Mittwoch, 19. Dezember 2007

Die Pension von Hassan mit den traurigen Augen


Strassenbahn in Antalya

In Antalya wohnt Felix die ersten Tage in einem schäbigen Hotel an einer lärmigen Strasse und es geht ihm nicht sehr gut. Er fühlt sich einsam und orientierungslos und weiss auf einmal nicht mehr, ob er überhaupt weiterziehen will. Und er hat seinen ersten Dünnpfiff auf dieser Reise (der aber garantiert nicht sein letzter sein wird, oh nein). Er wünscht sich Peter herbei, hofft, dass dieser Penner bald eintrudelt oder zumindest mal schreibt. Felix sitzt trübsinnig in einem Teehaus über der Bucht, schreibt einen Brief, beantwortet zum x-ten Mal die ewiggleichen Fragen junger Türken, die die Sprachen, die Felix kennt, nicht beherrschen, und deren Sprache er nicht beherrscht und die immer auf den gleichen Inhalt hinauslaufen: Bist du verheiratet? Und warum nicht? (Worauf Felix schon keine einfache Antwort mehr geben kann.) Wie heisst du? Wie alt bist du? Austausch von Zigaretten. Tee oder Bier. Dann fällt bereits das Wort «Arkadasch», was bedeutet, dass du ein Freund bist, und das wiederum kann vieles nach sich ziehen. Gang aufs GPO, aber keine Post für Felix. Wieder ein Teehaus, die Strassen und Plätze der Stadt, die alten Häuser, die Moscheen, die Badehäuser, Einkaufsläden, Gaststätten, die neuen Häuser, die aber, noch im Bau befindlich, schon wieder baufällig wirken, verwitternd und verfallend, der kleine Hafen, dass Meer, wieder ein Teehaus… Da wird Felix von einem jungen Türken angesprochen, er kann gut Englisch und hat ein intelligentes Gesicht, aber melancholische, um nicht zu sagen: tieftraurige Augen. Er sei Lehrer, erklärt er. Er heisst Ali oder Mohammed und besitzt oder verwaltet eine Pension – die Pension gehört seinem Vater und er ist bloss der Geschäftsführer. Wo Felix denn wohne, will er wissen. Das sei ganz schlecht, meint er, als Felix es ihm schildert, ob er nicht lieber in seine Pension umziehen wolle – nein, nein, teuer seien die Zimmer in der Pension nicht, ganz im Gegenteil, schon fast gratis, schliesslich sei Felix ein Arkadasch und über die Miete könne man später reden. Es habe da auch andere Europäer, Deutsche, Belgier, alles Hippies. Felix willigt sofort ein. Er ist seines Hotels in der Nähe des Busbahnhofs sowieso überdrüssig, seit er es betreten hat.
Hassans Pension – genau, der neue melancholische Freund von Felix heisst Hassan und nicht Mohammed oder Ali – ist ein kleines Paradies. Ein einstöckiges Haus in einem tropisch wuchernden Garten, eine grüne Insel im Beton der Stadt. Auf drei Seiten wird das Haus von neueren Wohnblöcken eingeschlossen, auf der vierten Seite stösst ein staubiger Platz an den Garten, Parkplatz und Schutthalde, links hinten gibt es eine Moschee, eine Schule, und an der Stirnseite des Platzes liegt eine Strasse, die sich zweimal pro Woche in einen Gemüsemarkt verwandelt, wo es die köstlichsten Tomaten der Welt zu kaufen gibt.
In Hassans Pension haben sich wie angekündigt ein paar junge Deutsche, ein Berliner, ein Süddeutscher und ein Hannoveraner, ausserdem ein Belgier und eine Französin häuslich eingerichtet. Hassan überlässt das Haus ganz seinen Gästen, dafür müssen sie einzig den Garten regelmässig wässern, was aber weniger eine Pflicht als ein Vergnügen ist (in Antalya ist es, lasst euch das gesagt sein, Leute, im September noch immer tierisch heiss). Bezahlt wird, was man bezahlen kann – notfalls auch gar nichts. Im Haus hat es einen Kassettenrekorder, eine Küche, in der sie selber kochen können, Dusche – alles vorhanden; dies ist echt ein Platz zum Abhängen. Hassan ist ein wahrer Wohltäter.
