Montag, 17. Dezember 2007

Arkadasch





Bodrum; Bursa; Szene aus dem Film «Midnight Express»

In Istanbul verbringt Felix dann noch einige Tage bei einer Familie und wird behandelt wie ein eigener Sohn. Von Ali, der in seinem Alter ist, haben wir ja im Brief von Felix an Peter schon gehört. Ali nimmt Felix, nachdem ein fast tropisches Gewitter den Dormitory des Hotels Güngör unter Wasser gesetzt hat, ohne Widerrede zu dulden zu sich nach Hause mit. Alis Vater ist ein pensionierter Eisenbahnangestellter, der als junger Mann seine Frau, damals wunderschön, heute eine herzensgute dicke Mama, regelrecht entführt hat. Sie war nämlich – laut Ali, und wir zweifeln nicht an seiner Darstellung der Dinge, auch wenn sie abenteuerlich und sogar romantisch klingt, aber so ist das Leben nun mal – die Tochter des damaligen Eisenbahnministers und eines nahen Freundes von Atatürk, während er, der spätere Gatte, mausarm war. Natürlich verstiess die Familie nach diesem Vorfall die Tochter; erst viel später kam es zur Versöhnung und damit die Familie zu ihrem relativ komfortablen Heim. Der Vater bekommt nur etwa 5000 türkische Lira Rente pro Monat, was etwa 100 Schweizer Franken entspricht.

Die nächsten Stationen der Morgenlandfahrt von Felix sind die Städte Bursa, Izmir und Bodrum. Er reist allein, im Bus, meist als einziger Europäer unter lauter Türken, die sich mit Felix unterhalten wollen, wobei aber die Unterhaltung meistens an Verständigungsschwierigkeiten scheitert oder durch diese doch sehr eingeschränkt wird. Seine Nächte verbringt Felix in kleinen, billigen Hotels. In Bursa fährt er mit der Gondel auf den Uludag, einen bekannten Aussichtspunkt in den Bergen, begleitet von einem Türken, der ihm die Bahn bezahlt, der ihn in ein türkisches Bad einlädt und der ihm Tee spendiert, mit dem Felix aber kein Wort reden kann, weil der junge Türke weder Deutsch, Englisch noch Französisch spricht und Felix auf Türkisch kaum mehr als «Danke» und «Guten Tag» sagen kann. Wirklich unbegreiflich für Felix, dieser Drang der Türken nach gastfreundschaftlichem Verhalten. (Uludag heisst übrigens einfach «Hoher Berg» und Felix wird diesem Namen viele Jahre später als Markenbezeichnung auf Dosen von Süssgetränken begegnen, die im Zuge der Globalisierung in von Türken betriebenen Lebensmittelgeschäften in Zürich zu kaufen sein werden). Vor dem Fenster seines Hotels in Bursa hört Felix die ganze Nacht lang heiser einen wohl liebeskranken Hahn krähen (es grüssen die Wonnen des Reisens). Ferner erinnert Felix sich später an eine Moschee, deren Schönheit und geistig-künstlerischer Wert ihm von einem hochgebildeten Herrn, der sich selbst «Professor» nennt, in beinahe perfektem Deutsch erörtert werden; anschliessend spielen sie in einem Teehaus Schach und Felix verliert natürlich haushoch gegen den Professor. In Izmir will ihm ein älterer Türke, Seemann, wie er Felix erklärt, Hasch besorgen, im Umtausch gegen die Jeans, die Felix trägt. Felix misstraut dem Geschäft aber; erstens sind es die einzigen Jeans, die er bei sich hat, und zweitens erinnert er sich an den Film «Midnight Express» und glaubt von daher um die Gefährlichkeit von allem in der Türkei zu wissen, was mit Hasch zu tun hat. Der Film erzählt die fiktionalisierte Geschichte des real existierenden amerikanischen Studenten Billy Hayes, der versuchte, Haschisch aus der Türkei zu schmuggeln. Hayes wird im Jahr 1970 auf dem Flughafen von Istanbul verhaftet und – nach der Berufung – im Jahr 1974 zu 30 Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis wird er misshandelt. Er sieht unter anderem, wie der Direktor der Anstalt vier Teenager verprügelt, die sich mit seinem Sohn stritten. Hayes will gemeinsam mit den Mitgefangenen Max, Erich und Jimmy fliehen, aber der Plan wird verraten. Max will den Informanten Rifki töten, doch Billy überredet ihn, stattdessen das versteckte Geld von Rifki zu stehlen. Rifki rächt sich, indem er Max dem Verdacht aussetzt, dass dieser im Gefängnis mit Drogen handle. Max wird dafür gefoltert, woraufhin Billy Rifki tötet. Billy wird in die Nervenheilanstalt des Gefängnisses eingeliefert. Im Jahr 1975 erhält Hayes von Susan ein Fotoalbum mit verstecktem Geld. Er will damit den Wächter Hamidou bestechen, der jedoch Billy in die Folterkammer führt. Hayes tötet ihn und flieht in dessen Uniform. Nach drei Tagen erreicht er die griechische Grenze. Die Zeitschrift TIME bezeichnete den Film in der Ausgabe vom 16. Oktober 1978 als einen «abstossenden sadomasochistischen Trip» mit «starken homosexuellen Untertönen».

