aber auch der amerikanische und sogar der chinesische. Ein kleiner struppiger Hund bellt mit bewundernswürdiger Penetranz alle Autos an, die vorbeifahren. Er wird nicht überfahren, obwohl er mitten auf der Strasse steht und nicht weichen will. Es ist Cerberus, der Höllenhund, getarnt als kläffender Strassenköter, denn wir befinden uns im zwanzigsten Jahrhundert. Dem Felix entgeht kein Detail. Er ist der Geheimdienst, der den Geheimdienst überwacht.



Kurt Furgler, schweizerischer Bundesrat, cognito

Als federleichte Wölkchen sich vom Land gegen das Meer zu bewegen und sich alsbald in Luft auflösen, als sich der Himmel violett färbt und die elektrischen Lichter aufflammen, sitzen der kleine Araber und Felix auf der Terrasse eines Restaurants und in der Tiefe gischt das Meer gegen die schiefrigen, quer liegenden Felsen. Sie trinken Pernod oder Pastis. Im Innern des Restaurants entdeckt Felix Kurt Furgler wieder, aber auch James Bond, einen Wissenschaftler, einen Inder, eine Inderin, einen hübschen blonden Mann. Eine gefährliche Geschichte scheint sich anzubahnen, noch undurchschaubar. Felix raucht Zigaretten, obwohl lufthungrig. Er fürchtet sich, will sich aber nichts anmerken lassen. Der Wirt reibt sich die Hände, er freut sich sichtlich darüber, dass die Eisenbahner streiken, beschert es ihm doch das Geschäft des Jahrhunderts. Auch Felix und der kleine Araber gehen jetzt ins Innere des Restaurants. Bestellen sich das teuerste Essen, das es auf der Karte gibt, und einen Liter Wein. Aber Felix ist nur durstig. Schon den Fisch mag er nicht anrühren, er sieht einen Kadaver auf seinem Teller liegen, er will keine Leichen essen, er will lieber trinken, trinken beruhigt mich sonst immer, sagt Felix laut zum kleinen Araber, der sich genüsslich Fisch in den Mund schiebt und kaut. Felix säuft den Wein wie Wasser, wird aber nicht einmal ansatzweise betrunken. Er ist nun endgültig überzeugt davon, dass ihm der gegnerische Geheimdienst LSD in die Blutbahnen geschmuggelt hat. Er kann jetzt niemanden mehr anschauen, ohne das Entsetzliche zu bemerken, das bei jedem im Hintergrund lauert. Er kann keinen Schritt mehr gehen, ohne das dünne Eis unter seinen Füssen knirschen zu hören. Er kann nicht mehr am Tisch vor der Fischleiche sitzen, von welcher er keine zwei Bissen verspeist hat. Er muss aufstehen, ruckartig, und an die frische Luft rennen, den kleinen Araber perplex allein an seinem Tisch im Restaurant zurücklassend. Der Wind bläst auf Hohlkörpern Melodien aus der Unterwelt. Felix steht mit Augen gross wie Wagenräder am Meer, das jetzt pechschwarz ist mit weissen Schaumkronen. James Bond hat sich als James Bond verkleidet. Kurt Furgler ist auf Kurt Furgler geschminkt. Felix ist Felix, aber er würde gerne aus seiner Haut schlüpfen oder vielmehr aus seinem Hirn und bitte eine andere Rolle übernehmen. Er ist ein Spion wider Willen, einer, der eigentlich gar nichts wissen will. Nein, er will nichts wissen, nie mehr auch nur das Geringste wissen!
Schliesslich wagt er sich doch wieder zurück ins Restaurant, säuft weiteren Wein, der Wirt kann nicht verstehen, wie man seinen guten Fisch, Spezialität des Hauses, einfach stehen lassen kann. Bei diesem Wirt ist Felix endgültig unten durch, so viel ist schon mal klar. Felix beginnt zu reden, um nicht zu schweigen. Die Sprache, sagt er zum kleinen Araber, der schon immer wusste, das Felix ein bisschen plemplem ist oder sogar eine ganz gewaltige Meise hat, hätte dieser Felix nur auf ihn gehört, damals in Griechenland, die Sprache ist dem Menschen gegeben wie die Musik, das Symbolische ist wie eine gläserne Wand vor dem Abgrund.

Schliesslich sitzen oder vielmehr liegen sie im Nachtzug von Cerbère nach Genf. Und Felix fühlt das Jagen durch Raum und Zeit und weiss doch, dass er dem Unheimlichen nicht entrinnen kann, dem Sterben nicht, dem Geborenwerden nicht, dem Aufbruch ins Unbekannte nicht.
Ist die Angst nun ein Freund oder ein Feind?

Freitag, 25. Januar 2008

Gotthelf in Bologna



Felix war am Morgen noch in Bern und freute sich eigentlich gar nicht auf das Wegfahren, auf die Veränderung. Einerseits liebt er die bettschwere Lethargie, die ihm andererseits zutiefst verhasst ist; Übergangsstadien dagegen sind ihm vollends zuwider. Nach dem Stempeln auf dem Arbeitsamt kaufte er sich dennoch das Billet nach Bologna – weiss der Herrgott, warum ein Ticket nach Bologna, es hätte doch auch Ferrara oder Novara oder noch besser Parma sein können, vor allem, weil der Gedanke an die kulinarische Spezialität dieser Stadt Felix den Mund wässert. Felix muss zwar zugeben, dass Bologna eine schöne Stadt ist, wenn auch auseinander gerissen durch das zwanzigste Jahrhundert, in welches die alten Fassaden unversehens geraten sind. Jedoch erzeugen solche Fassaden im Herzen von Felix momentan keinen Widerhall. Sie können ihm, krasser noch, gewissermassen den Buckel runterrutschen. Felix reist nicht wegen der Fassaden, sondern aus einer unbestimmbaren Unruhe oder gar Nervosität heraus. Fassaden hat Felix in Bern genug, sogar solche aus dem Mittelalter.
Felix kauft sich viel Bier für die Reise im Zug. Das Zurücklegen von Distanzen passt ausgezeichnet zu einem kräftigen Bierkonsum, es macht die Bewegungen des Zugs weicher, es macht das Rollen der Räder auf den Schienen runder.
Nun liegt Felix auf dem Hotelbett, das ihn, dreisternhaft, 36'000 Lire die Nacht kostet. Als arbeitsloser Buchhändler hätte er sich zwar eigentlich eine billigere Pension suchen müssen, aber dazu war er zu bequem. Jetzt muss er seine Nacht halt einigermassen komfortabel verbringen.

Felix geht der Atem schwer. Er ist in einem anderen Hotel, von dreien auf einen Stern abgerutscht. Das ist es aber nicht, was ihn bedrückt. Er weiss noch immer nicht, was er hier soll. Und, was schlimmer ist; ihm ist aufgegangen, dass er überhaupt nicht mehr weiss, was er soll. Felix fühlt sich also nicht nur, als sei er zufälligerweise in Bologna verloren gegangen – und niemand vermisst ihn und fragt auf dem Fundbüro nach ihm –, sondern er fühlt sich so, als sei er überhaupt auf diesem Planeten zufälligerweise verloren gegangen und könne sich nicht erinnern, woher er gekommen ist, bevor er verlorenging, und ob es da, wo er herkommt, überhaupt jemanden gibt, der ihn vermissen könnte.
Mit dreissig fühlt Felix sich schon beinahe wie ein alter Mann. Er freut sich auf nichts, alles ist ihm eigentlich zuwider. Er hat keine Abenteuerlust im Ranzen, ist nicht verliebt. Seine Haut und sein Herz sind dürr geworden mangels leidenschaftlicher Berührung. Seine Schwächen haben sich verstärkt, seine Stärken verschwächt.



