Montag, 24. Dezember 2007

Zwölf Stunden im Bus mit Dünnpfiff



In Amritsar ist ein religiöses Fest im Gang. Die Tempel in der ganzen Stadt sind überfüllt und es geht lustig und geradezu ausgelassen zu und her, es wird getanzt und Musik gemacht und die Luft ist erfüllt von tausend Wohlgerüchen. Auch als Nicht-Hindu oder Nicht-Sikh darf man diese Tempel ohne weiteres besuchen, bloss die Schuhe muss man ausziehen. Amritsar wurde im fünfzehnten Jahrhundert erbaut und hat derzeit etwa eine Million Einwohner. Der Goldene Tempel befindet sich in der Altstadt, die mit ihren vielen engen Gassen und zahlreichen Bazaren immer noch mittelalterliches Ambiente vermittelt, sodass sich Felix in eine Szene aus dem Roman «Palast der Winde» von Mary Kaye versetzt fühlt. Der Goldene Tempel, der in Indien «Hari Mandir» genannt wird, wurde 1603 vollendet. Guru Amar Das wollte anfangs nur einen Schrein zum Beten errichten. Sein Nachfolger Guru Ram Das erweiterte die Gebetsstätte und eine richtige Tempelanlage entstand. Um dieses Bauwerk herum entwickelte sich eine Stadt, die ihren Namen dem Tempelteich «Amrit Sarovar» verdankt. In diesem Gewässer, das den Hari Mandir umgibt, können und sollen die Gläubigen sich waschen. Das Eingangstor der Anlage wird von einem Sikh mit Schwert bewacht. Es ist aber nicht seine Aufgabe, Besuchende abzuschrecken, gehört es doch zur Pflege der Tradition, jedem Besucher Eintritt zu gewähren, egal welcher Religion er sich verpflichtet fühlt. Allerdings müssen erst die Schuhe abgegeben, die Füsse gewaschen und der Kopf abgedeckt werden. Auch erlauben die strengen Vorschriften keinen Alkohol- und Zigarettenkonsum im Tempelbereich, wobei das Rauchen sogar im Umkreis von 500 Metern verboten ist.
Der Goldene Tempel selbst ist über einen Steg zu erreichen und hat vier Eingangstüren, die den freien Zutritt für alle vier Hauptgruppen des hinduistischen Kastensystems symbolisieren. Seit 1604 wird an diesem Gebetsort das heilige Buch der Sikhs, «Granth Sahib», aufbewahrt. Das Buch wird jeden Morgen um fünf Uhr früh in einer Art Prozession vom Parlament der Stadt zum Tempel und abends um 21 Uhr wieder dorthin zurückgebracht. Tagsüber sitzen neben dem Granth sogenannte «Ragis», Sänger, die pausenlos aus dem Buch rezitieren. Über Lautsprecher sind ihre Gesänge auf dem ganzen Gelände zu hören.
Der Goldene Tempel vereinigt in seiner Bauweise moslemische und hinduistische Elemente und stellt ein einzigartiges Zusammenspiel verschiedener Künste dar. Wohl am aufffälligsten an dem Bauwerk ist das vergoldete Kupferdach, das den Tempel erst im neunzehnten Jahrhundert durch Spenden zu dem Wahrzeichen machte, das er heute ist.
Auf dem Gelände befinden sich auch mehrere Gebäude mit Speisesälen, in denen etwa zweitausend Pilger pro Tag mit kostenlosem Essen versorgt werden. Aber nicht nur Gläubige können sich hier stärken, sondern auch Touristen werden freundlich willkommen geheissen.

In Amritsar beginnt für Felix wieder einmal eine böse Dünnpfiffattacke, da hilft auch der Besuch im Goldenen Tempel nicht. Wie gesagt: Dünnpfiff ist der Normalzustand, kein Dünnpfiff geradezu die Ausnahme. Deshalb ist Felix vor allem auf langen Busfahrten geradezu gezwungen, Opiumkügelchen zu essen. Nur diese Kügelchen stellen den Dünnpfiff wirkungsvoll ab. Hocke mal einer mit Dünnpfiff zwölf Stunden im Bus, und der Bus hält bloss alle paar Stunden zum Austreten; und im Bus hat es selbstverständlich kein WC. Dass das mörderisch ist, leuchtet wohl jeder und jedem ein. Auf der Fahrt von Amritsar nach Jammu und von Jammu nach Srinagar im Kaschmirtal hat Felix kein Opium intus, da sitzt er stundenlang gekrümmt auf seinem Sitz und wendet alle Energie dazu auf, seinen Schliessmuskel geschlossen zu halten, während sein Gedärm explodieren will. Er ist schwach, fiebrig, sämtliche Glieder tun ihm weh, aber das geht ja noch, das nimmt er noch klaglos hin. Schlimmer sind die Krämpfe, schlimmer ist, wenn du bei dir behalten musst, was unbedingt rauswill. Du kannst ja nicht in die Hosen scheissen, und nur, weil du wieder mal musst, hält der Bus auch nicht alle zehn Minuten an. Der Bus hält ja nicht einmal an, als ein paar Moslems auf Wallfahrt beten wollten. Der Fahrer ist wahrscheinlich ein Hindu, und es gibt ein grosses Palaver. In Kashmir ist ein Grossteil der Bevölkerung muslimisch, deshalb wollen die Kaschmiri auch die Unabhängigkeit oder den Anschluss an Pakistan. Andererseits verdienen sie an den meist hinduistischen Touristen, die in Kaschmir der mörderischen Hitze des Tieflandes entkommen wollen, nicht schlecht.
Zurück zu den Busreisen: Wie gesagt, mit dem Opium ist das Ganze ein Hochgenuss. Nach dem Verzehr eines Opiumkügelchens fühlt Felix sich normalerweise fabelhaft und kann die Landschaft so richtig geniessen. Allerdings kann man auch zu viel von dem Stoff erwischen – und dann wird einem schlecht. Kotzen im Bus ist, wie man sich vorstellen kann, auch nicht ideal.