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Brown Sugar
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Bodrum ist ein Touristenort am Meer und wird zumeist von begüterten Türken in den Ferien besucht. Alles ist teurer hier als in der übrigen Türkei: Das Essen, das Trinken, das Übernachten. Felix hat Mühe, ein freies Bett in einer Pension zu finden, doch schliesslich wird ihm eine Schlafgelegenheit auf dem flachen, von einem Wellblech geschützten, seitlich offenen Dach einer Herberge angeboten, überteuert, aber mit herrlicher Rundsicht auf den ganzen Ort – und warm genug ist es ja auch dafür, quasi im Freien zu schlafen. Es sind bereits Gäste da, junge Touristen, Tramper aus Deutschland und Frankreich. Felix muss seinen «Raum» mit zwei Franzosen teilen; als sie ihre Löffel heizen, weiss er natürlich, woran er ist.
Die beiden scheinen sich uneins zu sein und im Streit miteinander zu liegen. Es geht um Geld und Stoff, und sie fallen einander auch sonst auf die Nerven (Felix hat den Verdacht, dass die beiden eine Beziehung mit stark homosexuellen Untertönen haben und dass sie sich ein wenig auf einem sadomasochistischen Trip befinden). Sofort versuchen beide, Felix je auf ihre Seite zu ziehen; vor allem der Ältere, Dominantere, der potenzielle Sado nimmt Felix in Beschlag. Sie erzählen, dass sie sich den Stoff in Istanbul besorgt hätten, billig, aber trotzdem von guter Qualität. Sie wollen wissen, ob Felix auch spritze. Als der verneint, aber nicht, ohne seinerseits von dem besagten Trip zu erzählen, den Felix – aus Zürich – immer noch in seinem Rucksack hat, schlägt der ältere der beiden vor, einen halben Trip gegen zwei Schüsse seines Heroins zu tauschen; zögernd willigt Felix ein, er ist zwar erwartungsgemäss ein wenig ängstlich, aber einfach doch zu neugierig auf die Wirkung eines «Schusses».
Am Nachmittag bekommt Felix seinen ersten «Kick», aber er spritzt sich den Stoff nicht selber – er wüsste ja nicht, wie man das macht. Die Wirkung setzt – als «Flash» – augenblicklich ein, noch während die Spritze in seinem Arm steckt: Wellen aus Wohllust rauschen durch seine Blutbahnen und Nervenstränge und branden zurück, bis sich nach ein paar Minuten ein Gefühl der Entspannung in seinem ganzen Körper breit macht, eine Art Gesättigtsein bis obenauf, in dem sich jede Verkrampfung, jeder Schmerz und jede Angst auflöst. Ein geiles Gefühl, eine Art Himmel auf Erden. Die Wirkung hält ein paar Stunden oder eine halbe Ewigkeit lang an. Am Nachmittag spielt Felix wie ein Kind am Strand, bereit, alles hinzunehmen, was sich ergibt.
Am Abend bekommt Felix den zweiten Schuss Heroin seines Lebens, während er das Eckchen auf Löschblatt geträufeltes liquides LSD brüderlich in zwei Teile teilt (der jüngere der beiden Fixer, der Mitmaso von Felix sozusagen, geht leer aus). Sie spülen das hochwirksame Stückchen Papier mit Orangensaft herunter und warten, eingebettet in die angst- und schmerzstillende Wirkung des Opiats, auf den Effekt der zweiten, völlig andersartigen Droge in ihrem Blut. Das LSD schleicht sich fast unmerklich in Ihre Hirne – ihre Körper und ihre Seelen sind besänftigt und nur schwer aus der Sättigung und Zufriedenheit des Opiats zu reissen –, entfaltet dann aber unversehens machtvoll seine Kraft. Sie fühlen sich gewissermassen doppelt glücklich, auf zwei verschiedenen Ebenen, zu den Wonnen körperlicher Lust gesellt sich die geistige Wonne scheinbar unbegrenzter Erkenntnis und Bewusstseinsöffnung. Angst oder Unbehagen spüren sie nicht, auch später nicht, als sich seltsame Dinge ereignen.
Etwa um Mitternacht – sie sitzen immer noch auf dem Dach ihrer Pension und schauen über die vom Mond beschienene Stadt – hören sie plötzlich Musik, fast gleichzeitig, obwohl es natürlich möglich ist, dass die Vorstellung des einen die Vorstellung des anderen beeinflusst. Vielleicht hören sie auch nicht die gleiche Musik. Felix jedenfalls hört eine eindringliche, orientalische Musik, wunderschön, sehnsüchtig, lockend. Eine dunkle Frauenstimme singt oder er hört sie singen. Sie beschliessen, die Musik oder vielmehr die Quelle der Musik zu suchen und tauchen ein in die engen, dunklen Gassen von Bodrum, folgen dem Klang; aber seltsam, das Zentrum der Musik scheint immer wieder in einer anderen Richtung zu liegen, so dass sie sich mal hierhin, mal dahin wenden, ohne der Quelle der bezaubernden Töne nahe zu kommen. So verlaufen sie sich zwischen Gärten und niederen Hütten und auf staubigen Strassen, Felix weiss nicht, wie lange sie unterwegs sind, auch das Zeitgefühl ist ihnen komplett abhanden gekommen, aber das kümmert sie nicht. Felix wird auch nicht müde oder ungeduldig, er ist mit allem einverstanden. Das Opiat trägt, das LSD treibt weiter. Felix geht an seltsamen Erscheinungen vorbei, grotesken Figuren und architektonisch unwahrscheinlichen, wenn nicht gar unmöglichen Gebäuden, die er mit Interesse wahrnimmt, aber ohne sich von ihnen bedroht zu fühlen. Die Halluzinationen gleiten an ihm vorbei wie ein Film, wobei er nicht entscheiden kann, was seinem Hirn entspringt und was der Realität da draussen entspricht, das ist ununterscheidbar durcheinandergemischt. Schliesslich landen sie irgendwo in der Nähe des Meeres, wo es offenbar noch geöffnete Lokale gibt, um einen Kaffee zu trinken. Aus einer Lautsprecherbox dröhnt der neueste Titel der Dire Straits, aber seltsam schleppend, wie eine 45-tourige Platte, die auf 33 Touren läuft. Felix beschwert sich darüber beim Kellner, aber dieser versichert ihm, dass mit der Wiedergabe der Platte alles in Ordnung sei, und schliesslich, als Felix insistiert, führt der Kellner ihn zum Plattenspieler und zeigt ihm, dass die Tourenzahl stimmt.
Wieder in den Gassen, ein wenig oder auch sehr viel später, wer will das entscheiden, stoppt plötzlich quietschend ein Polizeiauto vor ihnen, Polizisten mit Pistolen im Anschlag stürzen heraus und verschwinden in der Dunkelheit, ohne sie zu beachten. In den Türen der umliegenden Häuser stehen plötzlich in Morgenröcke gehüllte Männer und Frauen mit wirren Frisuren im Licht ihrer Türrahmen und schauen ins Dunkel, um zu erfahren, was denn hier mitten in der Nacht los ist. Felix und sein Kumpel gehen weiter. «Da haben wir aber Glück gehabt», meint der Begleiter von Felix gleichmütig, «wenn die uns kontrolliert hätten, so randvoll wie wir sind… ausserdem habe ich meine Taschen voller Sugar.» Aber Felix streift auch nicht ein Hauch von Paranoia, in diesem Moment. Später schon.
Gegen Morgen, im Schlafsack auf dem Dach der Pension, tragen ihn die Wellen des ausklingenden Opiatrauschs in einen traumlosen Schlaf.
Er bleibt noch genau einen Tag in Bodrum, dann hat er definitiv genug von den beiden Fixern, die sich dauernd streiten, hat genug von ihrem ständigen Gerangel um den Stoff, genug von den Spritzen, die sie sich eine nach der anderen in die Venen jagen. Für Felix war das ein einmaliges und faszinierendes Experiment, mehr nicht, aber auch nicht weniger. Er hat nicht im Sinn, ein Junkie zu werden. Er packt seinen Rucksack und besteigt den Bus nach Fethye, glücklich, wieder auf der Strasse und unterwegs zu sein. Er will nach Antalya und da auf Post von Peter oder gar auf Peter himself warten. Doch es kommt, wie immer, ganz anders.

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