Nachdem gestern der Sommer kurz vorbei geschaut hat, liegt Fleix heute, weil es den ganzen Tag nicht nur regnet, sondern sogar richtig aprilmässig stürmt und wie aus Kübeln schüttet, ohne Unterbruch in diesem grässlichen Albergo-Zimmer auf diesem viel zu weichen Bett und liest bei schlechtem Licht Gotthelfs «Käserei in der Vehfreude», derweil der Regen in den Lichtschacht vor seinem Fenster prasselt. Dazu trinkt Felix holländisches Bier aus der Dose, «Bavana» und «Heineken». Ganz nüchtern würde er es ja nicht aushalten auf seiner Prokrustes-Liege, obwohl ihm auch der Gotthelf dabei hilft, den Tag zu überstehen. Der kann vielleicht erzählen! Felix ist ganz blass vor Neid. Es ist ja für so einen Möchtegernerzähler wie ihn wirklich deprimierend, jemanden zu lesen, der richtig gut schreiben kann.
Das Buch handelt von einem Dorf, das beschliesst, eine Genossenschaftskäserei zu betreiben, weil das die modernen Zeiten so erfordern. Damit beginnt aber ein unglückseliger Wettbewerb: Die Bauern versuchen, ihre Milch mit Wasser zu pantschen, um am Schluss, nachdem die Milch zu Käse verarbeitet ist und die Käse verkauft sind, einen grösseren Anteil am Erlös zu bekommen. Damit beginnen die Konflikte. Der Eglihannes macht krumme Deals mit Käsehändlern und will in die eigene Tasche wirtschaften. Es kommt, wie es kommen muss, nämlich zu einer deftigen Schlägerei. Das Dürluft-Eisi versucht, die Nägelibodenbäuerin totzubeten, ihr Mann ist ein Höseler. Eine Liebesgeschichte darf in dem Buch natürlich auch nicht fehlen. Ja, der Gotthelf weiss, wie eine Geschichte gemacht wird. Felix liest gerade: «Es war ein rechtes Elend. Es ist gut, sind die Tage Planeten und wandeln, nicht Fixsterne, die bleiben! Wohl möchte man zuweilen ein Josua sein, der Sonne, Mond und Sterne stellen konnte, wenn die Freude wie eine Sonne über unserm Haupte steht und uns Glück umfliesst wie der Sonne Licht. Der Mensch kann ein ungetrübtes Glück nicht ertragen – was würde das für ein nichtsnutziges Menschengeschlecht geben! Er kann es so wenig ertragen als Pflanzen ein ewiges Sonnenlicht; die wollen ja auch Regen, wollen namentlich Nächte voll Tau und Finsternis, um zu gedeihen, zu wachsen, zu blühen und Früchte zu tragen.»

Als es endlich aufhört zu regnen, ist es bereits sechs Uhr und Abend. Felix zieht extra und zur Feier dieses beschissenen Tages seine elegante weisse Hose an und geht spazieren. Auf einen Hügel, von dem aus man die Stadt von oben sieht, wie es sich gehört. Plötzlich Abendsonne, nach dem ergiebigen Regen, oder zumindest etwas Abendlicht. Die Bäume grünen und blühen, Felix könnte dieses Frühlingsunwetter nie und nimmer mit einem Herbstunwetter verwechseln. Dazwischen, davor und danach Aperitifs in diesen verflixten italienischen Bars, in denen man zuviel und zu schnell trinkt und in denen es keine Cabinetti gibt (fast wie in Indien), und man muss umso mehr trinken, je dringender man eigentlich pissen müsste. Sie sind schlau, die Italiener, und auf eine unverbindliche Art charmant. Felix gerät bei den Aperitifs heute mehrmals an den Brandy, weil er vergessen hat, dass er eigentlich besser einen Campari Soda bestellen sollte. Der Brandy geht sofort ins Blut, umso mehr, als Felix den ganzen Tag nichts Richtiges gegessen hat, obwohl das schon etwas pervers ist, wenn man Gotthelf-Romane liest, bei deren Lektüre vor dem geistigen Auge sich biegende Bernerplatten mit Würsten und Speck und Berge von Meränggen mit riesigen Schlagrahmhaufen übereinander türmen.
Schliesslich findet er, gegen neun, ein Ristorante, und überisst sich prompt. Er fürchtet, nicht einmal mehr richtig furzen zu können, ohne gleich ganz zu platzen, so voll gestopft ist er, und der Wein tropft ihm fast aus den Ohren heraus. Felix will dann ja eigentlich noch in den Kinki Gay Club, dessen Adresse er aus dem «Spartacus» hat, aber dieses Etablissement ist heute offensichtlich chiuso, was Felix, der ja auch ein bisschen zu ist, eigentlich gelegen kommt. Die italienischen Jungs gefallen ihm ohnehin nicht so recht, oder sie gefallen ihm schon, aber er ihnen nicht, oder einfach scheiss drauf, manchmal ist es nur mühsam, eine Absicht oder ein Ziel zu verfolgen, und sei es auch ein im Grunde lohnendes wie eine Liebesnacht mit einem bello ragazzo.



Felix, unser lieber Freund, wir haben dich heute kurz gesehen mit deiner tomatenroten Nase und deiner Reisetasche, offenbar bemühst du dich darum, auf Ferienfüssen zu wandeln! Gratuliere! Wir müssen schon sagen, du sahst beeindruckend aus, insbesondere, weil du schon wieder oder immer noch deine eleganten weissen Hosen anhattest und eine Flasche Bier am Mund. Du hast heute mit deinem höchstpersönlichen Reisebüro einen Tagesausflug nach Rimini unternommen und dir dabei den zweiten Sonnenbrand dieses Jahres geholt – allerhand dafür, dass wir erst Mitte April haben! Nun, dir ist nicht zu helfen. Du wolltest bloss wieder einmal das Meer sehen, und es war so zwischen grün und blau wie eh und je, in Rimini, im April. Stundenlang haben wir dich auf der Terrasse eines Sonnenbadrestaurants verweilen sehen, sagen wir, und du runzelst deine ebenfalls sonnenverbrannte Stirn. Der Wind ging, sagst du, da merkte man die Sonne gar nicht. Jetzt bist du, in deiner dritten Nacht in Bologna, bereits in der dritten Albergo gelandet, und dieses Mal hört sie auf den göttlichen Namen «Apollo». Camera numero undici. Göttlich ist sie nicht gerade, aber tant pis è basta! Sie merken es dir, die Italiener, trotz deiner fabelhaften Italienischkenntnisse an, dass du eine Touristin bist. Und antworten dir meist auf Englisch. Na prima, kann ich da nur sagen, wonderful, wir gratulieren.

Vor dem Apéro wirst du einem schlimmen Verdacht ausgesetzt, und zwar durch einen, der sich als Journalist ausgibt und der dich zwar rennend, aber immerhin nicht mit einer Kamera bewaffnet, verfolgt, obwohl du ihm gar nicht davonrennst. Er verwechselt dich, ausgerechnet dich! mit einem heterosexuellen! Sittlichkeitsverbrecher!, einem Mädchenschänder!, aber als er dir dann genauer ins sonnenbrandversehrte Gesicht schaut, muss er eingestehen, dass so ein Mädchenschänder nie im Leben aussehen kann oder was auch sonst immer ihm durch den Journalisten- oder auch Möchtegernjournalistenkopf gehen mag. Er radbrechert – natürlich auf Englisch – etwas, das nach einer Entschuldigung klingt, aber es kommt ihm nicht in den Sinn, dich auf ein Glas einzuladen, was dich vielleicht versöhnlich stimmen würde. So bleibst du empört zurück, speist das Wort «Mädchenvergewaltiger» wie ein Stück Scheisse aus dem Mund, nein, du bist kein Mädchenvergewaltiger, sondern willst, wenn es gestern schon nicht möglich war, dann heute definitiv in den Kinki Gay Club. Und mal sehen! Nicht wahr, es ist schon komisch, wie komisch du wirst im Kopf, wenn du den ganzen Tag nichts anderes sagst als: Una birra, caffè con grappa, grazie, Tortellini e Canelloni, andate e ritorno per pavore, Campari soda, si, il tempo e brutto, no, e occupato, buona notte, grazie. Das Aqua Minerale heisst wie immer Levissima. Und dann wirst du zu allem noch als Mädchenvergewaltiger beschimpft. In Bologna fühlst du dich schon fast wie zu Hause: Auch wenn nichts passiert, passiert nämlich etwas, e basta!
So, und jetzt gehst du wirklich in den Kinki Gay Club, oder saufst noch eins, dass die Wände oder die Schwarten krachen. Salute!