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Traumleben in Srinagar…
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Das Tal – mit der Stadt Srinagar im Mittelpunkt – ist Kaschmirs fruchtbares Herzstück mit einer Kulisse grüner Berge. Dichte Fichten- und Kiefernwälder, Felder voller kostbarer Safrankrokusse, Reisterrassen, Maulbeerhaine, Gärten mit Apfel-, Birnen-, Pflaumen- und Walnussbäumen prägen das Landschaftsbild. Der Dal-See (umgeben von den hohen Gipfeln des Himalayas und den Kämmen des Pir Pandschal), der Fluss Dschelam und ein mäandernder Kanal, der die beiden verbindet, machen aus dem geschäftigsten Viertel der Stadt eine Insel. Von den etwa zwei Dutzend Brücken, die sich über Fluss und Kanal wölben, kann man beobachten, wie die Kaschmiris mit kleinen Holzbooten an den alten Häusern vorbeistaken.
Unsere Reisenden haben sich ein Hausboot gemietet und so auf dem Wasser des Dal-Sees eine ganze Wohnung samt Hausdiener zur Verfügung. Das Ganze kostet sie – aus ihrer Warte – fast nichts. Das Hausboot ist etwa vierzig Meter lang und besteht aus einer Lounge, einem Esszimmer, dem Sonnendeck und verschiedenen Schlafzimmern mit je zwei oder drei Betten. Hergestellt ist dieses Hausboot aus poliertem Zedernholz mit fantasievoll geschnitzten orientalischen Mustern im Geschmack der Dreissigerjahre. Es ist Herbst, Nachsaison in der «Schweiz Indiens», und die Hausboothändler auf ihren Booten reissen sich um jede Kundin und jeden Kunden. Im Sommer, wenn die wohlhabenden Inder vor dem Monsun im Süden hierher in die Berge flüchten, hätte ihr Gastgeber für dieses Hausboot wohl ein Mehrfaches verlangt. Jetzt, gegen Ende Oktober, sind die Nächte auf dem Wasser schon recht kühl, immerhin liegt Srinagar etwa auf gleicher Höhe wie Sankt Moritz.
Am späteren Morgen hängen sie auf dem Dach ihres Hausboots herum, trinken Tee, plaudern, lesen oder schreiben, kaufen den in Booten vorbeifahrenden fliegenden Händlern Esswaren ab, Andenken, Gras und Opium, bekiffen sich und träumen in der milden Sonne vor sich hin. Zeit spielt keine Rolle, davon haben sie genug. Felix ist jetzt schon so lange unterwegs, dass er sein vergangenes Leben fast vergessen hat. Da er mit seinen Freunden Hochdeutsch und mit allen anderen Englisch spricht, fühlt sich das Schweizerdeutsche allmählich fremdartig an in seinem Mund und seinem Hirn. Er ist glücklich und fühlt sich frei. Am Nachmittag lassen sie sich per Shikara, einer Art Gondel, hinüber aufs Festland fahren, um im Abendnebel durch diese unwahrscheinliche Stadt zu spazieren, in der Teppiche, Kupfer- und Silberwaren, Leder und Seide hergestellt werden, meist umringt von Kindern, die lachend und frohlockend Paisa, paisa! rufen. Oder sie machen eine ausgedehnte Velotour durch die Dörfer in der Umgebung. Und dann gehen sie mit Beschir, dem Sohn des Bootsbesitzers, ins Kino, um sich einen jener unendlich kitschigen Bollywood-Filme anzusehen, in denen von wunderschönen und natürlich unendlich reichen Protagonisten so inbrünstig gesungen, getanzt, geliebt und gelitten wird.
(Die Region Kaschmir ist seit fast einem halben Jahrhundert Streitobjekt zwischen Indien und Pakistan. Seit der Abspaltung Pakistans von Indien im Jahre 1947 führten die beiden Staaten zwei Kriege um das Kaschmirtal, das unter Vermittlung der UNO 1949 aufgeteilt wurde. Ein Drittel des Gebietes ging an Pakistan, zwei Drittel erhielt Indien. Ende der achtziger Jahre wird der Kaschmir-Konflikt wieder aufflammen. Dann werden im indischen Teil Kaschmirs moslemische Rebellengruppen um die Loslösung des überwiegend von Moslems bevölkerten Gebiets kämpfen. Wen wundert es da, dass Kaschmir als einer der gefährlichsten Explosionsherde der Welt gilt. Im Januar 2004 werden die beiden Atommächte allerdings einen Friedensprozess einleiten.)

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