Sie verlassen das Haus selten. Ganz automatisch stellt sich ein WG-Feeling ein. Es ist, wie gesagt, sehr heiss, nur selten gehen sie an den Strand, der etwa zwei Kilometer vom Haus entfernt ist. Sie kaufen auf dem Markt Gemüse, Reis und Hammelfleisch und kochen selber. Hängen rum, erzählen sich Geschichten, lernen ein paar Worte Türkisch. Der Berliner ist unterwegs nach Syrien und in den Libanon, der Hannoveraner und der Süddeutsche sind auf dem Rückweg nach Hause. Sie törnen sich zu: Da gibt es in den Apotheken «Gastro-Gut» zu kaufen, ein Darmmittel eigentlich, das Opiumtinktur und Belladonna-Extrakt enthält, das pfeift ganz schön ein, wenn man sich ein Fläschchen von dem Zeug zu Gemüte führt – es genügt auch schon der Drittel eines Fläschchens. Das Mittel wurde ihnen vom französisch-belgischen Pärchen empfohlen, das schon seit Jahren zwischen Indien und der Türkei unterwegs ist, gewissermassen die professionellen Freaks und alten Hasen im Haus. Der Junge aus Hannover fährt da ziemlich drauf ab. Just hanging around. Ab und zu geht Felix aufs GPO. Peter schreibt zweimal, dreimal, die ersten Male kündet er sein baldiges Kommen an, dann schreibt er, er habe sich auf dem Bau an der Hand verletzt und könne jetzt doch nicht kommen. Das macht Felix nun, da er neue Freunde gefunden hat, aber nicht mehr so viel aus.
Am Abend, nach dem Essen und wenn es kühler geworden ist, besuchen sie ihre Nachbarn linkerhand, in einem Haus mit Garten neben der Moschee. Es sind Türken, und auch sie reden nur zwei, drei Worte Deutsch. Felix und seine Kumpel aus Hassans Pension bringen Wein, Käse, Melonen, Brot. Die Türken spendieren den Haschisch und das Gras. Und dann geht die Party los, das heisst, sie sitzen stundenlang einfach so da und rauchen eine Cigara nach der anderen, gemächlich und ruhig, es wird wenig geredet, ab und zu grinsen sich Gastgeber und Gäste an. Eine friedliche Sache das, Felix wird ruhig und fühlt sich sehr berauscht. Der Gastgeber, ein dunkler Mann, den Felix immer nur im Dämmerlicht des Mondes sieht, seine dunkel schimmernden, stoneden Augen, zeigt Felix in der Runde ganz ungeniert, dass dieser ihm gefällt, indem er Felix manchmal zärtlich berührt oder ihn leicht auf die Wange küsst, lächelnd und Worte murmelnd, die Felix nicht versteht. Auch das gefällt Felix, auch das findet Felix ziemlich schön, und es stört in der Runde übrigens niemand, obwohl Felix westeuropäischerseits der einzige Schwule ist.
Tage vergehen auf diese Weise, Wochen sogar, und Felix möchte gar nicht mehr weiterziehen. Und doch weiss er, dass er noch einen weiten Weg vor sich hat. Er studiert die Landkarten und seine neuen Freunde, vor allem natürlich die alten Hasen aus Belgien und Frankreich, erzählen ihm von Indien. Da sei alles noch viel verrückter als hier, davon vermittle dieses hier bloss einen kleinen Vorgeschmack. Der Berliner reist als erstes ab, und so löst sich ihre temporäre WG Stück für Stück auf; die Französin und der Belgier haben auch schon Adieu gesagt. Da beschliessen der Süddeutsche, der bayrische Landjunge, der schlaksige, langhaarige Stadtjunge aus Hannover und Felix, an einen einsamen Strand zu trampen, östlich von Antalya in der Nähe eines Kaffs namens Kemer.
Hassan ist selten in seiner Pension. Er zeigt sich immer nur kurz, will nicht mit ihnen essen und feiern, hat immer dieses schwermütige Gesicht, immer dieses traurige Lächeln. Manchmal wird Hassan auch von seinem Vater begleitet, dem eigentlichen Besitzer der Immobilie, einem Mann mit grimmigem Gesicht, sicher stinkreich, der stört. Sie, die Gäste, würdigt er keines Blickes, seinen Sohn aber staucht er zusammen und kommandiert ihn herum, während Hassan immer mehr in sich zusammenfällt. Wenn der Alte wieder gegangen ist, stöhnen alle erleichtert auf.