Donnerstag, 24. Januar 2008

1985



Gorbi mit Birne

Michail Gorbatschow wird als Nachfolger des verstorbenen Tschernenko neuer Parteichef der KPdSU; er ist ein Günstling des vor zwei Jahren verstorbenen Andropow. Gorbatschow lobt Gromyko auf die Position des Staatsoberhauptes hoch und besetzt das Aussenministerium mit dem Georgier Schewardnase. Neuer Ministerpräsident der UdSSR wird der Wirtschaftsexperte Ryschkow. Auf dem Ost-West-Gipfeltreffen in Genf handeln Gorbatschow und Reagan eine fünfzigprozentige Reduktion atomarer Sprengköpfe aus. Ein Fotograf wird getötet, als der französische Geheimdienst das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrier im neuseeländischen Hafen von Auckland versenkt. Die Umweltminister der EG einigen sich auf die stufenweise Einführung von Katalysatoren zur Abgasreinigung bei Kraftfahrzeugen. Die Israelis ziehen sich bis auf einen zehn Kilometer breiten Sicherheitsstreifen aus dem Libanon zurück. Von den zwölf Staaten der Europäischen Union unterzeichnen sieben (Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Portugal und Spanien) das Schengener Abkommen, das den Wegfall der Grenzschranken zugunsten eines freien Personenverkehrs vorsieht. Von Datenschützern wird kritisiert, dass die Einrichtung eines Zentralcomputers für die Kriminalstatistik vorgesehen ist. Das Abkommen soll 1995 in Kraft treten.
Mit 520 Toten erlebt Japan das schwerste Flugzeugunglück in der Geschichte der zivilen Luftfahrt. Der Daimler-Benz Konzern schluckt den Elektro- und Rüstungsriesen AEG. Der erst siebzehnjährige Boris Becker gewinnt am 7. Juli das Tennisfinale in Wimbledon. Im Brüsseler Heysel-Stadion fangen englische Hooligans vor dem Endspiel um den Europacup eine Massenschlägerei an. In der in Panik fliehenden Zuschauermenge werden 39 Menschen getötet und über 200 verletzt. Im mittelenglischen Bradford fordert während eines Fussballspiels ein Brand 54 Todesopfer. Über Glasfaserkabel können nun mehr als eine Viertelmillion Telefonate gleichzeitig geführt werden.



Pillowtalk: Rock Hudson als Homosexueller, der einen Heterosexuellen spielt, der einen Homosexuellen spielt



Titanic before sunk



Don't worry be happy

Das Wrack der 1912 gesunkenen Titanic wird gefunden. Die Pet Shop Boys können etwas oder jemanden musikalisch einfach nicht vergessen («Always On My Mind»), France Gall versetzt mit dem Hit «Ella, elle l’a» nicht nur Frankreich in Aufregung, Ofra Haza bringt mit «Im Nin Alu» ein wenig Orientalità in die Wohnstuben und Büros und Bobby McFerrin gibt uns allen den guten Rat, auf ewig möge er gelten: «Don’t Worry, Be Happy». In der Schweiz gibt es seit zwei Jahren private Radiostationen wie Radio 24, Radio Basilisk und Radio ExtraBe.
1985 sterben der Schriftsteller und Nobelpreisträger Heinrich Böll, der Maler Marc Chagall, der Filmschauspieler Rock Hudson, sein heterosexueller Kollege Yul Brunner sowie der Geophysiker und Begründer der «nach oben offenen», aber eigentlich lediglich logarithmischen Erdbebenskala, Charles Francis Richter. (Rock Hudson war einer der ersten Prominenten, die an den Folgen von AIDS verstarben. Erst kurz nach Bekanntwerden seiner Erkrankung an AIDS outete sich Rock Hudson und bekannte sich zu seiner Homosexualität, nachdem es bereits zuvor Gerüchte darum gegeben hatte, vor allem in Bezug auf seine Krankheit. In dem Film «Bettgeflüster» hatte er mit seiner Darstellung eines Heterosexuellen, der einen Homosexuellen spielt, eine der kuriosesten Situationen der amerikanischen Filmgeschichte erzeugt.)

Mittwoch, 23. Januar 2008

Ein Gattopardo in Stromboli



Strombolicchio, der kleine Herr Strombli, mit Regenbogen


Komisch, dieses Jahr sind Sommer und Herbst seitenverkehrt: so etwas wie Sommer erlebt Felix erst jetzt, hier, im Süden. Es geht ihm besser als im Sommer in Holland, wenn auch noch lange nicht wirklich gut. Allerdings ist die Situation nun auch eine ganz andere: Felix hat nämlich zusammen mit den Leuten aus seiner WG in Stromboli ein Haus gemietet, und jetzt findet das WG-Leben vor etwas veränderter Kulisse eben in Italien statt.
Felix sitzt auf der Terrasse des Ristorante Stromboli und trinkt ein Bier der Marke Wührer. Es windet ziemlich stark auf dieser Insel um diese Jahreszeit, es windet – wie in Holland –eigentlich immer, in unterschiedlicher Stärke und aus unterschiedlichen Richtungen, aber aus welcher Richtung der Wind auch kommt, er kommt vom Meer und hat einen salzigen Geschmack. Der Sand ist schwarz, die Häuser sind weiss. Felix badet gern im Meer, vor allem, wenn es hohe Wellen hat wie jetzt, Ende September. Auf dem Schiff liebt Felix hohe Wellen schon etwas weniger; man kann sich ans Schaukeln allerdings gewöhnen, dann schaukelt es auch noch, wenn man längst an Land ist und es eigentlich nicht mehr schaukelt. Es hat erstaunlich viele Schweizer hier, der Teufel weiss warum. Der Vermieter ihres Hauses ist ein komischer Kauz, dem Felix nicht so recht traut, Mafia kommt ihm in den Sinn, Bilder von sizilianischen Schlitzohren zucken durch sein Hirn, die sich aber schon Sekunden später in der grossen Vergessenheit aufgelöst hätten, würden wir sie hier nicht für die Nachwelt bewahren (allerdings stellt sich natürlich jeder unter sizilianischen Schlitzohren wieder etwas anderes vor). Felix fühlt sich antriebsschwach, ständig auf der Hut vor Panikmomenten und Angstlöchern, die sich aber trotzdem immer wieder unvermittelt vor ihm auftun: das erste Mal im Zug zwischen Rom und Neapel liess er sich von der Übermüdung überrumpeln und konnte sich nur noch dadurch retten, dass er sich in seinen inneren Pornofilm vertiefte: Geilheit als Reflex gegen die Angst. Dann, auf dem Schiff, die Angst vor dem Verschlungenwerden durch das Meer, dieses Sich-Ausgeliefert-Fühlen an die Macht der Elemente. Felix trinkt Whisky, um nicht seekrank zu werden, weil er denkt, es sei ihm lieber vom Saufen übel als vom Schaukeln – aber es wird ihm nicht übel, er kann bloss nicht schlafen vor Angst.
Dann die Angst vor dem Berg, dem Vulkan, der sich unberechenbar seinen kleinen Ausbrüchen hingibt, Ausbrüchen, die von irgendwoher kommen, aus Regionen, die dem Menschen versperrt sind (jawohl, wir stehen zu dieser Formulierung, auch wenn sie zugegebenermassen etwas pompös daherkommt, aber ein Vulkan und zumal der Stromboli ja wirklich etwas Pompöses und darf daher auch mit pompösen Worten beschrieben werden und schliesslich sind die Regionen, aus denen die Ausbrüche kommen, dem Menschen ja tatsächlich versperrt).





Felix weiss, dass seine Beeindruckbarkeit oftmals an Hysterie grenzt, um es noch zurückhaltend auszudrücken.
Auf dem Weg zum Vulkan hoch begegnen sie Hunderten von schwarzen Schlangen – ungiftigen Schlangen, wie anzunehmen und zu hoffen ist, auf jeden Fall wird der Weg beruhigenderweise nicht von blau angelaufenen Leichen gesäumt. Auf dem Stromboli oben fürchtet sich Felix davor, dass sein Herz plötzlich still stehen könnte – es hüpft ganz munter und chaotisch, als hätte es von Rhythmus keine Ahnung, sein Herz wird plötzlich so launenhaft wie der Berg unter ihm mit den drei Löchern, aus denen es dampft und grollt und aus welchen es jetzt spuckt und ejakuliert, erkaltete Lavabrocken, aber auch Staub und Asche, die sich in seinem Haar verfangen.
Das Herz von Felix steht nicht still. Seine Hände schreiben, wenn sein Hirn es so befiehlt. Seine unschuldigen, tierhaften Hände. Seine Füsse, von denen das Hirn am wenigsten eine Ahnung hat, weil sie sich so weit weg von der Kopfburg befinden. Und während Felix in die philosophische Betrachtung seiner Füsse versunken ist, wollen wir uns mal ein wenig den anderen WG-Mitbewohnerinnen und -bewohnern zuwenden. Sie haben andere Sorgen und Probleme. Eddie beispielsweise, der anders heisst, seit er in die Jüngerschaft des Bhagwans aufgenommen wurde, verspürt weniger die Angst als die Gier. Er ist süchtig nach jenem Glücksmoment, der sich ergibt, wenn man mit jemandem zusammenliegt, wenn man den Körper wirklich spürt, wenn man durch die Haut eines anderen eintaucht in den Kreislauf der Welt.
Die rothaarige Emma, die nur so heisst, aber nicht wirklich eine Feministin ist, sondern eher ein wenig der Typ des Hausmütterchens, kennt die Ängste von Felix auch nicht – das nehmen wir jedenfalls an oder verfügen es so kraft unserer gottähnlichen Autorenschaft. Emma, die nur diesen und keinen neuen indischen Namen hat, weil sie nicht zu den Anhängern des Bhagwans gehört, schreibt einen Liebesbrief, im schwankenden Licht der Laterne auf der Terrasse. Verliebte kennen keine Angst vor Vulkanen, im Gegenteil. Ernst, ja der Ernst, der uns im Verlauf dieses Berichts schon einige Male begegnet ist (Stichwort: Antonius) und inzwischen auch einen anderen Namen hat, liest in den Bekenntnissen des Augustin. Welche Sorgen und Probleme er hat, entzieht sich unseren Kenntnissen. Vielleicht ist er wie Augustin, der der Welt entsagt hat, über Sorgen und Probleme längst hinaus. Der Vulkan grollt. Sarah schneidet Tomaten. Auch Frosch, der nicht so heisst, sondern nur von allen so genannt wird, obwohl er gar nicht so aussieht, sondern ganz nett, wie Felix findet, aber eben, seufz, total hetero ist, liest ein Buch, allerdings nicht die Bekenntnisse des Augstin, es scheint etwas Spannendes zu sein, denn der Vulkan grollt schon wieder. Die Katze, ihr Adoptivbaby, ist so plötzlich verschwunden, wie sie ihnen zugelaufen ist, Felix fragt laut in die Runde: «Wo ist denn unser kleiner Panther, unser Gattopardo?» Er scheint sich ein neues vorübergehendes Domizil erobert zu haben mit seinem Charme. Wahrscheinlich hatte er genug von dem armseligen Frass, den er bei Felix und seinen Leuten bekommen hat.

Dienstag, 22. Januar 2008

Das Wesen der Zeit



«Was tun, um seine Zeit nicht zu verlieren? Sie in ihrer ganzen Länge empfinden: Tage im Wartezimmer eines Zahnarztes auf einem unbequemen Stuhl verbringen; den Sonntagnachmittag auf seinem Balkon verleben; sich Vorträge in einer Sprache anhören, die man nicht versteht; die längsten und am wenigsten bequemsten Eisenbahnverbindungen aussuchen und natürlich stehend reisen; an der Theaterkasse Schlange stehen und dann seine Karte nicht benutzen.» (Albert Camus, «Die Pest»)

Zeit existiert, weil wir ohne sie nicht existieren würden und uns nicht die Frage stellen könnten, warum sie existiert.

Interessieren Sie sich für das Phänomen der Zeit? Besuchen www.wasistzeit.de

Sonntag, 20. Januar 2008

Nur heute ist heute heute... (14.32 Uhr)


Stille Tage in Bosch-en-Duin



Im Sommer 1984 treffen wir Felix schwitzend auf der deutschen Autobahnraststätte Hünxe.
Er ist durchgefahren, fast ohne Unterbruch, und befindet sich jetzt in der Nähe der holländischen Grenze. Er hofft, es heute zumindest noch bis Arnhem zu schaffen. Erst kam er bis Basel durch, anschliessend bis kurz vor Karlsruhe, und dann, in einem Zug, das heisst natürlich nicht im Zug, sondern in einem Stück, mit einem dicken Brummi bis hierher. Der dicke Lastwagenchauffeur im verschwitzten Unterleibchen quatschte ohne Punkt und Komma, meist über Frauen und das Leben auf der Strasse und das Leben im Allgemeinen, und alle fünf Minuten brüllte er etwas in sein Funkgerät, um sich bei Käte, Lise und Mitzi zu melden, seinen Mietzen am Ufer der Autobahn. Das war der Nervenpreis, den Felix für diesen Lift zu zahlen hatte. Fasziniert starrte er auf die riesigen Haarbüschel, die dem Brummifahrer aus den miefenden Achselhöhlen wucherten. Aber im Grossen und Ganzen hat er heute echt Glück beim Trampen, an diesem fürchterlich heissen Tag, der nach Schweiss und Abgasen riecht.



Er schafft es nach dem Zwischenhalt auf der Autobahnraststätte, wo er ein Bier trinkt, dann sogar noch bis Bosch-en-Duin, das ist ein kleines Kaff bei Zeist, und Zeist ist ein etwas grösseres Kaff bei Bosch-en-Duin, und zwar schafft er es, gewissermassen als Kontrast zum Brummi, in einer roten Ente mit französischem Kennzeichen, einem Bruder oder einer Schwester von Antonius (der geneigte Leser, die geneigte Leserin erinnert sich vielleicht, siehe Post vom 3. Dezember und folgende). Umgekehrt wäre es Felix allerdings fast lieber gewesen (also im Deux-chevaux unter dem blauen Himmel Deutschlands und im Brummi in der holländischen Wetterhexenküche). Aber so viel Koordination zwischen den meteorologischen Verhältnissen und der chronologischen Zuteilung von Verkehrsmitteln beim Trampen kann man vom Schicksal denn doch nicht erwarten (und vom Herrgott schon gar nicht, der hat anderes zu tun, als sich um Tramper zu kümmern). In Holland fahren Felix und sein Chauffeur nämlich direkt ins Zentrum eines Gewitters hinein, das heisst, sie fahren auf eine ziemlich kompakt wirkende bräunlich-schwarze, beeindruckend sich himmelwärts auftürmende Wand zu und dann in diese Wand hinein und dann – oh je, ja dann. So etwas hat Felix noch nie erlebt. Es bricht nämlich ein wahrer Hexenkessel los aus Hagelsturm, grell niederzuckenden Blitzen, wummernden, krachenden, polternden, böllernden Donnerschlägen und heftigsten Windstössen. Von all diesen exzessiven Äusserungen der Natur sind sie nur durch die dünne, fragile Haut ihrer Ente getrennt. Man sieht kaum zwei Meter weit. Eiergrosse Hagelkörner stürzen sich in fast selbstmörderisch anmutender Entschlossenheit vom Himmel auf die Erde. Unsere beiden Reisenden können sich nur noch im Schritttempo vorwärtsbewegen und müssen Bäumen ausweichen, die auf die Fahrbahn gestürzt sind – eine ziemlich beängstigende Sache. Felix ist wieder einmal verkrampft vor Angst, in seinen Därmen rumort es und er müsste dringend aufs WC, woran natürlich nicht zu denken ist, während sein Fahrer, Hansi, ein blondes, vielleicht zwanzigjähriges Bürschchen, versucht, Witze zu reissen und den harten Kerl herauszuhängen, indem er gruselige Geschichten erzählt, und zwar uralte Kamellen wie jene Geschichte vom automobilen englischen Paar im Wald, dem das Benzin ausgeht und dann marschiert der Mann mit dem Benzinkanister los und die Frau wartet und wartet im Auto und plötzlich hört sie ein dumpfes Klopfen auf dem Dach: bumm bumm bumm. Sie kennen diese Geschichte bestimmt, liebe Leserin, lieber Leser. Bumm bumm bumm macht es auch auf dem Autodach von Hansis Antonius.



Nun, mit der Zeit beruhigt sich die Atmosphäre ein bisschen und sie kommen doch noch heil in Utrecht an, wo sie sich bei ein paar redlich verdienten Bierchen und Jeneverchen der Marke Bokma vom Schreck erholen, Felix und der deutsche Kumpel Hansi. Bis Zeist ist es nicht mehr weit, den ehemaligen Bahnwaggon von Nicki finden sie allerdings erst nach langem Suchen, der steht gut getarnt in einer Gruppe von Bäumen, die vom Gewitter glücklicherweise nicht niedergeknickt wurden. Nicki ist eine Bekannte von Mättu (so lautet die berndeutsche Bezeichnung für Matthias) und Mättu ist ein Kollege von Felix aus der Buchhändlerschule. Mättu ist vernünftigerweise mit dem Zug nach Holland gefahren und schon vor einiger Zeit im ehemaligen Bahnwaggon eingetroffen.

Ein paar Tage später, an einem Sonntag, ist Felix noch immer in Zeist/Bosch-en-Duin. Es regnet, die ganze Zeit regnet es, die Stadt zeigt sich provinziell-sonntäglich, und nach dem kräftigen Kaltlufteinbruch, vielleicht handelte es dabei auch um einen Kaltlufttropfen oder ein besonders fieses Höhentief, sind die Temperaturen auch nicht mehr gerade hochsommerlich. Felix sitzt in der einzigen Kneipe von Bosch-en-Duin vor einem trockenen Sherry, er ist dem Häuschen respektive dem ehemaligen Eisenbahnwagon im Wald entflohen.
Morgen wollen Felix und Mättu nach Amsterdam weiter.
Eigentlich hängen sie die ganze Zeit in Bosch-en-Duin nur so rum, indem sie entweder im Eisenbahnwagon kiffen oder mit dem Fahrrad ein bisschen in der Gegend herumfahren. Nun könnte man eigentlich denken, Holland sei ideal zum Verlofahren, da flach, aber wer so denkt, hat den Wind nicht einkalkuliert. Komischerweise hat man in Holland auf dem Fahrrad immer Gegenwind. Wir wissen auch nicht, wie das zu erklären ist, aber es ist so. Wir wollen jetzt nicht von Fall- oder Scherwinden zu schwadronieren beginnen, da wir zugegebenermassen von dieser Materie wenig Ahnung haben. Natürlich lässt es sich auf dem Fahrrad, vor allem, wenn man mit heftigem Gegenwind kämpft oder meinetwegen auch mit Fall- und Scherwinden, nur schlecht unterhalten. Der eh schon schweigsame Mättu wird, wenn er gekifft hat, und das hat er meistens, noch schweigsamer, und so ist das Zusammensein von Mättu und Felix meistens ziemlich arm an verbaler Kommunikation. Die Tage verlaufen also recht ereignislos für die beiden. Nur einmal, am Mittwoch, fahren sie nach Arnhem, um Shit zu kaufen, sonst begeben sie sich höchstens zum Einkaufen nach Zeist oder kehren manchmal abends im Lambik ein, der Bar hier, in der man sich trifft. Das Mädchen arbeitet tagsüber, als Krankenschwester, und ist abends entsprechend geschafft. Nicki ist ein katzenartiges Wesen, unberechenbar wie alle im Sternzeichen des Krebses geborenen Frauen (und Männer).
Mit Mättu, seinem Kumpel aus der Buhhändlerschule, verbindet Felix ein vage freundschaftliches Gefühl. Er ist ein sympathischer und durchaus hübscher, erotisch anziehender junger Mann von achtzehn Jahren. Felix ist 29 und fühlt sich in der Gesellschaft seines Kumpels manchmal schon alt.
Mättu hat keine Ahnung, dass Felix schwul ist, oder Felix geht davon aus, dass Mättu keine Ahnung davon hat, und Felix hat auch nicht das Bedürfnis, es ihm zu sagen. Er hat den Eindruck, Mättu verstehe das möglicherweise nicht oder könne vielmehr mit dieser Information nichts anfangen; nicht, dass Felix glaubt, Mättu würde ihn deswegen ablehnen, aber er befürchtet, ihr Zusammensein würde dann durch Befangenheit geprägt, wobei ihr Zusammensein ja auch so von Befangenheit geprägt ist. Anderseits bewirkt es, dass Felix, wenn er mit Mättu und auch mit dem Mädchen zusammen ist, sich nicht wirklich entspannt fühlt, sich also in einem gewissen Sinn kontrolliert oder gar zensiert. Felix fühlt sich denn auch nicht sehr wohl und sein Atem ist beklemmt. Er hat gehofft, die paar Tage in Amsterdam allein verbringen zu können und dort ein wenig in die Subkultur einzutauchen, aber jetzt will Mättu auch mit. Sie verbringen dann insgesamt nur einen Tag und eine schreckliche Nacht in Amsterdam. Das Hotel, in dem sie übernachten, heisst «The Last Waterhole», und ein Loch ist es und aus dem letzten Loch pfeift es auch. Die ganze Nacht wummern die Bässe und heulen Gitarren und hämmert das Schlagzeug aus der darunter liegenden Kneipe durch den Massenschlag, in dem ein ständiges Kommen und Gehen herrscht und der Rauch vieler Joints und Zigaretten zwischen den Betten steht. Ausserdem stinkt es im letzten Wasserloch noch nach ganz anderem als nach Rauch, und wir sprechen jetzt hier nicht von Küchengerüchen. Also nichts wie weg!

Freitag, 18. Januar 2008

Die Folgen des Urschreis



Während seiner Ausbildung zum Buchhändler lernt Felix natürlich vieles, was uns hier nicht zu interessieren braucht, aber auch eine etwas herbe Dame mit dem zarten Namen Aurore kennen, die zweite Frau, mit der er schläft und mit der er auch ein paar Mal auf Reisen ist, zu zweit während des Karnevals in Verona und Venedig, wo das Wasser knietief in den Gassen steht, und, im grösseren Rahmen der Buchhändlerschule, in Tübingen und in Paris. Von der Reise nach Venedig möchten wir hier nur die folgenden Episoden berichten: Als sie in Venedig aus dem Bahnhofsgebäude treten, werden sie, da zur Zeit alle Hotels und Pensionen und Albergos vollbelegt sind, von einem Privatmann dazu aufgefordert, zu einem nicht ganz billigen Preis in einem Zimmer seiner Privatwohnung zu übernachten. Sie werden im Schlafzimmer des älteren Ehepaars einquartiert und dürfen folglich in deren Ehebett schlafen, was eine Ehre ist, zumal in Italien. Das nehmen Felix und Aurore auf jeden Fall an; sie verlieben sich geradezu in diese Idee. Sie sind ganz glücklich darüber, im Trubel des Karnevals ein Dach über dem Kopf gefunden zu haben. Doch dann schlägt die Stimmung schlagartig um: Sie entdecken an den Wänden Fotos des damals noch jungen Ehemannes, die diesen in einer schwarzen Uniform – offenbar zur Zeit des Zweiten Weltkriegs – zeigen. Der war sicher bei den Faschisten, flüstert Aurore Felix zu, der sich von ihrer Erregung anstecken lässt, und unser Paar steigert sich kontinuierlich in so etwas wie eine Panik hinein. Szenen aus dem Pasolini-Film «Die 120 Tage von Sodom» kommen ihnen in den Sinn. Die werden uns sicher umbringen oder wer weiss was mit uns anstellen, rätseln sie halb im Spass, halb im Ernst herum. Damit ist das Rad der Fantasie in ihren Köpfen angeworfen. Schliesslich, wir wissen gar nicht wie, nachdem sie sich in ein paar immer unheimlicheren Geschichten verloren haben, glaubt Felix auch noch sein Erlebnis vom Strand in Djerba zum Besten geben zu müssen. Zuerst Aurora und dann Felix selbst sträuben sich die Nackenhaare und sie nehmen sich schliesslich vor, in der kommenden Nacht abwechslungsweise Wache zu halten. Das ziehen sie dann allerdings so nicht durch: Felix schläft und schnarcht und Aurore ist wach, weil sie wegen des Lärms nicht schlafen kann.

An einem anderen Tag und gar nicht mehr in Venedig, sondern schon in Verona, wo am Karneval ein echter oder verkleideter Bischof auf einer Bühne mit gemessenen Bewegungen zu Discomusik tanzt, sitzen Aurore und Felix in einer Trattoria und sind daran, beim Kellner ihre Bestellung zu deponieren. Dabei geraten sie unvermittelt in einen absurden Wettstreit, indem sie sich gegenseitig in ihren Bestellungen überbieten: Sie bestellt Pasta, er bestellt Fisch, sie bestellt Salat, er bestellt Fleisch, sie bestellt Suppe, er bestellt ein Tiramisù, er bestellt ein Gericht mit Meerfrüchten, sie bestellt noch einmal Fleisch, er bestellt noch einmal Pasta und sie bestellt Prosecco, er bestellt Weisswein und sie Chianti, er bestellt Barbera und sie eine Flasche Grappa… Der Kellner schaut sie nur mit grossen Augen an und fragt sie, ob sie das alles wirklich haben wollen. Die beiden nicken eifrig. Schliesslich sitzen sie etwas ratlos vor Schüsseln und Tellern und Schalen und Flaschen und Karaffen und können sich nicht in die Augen schauen. Dann tun sie es doch und brechen in schallendes Gelächter aus, was den Kellner hinter ihrem Rücken dazu veranlasst, eine eindeutige Geste zu machen, die zu dem italienischen Wort «matto» passt. Und dann beginnt ein Gelage, wie es die Welt seit dem alten Rom nicht mehr gesehen hat.





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Erneute Verwirrung der Gefühle in Undervelier
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Beginnen wir wie immer mitten in der Geschichte, von der man nie weiss, ob sie das Ende vom Anfang oder den Anfang vom Ende bezeichnet. Felix logiert im «Hotel de la croix blanche» – das ist im Moment aber gar kein Hotel, sondern es sind bloss verwaiste Räume, die im Obergeschoss liegen, Morbid Rooms von morbidem Charme, in denen es bestimmt spukt und in denen Felix recht gruselige Nächte mit nicht sehr tiefem Schlaf verbringen wird – plus immerhin ein Restaurant im Erdgeschoss, das noch in Betrieb ist und in dem man sehr guten Kartoffelsalat mit Beinschinken vom Schwein bestellen kann. Gütige Menschen – Bekannte der oben in diesem Buch als neue Figur aufgetauchten herben jungen Frau mit dem entzückenden Namen Aurore – gewähren ihm als schon etwas überjährigem, aber deshalb nicht weniger armem Lehrling hier kostenlos Asyl. Da haust er nun also in einem vergammelten Zimmer und liegt des Nachts in einem feuchten Bett in seinem muffig riechenden Schlafsack und ist allein. Alles passt – die Melancholie der von Herbststürmen gepeitschten Juralandschaft zur tristen Atmosphäre seines momentanen Aufenthaltsortes und dieser wieder zu seinem eigenen Seelenzustand. Felix ist, wie gesagt, allein, und auch das passt – sozusagen zu allem, zur Welt im Grossen und zur Psyche im Kleinen, zu den Farben, die uns die Natur beschert und zu den Träumen, die dieses unheimliche Haus dem Felix zu nächtlicher Stunde – wie sollen wir es nennen? Einhaucht? Einflösst? Überstülpt? Wir wollen erzählen, wie es so weit kommen konnte.
Eigentlich handelt es sich hierbei um nichts anderes als eine Folge sich häufender Krankheitsgeschichten, also eine Art Krankenhausserie oder Spital-Soap. Erst war da die Liebeskrankheit zu Etienne, dann waren die Folgen eines allzu abrupten Entzugs zu bewältigen. Dann erneuter Anfall jener Sehnsucht, die in Sucht zu münden pflegt: Zärtlichkeitsbedürfnis, das Bedürfnis, mit einem Menschen zu verschmelzen… So unvermittelt, so unkontrollierbar brach es bisher allerdings noch nie über Felix herein. So seltsam losgelöst von seiner Person oder von dem, was er als seine Person empfindet.
Früher pflegte Felix zu sagen: ich liebe. Oder: ich bin verliebt. Jetzt werfen ihn seine «Liebeserlebnisse», die wohl nichts anderes als Sexerlebnisse sind, gebieterisch auf ihn selbst zurück, in die tiefste Hölle seiner Einsamkeit, um es einmal etwas pathetisch auszudrücken (wird ja wohl noch erlaubt sein, bei diesem Thema ein wenig in die Tasten zu greifen).
Diesmal trägt er den Namen Hansueli, oder Üelu, wie man im Bernischen sagt, Sohn einer Lehrerin und eines Bauern aus dem berneroberländischen Beatenberg – selbst ein angehender Lehrer. Jung ist er – erst neunzehn. Schön ist er vielleicht nicht, das kann Felix nicht beurteilen, um als schön im klassischen Sinn zu gelten hat er vielleicht zu rote Backen, aber anziehend ist er, sehr anziehend. Sexy. Als Felix ihn das erste Mal sah, den Üelu, da gab es keine Spur des Zweifels in ihm, dass er diesen Jungen haben wollte und dass er ihn auch bekommen würde, aber was heisst da haben wollte, bekommen würde, das klingt ja wie im Supermarkt, es braute sich auf jeden Fall etwas zusammen. Es braute sich etwas zusammen, und nachdem es sich zusammengebraut hatte, war es da und ereignete sich wie ein Gewitter oder fand statt wie ein Naturereignis. Fast könnte man noch sagen, findet statt – bis vor kurzem. Aber jetzt eben nicht mehr.
Zunächst einmal, drei Tage nach dem ersten Treffen, ereignete sich eine «weisse Nacht». Eine weisse Nacht ist ja schon dem Namen nach ein Paradox: Dunkelheit, vibrierend vor Energie, einer fast träge wirkenden, aber unglaublich hohen Energie, die jene, die eine weisse Nacht zusammen erleben, in eine Art Zwischenreich entführt, jenseits von Schlaf und Wachsein. Die beiden bewegen sich schwimmend durch eine weisse Nacht, schwimmend in einem zugleich hellen und zarten weissen Licht. Eine weisse Nacht hat ganz zweifellos mit Sex zu tun, mit einer geballten Ladung Sex sozusagen, aber mit einer Art von Sex, die weit davon entfernt ist, der physische Zusammenprall zweier Leiber zu sein, sondern die mit dem Traum und dem Rausch oder auch der mystischen Verzückung verwandt ist. So eine Nacht war das, nicht messbar an der Zahl der Orgasmen, sondern an dem Zustand eines wellenartig sich fortpflanzenden Begehrens, das durch keinen Orgasmus gelöscht werden kann. Felix hat so etwas in seinem Leben nur ganz wenige Male erlebt.
Danach haben Üelu und Felix sich noch zweimal kurz gesehen. Immer stand das Spiel dieser Energie im Mittelpunkt. Natürlich waren sie überzeugt davon, ineinander verliebt zu sein. Die folgenden zwei Wochen waren sie getrennt. Üelu arbeitete in einem Hotel in den Bergen als Tellerwäscher. Felix arbeitete in der Stadt in einem grossen Buchladen als Bücherverkäufer. Sie dachten aneinander, wie man an etwas Unwirkliches denkt, sie träumten von einander, sehnten sich nacheinander, schrieben sich Briefe, gaben sich Zeichen durchs Telefon. Es war die schönste Zeit ihrer «Liebe». Sie begegneten sich – romantischer Zufall aber auch – auf romantische Art immer wieder: Üelu reitet mit seinen roten Backen und seinem geilen Arsch auf dem Pferd am Landhaus von Felix vorbei und dieser lädt ihn mit einer lasziven luziferischen Geste, die Sünde bedeutet, ein, auf seinen Balkon zu treten, auf dem das Bett mit der seidenen Bettwäsche schon bereit steht, sie bei Vollmond zu empfangen. «Ach du meine Güte», ist man da versucht, auszurufen, oder «oh mein Gott!» Wobei man als gottähnlicher Autor damit ja eigentlich fast sich selber anruft (nein, natürlich nicht so wie Uriella, wenn sie mit Jesus telefoniert).

Es riecht noch immer nach ihm, nach Üelu. Das macht Felix verrückt, hier, in diesem Morbid Room, selbst jetzt. Am Schluss waren sie in diesen vergammelten Räumen selbst etwas ungewaschen. Es riecht nach ihm, dem Rotbackigen, dem Köstlichen, dem Wohlschmeckenden, es riecht nach seinem parfümierten Stängel, es riecht köstlich nach seinem Achselschweiss. Der Anstoss, zusammen in diese «Ferien» in den Jura zu fahren, kam von Üelu. Felix hat sich, nichts ahnend, darauf gefreut. Jetzt kennt Felix den Begehrten, Geliebten noch immer nicht – ausgenommen vielleicht dessen nymphomanische Sexualwünsche –, und er ist weg, fort und weg, wie vom Erdboden verschluckt.

Üelu erwartet Felix am Samstag um zwölf vor dem grossen Buchladen, der heute Bookstore heisst und Filialen in der ganzen Stadt, um nicht zu sagen im ganzen Land oder auf dem ganzen Kontinent und sogar jenseits des grossen Teiches hat, und wir, die gottähnlichen Autoren, hoffen doch sehr, dass das Buch, in dem diese Zeilen stehen, einmal als Weltbestseller in all diesen Bookstores an prominentem Platz in grossen Stapeln angeboten wird. Aber das nur nebenbei. Felix ist den ganzen Morgen fast gestorben vor Ungeduld. Sie grüssen sich und Üelu ist weit weniger erfreut, Felix zu sehen, als dieser es von einem wahrhaft Liebenden erwarten würde. Eh bon! Als Felix den Üelu fragt, wie es ihm denn so gehe, sagst der: nicht eben gut. Das hätte Felix stutzig gemacht, wenn es sich in ihm nicht so dagegen gesträubt hätte, etwas anderes wahrzunehmen als positive Zeichen des Glücks. Aber Felix schliesst auf durchgemachte, durchgesoffene und durchgekiffte Nächte, die Üelu in Montreux mit einer Freundin verbracht haben will. Sie fahren nach Münchenbuchsee in die Seminaristenwohnung von Üelu, wo der ein Ratatouille kocht. Üelu erzählt manchmal ein bisschen von sich. Es gibt Gesprächspausen, die nicht vom Vertrauen zweier Liebender getragen sind. Wieder haben sie – auf dem grossen Bett von Üelu – diese Lust aufeinander und aneinander, die jede Frage überflüssig macht.
Sie trinken im Restaurant «Schmiede» ein Gurtenbier und fahren dann nach Bern zurück. Sie wollen ins Kino, um die seltsamste Gotthelf-Verfilmung zu sehen, die es ja gegeben hat und je geben wird. Der Film basiert auf der Novelle «Die schwarze Spinne». Das Böse, im langbeinigen Untier verkörpert, lauert in der Gegenwart noch immer. Der Emmentaler Dichter schrieb von der Pestilenz, die im Film aus Gründen des Aktualitätsbezuges durch das eben lancierte Waldsterben, durch Umweltkatastrophen und durch Aids ersetzt wird. Im Werk des Schweizer Regisseurs Mark Rissi verfliessen die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit, zwischen Gegenwartsproblemen und überlieferter Sage. Auf der Suche nach «Stoff» haben Drogensüchtige in einem Pharmawerk eine chemische Reaktion mit verheerenden Folgen ausgelöst. Noch können sie das Ausmass nicht ahnen, als sie in einem nahen Hof versuchen, den alten Bauern zu berauben. Und sie können auch nicht verstehen, was der Greis von drohendem Unheil und einer schwarzen Spinne dahererzählt, die jedoch plötzlich als Bild des Verderbens präsent ist. In Halluzinationen beginnt sich für die Jugendlichen das Totentanz-Karussell einer mittelalterlichen Legende von Pest und Tod zu drehen. Unsere Freunde verfügen sich nach dem Genuss dieses von Symbolik überladenenen cineastischen Highlights in die «Casa Siciliana», um sich bei Spaghetti und Wein ein wenig von dem Film zu erholen. Üelu erzählt Felix, seine Eltern würden es gar nicht gern sehen, dass er mit Felix in den Jura fahren wolle. Er erzählt, dass sie seine Homosexualität für eine heilbare Neurose halten würden. Seine Mutter hat ihm einen primärtherapeutischen Artikel zum Thema mitgegeben, den Üelu Felix später vorlesen will. Sie plaudern beim Wein, sind zum ersten Mal an diesem Tag entspannt. Auf dem Heimweg, in den dunklen Gassen, halten sie sich umschlungen, alles scheint gut.
Nach dem Joint in der WG von Felix erleben sie, obwohl Üelu müde ist, eine weitere weisse Nacht. Sie haben sich, bei den Spaghetti und dem Wein, entschlossen, am Sonntagmorgen in eine Predigt der evangelisch-reformierten Landeskirche zu gehen, für die ja auch Gotthelf gepredigt hat, irgendwo auf dem Land – das heisst, Üelu hat entschlossen und Felix will sich ihm anschliessen. Üelu hat Felix nämlich von seinem Doppelleben und seinem Genuss am Doppelleben erzählt. Üelu ist gern verrucht und dann doch wieder scheinheilig fromm, oder auch wirklich fromm, das wissen zwar wir, aber Felix weiss es nicht. Der gute Üelu hat, wir müssen es leider so sagen, ein wenig einen Huren-Madonnen-Komplex (Felix ja auch, wie wir wissen). Keine Stunde schlafen sie in dieser Nacht vom Samstag auf den Sonntag. Sie sind einfach zu geil. Und es ist schön, so geil zu sein. Ja, sie treiben es zusammen, dass es eine Lust ist und selbst Gott der Herr im Himmel einen Ständer bekommt, unsere beiden Huren-Madonnen. Dieses Gefühl, in den anderen zu sinken und mit ihm zu verschmelzen... Und ausserdem macht es ja nur dann richtig Spass, seine Sünden reuig zu bekennen, wenn man auch wirklich schön deftig gesündigt hat (das ist zwar eher ein römisch-kaholischer als ein evangelisch-landeskirchlicher Gedanke, aber seis drum).

Am Sonntagmorgen sind sie beide, obwohl müde, relativ fröhlich. So scheint es Felix wenigstens. Was kennt er schon den Üelu! Sie fahren vorerst nach Lyss, wo sie das Predigtgelübde einlösen, in der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde, zwischen Kindstaufen und Jodlerchörlis, die jodeln, und dem Pfarrer, der sie segnet. Der Pfarrer spricht vom gesunden Baum, der seine Wurzeln tief in den Boden gesenkt hat und seine Blätter dem Himmel entgegenstreckt. Er nimmt damit auch Bezug auf das aktuelle Waldsterben. Üelu ist neben Felix ganz in sich hineingesunken, in schönster Armesünderpose. Er sieht gar nicht so aus, als würde er im Boden wurzeln und seine Blätter der Sonne entgegenstrecken. Felix betrachtet ihn von der Seite und würde nur zu gern wissen, was in dem hübschen, rotwangigen jungen Kopf von Üelu vorgeht.
Dann fahren sie weiter; unterwegs kommt Felix wieder der Schwulenartikel von Üelus Mutter in den Sinn. Üelu sagt, er könne nur schlecht Autofahren, aber er fährt trotzdem ziemlich rasant – und doch fühlt Felix sich sicher neben ihm. Das Wetter ist düster und die Landschaft weckt melancholische Gefühle.



Welcome to Undervelier

In Undervelier ist Üelu, wir können es ihm irgendwie nachfühlen, nicht nur nicht begeistert von Situation und Umgebung, er scheint durch beides verunsichert und deprimiert. Zunächst, im Haus, weihen sie ihre Bruchbude, die sich in einer Indian Lodge befinden könnte, ein, indem sie sich, dreimal dürfen Sie raten, ein weiteres Mal der körperlichen Lust aneinander hingeben. Dieser Umstand, dass sie, wenn sie sich berühren, scharf werden, ist inzwischen schon zum automatischen Reflex geworden. Felix spürt jedoch hinter der offensichtlichen Hingabe von Üelu die Zurückhaltung, was er natürlich nicht wahrhaben will. Üelu sagt denn auch zu Felix, nachdem sie sich erst beglückt haben, Üelu dann in einem «Mad», Felix im verrückten Artikel der verrückten Mutter von Üelu gelesen hat, dass er, Üelu, ihn, Felix, zwar gern habe, dass ihm bei Felix aber etwas Entscheidendes fehle. Er, Hansueli, sei überzeugt gewesen, in Felix verliebt zu sein – endlich in jemanden verliebt zu sein, wie Üelu sich ausdrückt. Aber der Traum sei schöner gewesen als die Wirklichkeit. Der Artikel der Üelu-Mama ist übrigens von einem Janov-Schüler oder von Janov selbst verfasst und diffamiert homosexuelle Beziehungen generell als irreal (Arthur Janov, US-amerikanischer Psychologe, bekannt geworden durch das Buch «Der Urschrei»). Der Verfasser des Artikels geht selbstverständlich von der Annnahme aus, dass Schwule in ihren Partnern die als Kinder vermisste Zärtlichkeit des Vaters suchen würden. Die Begründung dieser «Erklärung» besteht einzig in der Feststellung des Verfassers des Artikels, dass Schwanz und Loch sich biologisch gesehen ideal ergänzen würden (dabei hat der Mann ja auch ein Loch, nicht wahr, und mit dem kann man noch anderes tun als scheissen).
Üelu erklärt Felix, dass er glaube, in dem, was er, Üelu, von ihm, Felix, wolle, lediglich eine irreale Ersatzhandlung zu vollziehen, in dem Sinn, wie sie im Artikel beschrieben sei. Er sagt zu Felix, dass es ihm eigentlich nicht darauf ankomme, wer jene «Ersatzhandlungen» an ihm vollziehe. Die Person sei ihm eigentlich egal – wer ihm Wärme, Geborgenheit, Anerkennung und sexuelle Befriedigung verschaffe, sei ihm letztlich schnuppe. Er gibt Felix damit zu verstehen oder Felix glaubt in dieser Aussage zu verstehen, dass er, Üelu, an Felix als Subjekt nur in sehr beschränktem Mass interessiert ist. So was kränkt natürlich schon ein bisschen. Felix war also für Üelu Vaterersatz, Mutterersatz, Objekt, Fetisch, Wärmespeicher für den Moment. Aber Üelu sagt das so traurig, dass Felix es ihm trotzdem nicht übelnehmen kann.
Felix ist, nach dem sich selbst anklagenden Geständnis von Üelu, einigermassen um Worte verlegen. Üelu fasst diese Wortkargheit von Felix auf seine Weise auf, indem er dieses Schweigen zu Futter für noch mehr Selbstanklage macht und zerknirscht behauptet, er, Üelu, sei ein ganz, ganz, ganz gemeiner Kerl. Das hat Felix keine Sekunde gedacht. Gemein ist Üelu nicht, warum auch. Felix bedenkt in diesem Moment nicht, dass jemand, der sich als gemein bezeichnet, eine geheime Lust daran hat, als gemein zu gelten. Der gütige Vater nimmt den Sohn in die Arme und sagt, verkennend, dass er damit insgesamt eher verliert als gewinnt, dass Üelu schon okay sei, so, wie er sei, und dass er aufhören solle, sich ständig schlecht zu machen, was vielleicht das eine Ich von Üelu tröstet, während es das andere eher reizt.

Auf dem darauf folgenden Spaziergang gibt Üelu Felix zu verstehen, dass er morgen oder spätestens übermorgen abzureisen gedenke. Damit hat Felix zwar schon fast gerechnet, es gibt ihm aber doch einen Stich ins Herz. Er beschliesst, seine Enttäuschung für sich zu behalten, ist aber eher schweigsam, während sie nebeneinander durch eine nebelverhangene Selbstmordlandschaft schreiten und Üelu am Laufmeter nicht eben lustige Freiburgerwitze zum Besten gibt. Felix lacht zwar über diese Witze, aber wie nennt man ein solches Lachen schon wieder? Eher unfroh. Seine Gedanken sind ganz woanders. Am Abend, während und nach dem Nachtessen in der Kneipe unten (Kartoffelsalat und Beinschinken vom Schwein), nach dem Wein, nach dem Bier, nach dem Schnaps, reden sie Englisch miteinander, weiss der Teufel warum. Üelu bleibt Felix ein Rätsel, wenn auch ein anziehendes, begehrenswertes.
Vor dem Einschlafen ein Joint. Danach sind sie sogar zu müde zum Vögeln. Ausserdem ist es für Nacktheit im ungeheizten Zimmert zu kalt. Überhaupt ist es in diesem Schlag verdammt ungemütlich und Felix versteht ja, warum Hanspi morgen wieder wegfahren will. Er selbst möchte ja eigentlich auch am liebsten wieder wegfahren, aber das gibt ihm sein Kopf nicht zu, da kann er stur sein. Am Morgen sind sie wieder so weit, dass sie ihre zwei Körper aneinander reiben wollen, als wären sie zwei grosse Schwänze, die sich verselbstständigt haben (also sozusagen zwei Schwanz gewordene Körper). Dann fahren sie mit dem roten VW nach Saignelegier und über Montfalcon nach St. Ursanne. Üelu erklärt, dass er heute nicht nach fünf fahren wolle, findet die Landschaft einmal mehr bedrückend und erscheint Felix sehr fremd.
Er geht schon etwa um drei Uhr, oder vielmehr: Felix schickt ihn weg. Es gibt eine mehr oder weniger traurige Abschiedsszene, Üelu macht ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter und findet sich einmal mehr gemein, nur, weil Felix die Tränen kommen, aber das will nicht viel sagen, hat Felix doch nun mal nahe am Wasser gebaut. Ein letztes Mal – ein vorletztes Mal – dürfen Felix und Üelu sich gegenseitig trösten in ihrem Weltschmerz. Dann fährt Üelu davon in seinem roten VW-Käfer und Felix kauft sich auf der Stelle zwei Flaschen Bier, wovon er eine sofort und unverzüglich und ohne zu zögern und ohne einmal abzusetzen, also sozusagen im Eiltempo leert. Die andere Flasche säuft er unterwegs weg, während er fluchend, stolpernd, mit sich selbst redend durch die abweisende und düstere Landschaft zieht und Gott sei Dank eh wieder kein Schwein schaut. Er erreicht auf Irrwegen das nächste Dorf und setzt sich da in die einzige Kneipe und betrinkt sich. Es braucht heute nicht viel.



Als Felix anderntags erwacht, ist nichts von ihm übriggeblieben. Er hat keine Persönlichkeit mehr, keinen Stolz, kein Bild, das ihm gegebenenfalls Mut einhauchen könnte. Er denkt: Ich bin ein Versager. Alles, was ich bisher gemacht habe, war fragmentarisch, Zufallsprodukt, hatte nichts mit mir zu tun. Das gebieterische Gefühl, allein zu sein, lastet tonnenschwer auf seiner Seele. Vielleicht ist einzig dieses Gefühl real.
Kurzum, man kann nachvollziehen, in welcher Verfassung Felix sich befindet. Er ist nur noch Spielball, und was mit ihm geschieht, ist ihm momentan egal. Er ist ein Niemand, ein Nichts, eine Null. Er denkt: Was wissen wir schon von den anderen Menschen? Ich weiss so gut wie nichts, und das, was ich zu wissen glaube, wird dauernd verfälscht durch meine Angst, durch die Paranoia, durch die Libido. Ja, Felix ist ein grossartiger Menschenkenner, wie jeder, der das liest, unschwer erkennen kann.
Woran also soll Felix sich heute halten, an welche Träume, an welche Hoffnungen? Da ihm so plötzlich seine momentanen Träume und Hoffnungen abhanden gekommen sind, ist er einigermassen ratlos. Ob Felix nun wirklich gar keine Hoffnungen und Träume mehr hat, wäre von ihm allerdings noch zu prüfen. Aber das ist, nach all dem genossenen Alkohol, leider nicht mehr möglich. Ein Schleier hat sich selbst über den Schleier gelegt.

L’autre jour: Felix unternimmt eine nicht besonders anstrengende Wanderung und fürchtet sich vor Stieren, die aber Gott sei Dank angebunden sind. Er begegnet – abermals Gott sei Dank – auf dieser Wanderung oder auf diesem ausgedehnten Spaziergang nur wenigen Menschen. Dann sehen wir Felix im Hallenbad von Delémont, wo er, in einem verrückten Wahn, einige hundert Meter schwimmt, immer 25 Meter hin und 25 Meter her, schwachsinnig, wobei ihn die schon schräg stehende Sonne manchmal blendet und manchmal auch nicht. Danach sitzt er im Bahnhofbuffet von Delémont und trinkt in erstaunlich kurzer Zeit ein grosses Bier leer. Dazu liest er die letzten Briefe von Katherine Mansfield, die mit 34 an Tuberkulose gestorben ist, offenbar. So langsam beruhigt sich sein Wärmehaushalt, der nun schon einige Stunden zwischen extremer Hitze und lähmender Kälte hin- und herpendelt. Jetzt fühlt er sich besser und ist erstaunt, dass er weder besonders hungrig noch besonders müde ist. Eigentlich ist er blendend in Form. Nur seine Psyche merkt das nicht.
Die Raben kreisen majestätisch oder wie auch immer über die herbstlichen Felder, die Tannen- und Sträucherlandschaft. Plötzlich ist Nebel aufgekommen, und dieser Nebel dampft oder wabert nun, was das Zeug hält. In diesem Nebel wandelt Felix und weiss nicht wohin (das ist jetzt nicht symbolisch gemeint oder bedeutungsvoll dahergeredet, sondern es entspricht einfach den Tatsachen, dass der Nebel so dick ist und Felix deshalb nicht sehen kann, wohin er wandelt. Das heisst, er weiss es natürlich schon oder glaubt es zu wissen, er hat also so eine ungefähre Ahnung und kommt dann auch tatsächlich irgendwo an, und zwar wahrscheinlich in Undervelier in der Gruselpension mit dem Gammelbett, obwohl er da ja gar nicht unbedingt ankommen will. Aber Felix ist eben, wie gesagt, ein Dickkopf, ausserdem hat sich Aurore für morgen angekündigt, sie will sich den morbiden Charme des Weissen Kreuzes nicht entgehen lassen).
Abends im Gammelbett raucht Felix einen Joint und philosophiert, da in der Gruselpension natürlich keine Glotze zur Verfügung steht, die einen einsamen Gast von seinen grausamen Gedanken ablenken könnte, ein wenig vor sich hin. Er denkt: Die Liebe sagt, dass alles zusammengehört. Die Liebe ist das natürliche Gegengewicht zu jenem selbst- und fremdzerstörerischen Zynismus, den nur das Alleinsein kennt. Felix sieht statt eines Fersehkrimis die beiden streiten, den Idealisten und den Realisten in sich. Irgendwo lacht sich ein Dritter halb kaputt. Und irgendwo liegt ein Vierter mit einem schönen Jungen nackt auf einem Bett – es ist kein Gammelbett, oh nein, es ist ein grosses Himmelbett mit seidener Bettwäsche – und empfindet, angesichts des Gefühls, das ihm in den Lenden pulsiert, nur Verachtung für den fruchtlosen Disput der Anderen. An einem Wirtshaustisch, über den Bier geflossen ist, sitzt ein Fünfter und denkt sich durch sein vernebeltes Hirn zu halben Gedanken durch, die ihn scheel angrinsen und dann nachsichtig zu ihm sagen: Du bist mir ja ein schöner Philosoph, du. Per aspera ad astras, wie der Lateiner sagt. Durchs Dunkel zu den Sternen. Das wäre eine Form der spirituellen Erleuchtung. Aber das Vergessen, das die Spirituosen schenken, ist schliesslich auch eine Möglichkeit, das irdische Jammertal zu verlassen – und sei es auch nur für einen Moment.