-----------------
Kleiner Strandausflug
-----------------
Ein kleiner Lastwagen nimmt sie mit bis nach Kemer; da wollen sie an den Strand, was ihnen aber von grimmigen jungen Männern umgehend verwehrt wird, da dieser Strand sich auf stattlicher Länge im Privatbesitz des Club Mediterranée befindet. Also bleibt ihnen nichts anderes übrig, als in der glühendheissen Sonne zurück nach Kemer zu marschieren, mit ihren Rucksäcken auf dem Buckel. In Kemer, in einem Teehaus, bietet ein türkischer Autobesitzer ihnen an, sie an einen einsamen Strand zu fahren, ein paar Kilometer von Kemer entfernt. Dieser Strand ist wirklich traumhaft schön, eine kleine Bucht zwischen Felsen und Wald. Wir schauen aus der luftigen Höhe unseres gottähnlichen Schriftstellertums zu, wie unsere Freaks sich im Wasser tummeln und nehmen dann wahr, dass Felix barfuss auf den grössten Felsen klettert. Wir stellen fest, dass er zwar problemlos hinaufkommt, aber es anschliessend kaum mehr runter schafft. Sehen wir da nicht so etwas wie Panik in seinem Gesicht? Als Felix ein paar Stunden später nach weiten Umwegen und arg geschunden und zerkratzt wieder bei seinen Kameraden eintrifft, geht es schon gegen Abend zu. Unsere Freunde haben Hunger und Durst, aber nichts zu essen und zu trinken dabei. Ihr freundlicher Fahrer hat ihnen aber versichert, dass sich in etwa zwei Kilometer Entfernung ein Dorf befinde, und damit müssten wohl auch Labung und Erquickung in erreichbarer Nähe sein. Nun, zwei Kilometer sind ja nicht viel, also machen Felix und der Hannoveraner (oder ist’s doch eher ein Bremer?) sich auf den Weg der Nahrungssuche, während ihr bayrischer Kumpel das Gepäck bewachen soll. Die beiden spazieren den menschenleeren Strand entlang in der ihnen vom Fahrer angegebenen Richtung, begleitet von einem herrenlosen Hund, sie bummeln und schlendern und marschieren und schreiten aus, eine halbe Stunde, eine Stunde lang, in die inzwischen untergehende Sonne hinein, aber kein Dorf taucht vor ihren Augen auf. Endlich ein paar Hütten, aber menschenleer; einen Kilometer weiter stossen sie auf militärische Anlagen, die aber ebenfalls verlassen sind, wie es scheint, leider oder vielleicht auch Gott sei Dank, bei militärischen Anlagen weiss man nie, am Ende hätte man die beiden noch für Spione gehalten. Sie sind inzwischen ziemlich entmutigt und vor allem sehr durstig. Doch da stossen sie unverhofft zwar nicht auf ein Dorf, aber immerhin auf einen Zeltplatz mit Restaurant und Einkaufsladen. Es ist wie eine Erlösung. Der Zeltplatz ist ebenfalls menschenleer und der Besitzer und Kneipeninhaber deshalb sehr froh, zu später Stunde noch mit unerwarteten Gästen beglückt zu werden. Sofort bringt er Bier, Brot, gegrilltes Hammelfleisch am Spiess, Tomaten und rote Zwiebeln. Ein Festmahl! Müde und dankbar sitzen der Deutsche und der Schweizer auf ihren weissen Plastikstühlen und hören essen- und trinkenderweise dem Wirt zu, der meint, dieses Jahr sei der leidigen Politik wegen ein schlechtes Jahr für die Tourismusbranche. Als Felix dem Boss ihre Lage schildert, erklärt der sich sofort bereit, sie dann später mit seinem Auto an ihren abgelegenen Strand und zu ihrem das Gepäck bewachenden Freund, der inzwischen wohl auch schon ungeduldig ist, zurückzufahren, no problem, don’t worry, aber jetzt sollten sie es sich erst einmal wohl sein lassen und eine weitere Runde Bier trinken. Er bringt dann nochmals eine Runde und der norddeutsche Freund von Felix mit dem Hang zum Rausch verteilt ein paar Librium, die sie mit dem Bier runterkippen. Es wird erst dunkel und dann pechschwarz und sie sitzen immer noch vor Bier und haben inzwischen nicht nur schwere Gliedmassen, sondern auch einen schweren Kopf und langsam aber sicher auch ein nicht mehr zu unterdrückendes schlechtes Gewissen wegen ihres bayrischen Freundes. Also beschreiben sie ihrem Gastgeber die ungefähre Lage ihres Strandes und der Wirt macht seine alte Karre startklar. Wie er in der Dunkelheit ihren Strand findet, grenzt an ein Wunder. Der bayrische Junge ist natürlich ein bisschen sauer auf Felix und den Hannoveraner, weil die sich so lange Zeit gelassen haben, aber dann, nachdem die beiden ihre Odyssee und Irrfahrt etwas übertrieben dargestellt und erzählerisch ein wenig in die Länge gezogen haben, überwiegt doch seine Erleichterung darüber, dass sie überhaupt zurückgekommen sind, obwohl, gefürchtet habe er sich natürlich nicht, als heterosexueller bayrischer Landjunge.
Anderntags erwachen sie durchnässt mitten in einem Wolkenbruch: der Himmel rings ist grauschwarz und unsere Freunde finden es überhaupt nicht mehr lustig, ihr Bedürfnis nach Naturerleben ist auf ein Nichts geschrumpft. Nach einem längeren Fussmarsch langen sie schliesslich wieder an der Hauptstrasse nach Antalya an und sitzen dann schon bald wieder auf der Ladefläche eines Kleinlasters. Der monsunartige Regen hat in der Zwischenzeit nicht nur Hassans tropischen Garten arg zerzaust. Es ist wieder einmal Zeit, aufzubrechen. Felix verbringt seine letzte Nacht in Hassans wunderbarer kleiner Pension.

Keine Kommentare: