Dienstag, 25. Dezember 2007

Pokhara, im Jahr 2037



Dies hier ist zwar beinahe auch schon kein Paradies mehr (und in Pokhara gibt es inzwischen ein Swiss Restaurant und jede Menge Business), aber das Leben erscheint ihm hier doch viel viel interessanter und entspannter als in der Schweiz. Zudem glaubt Felix zu bemerken, dass er mit der Dauer dieser Reise viel gelassener wird und das Leben, trotz gelegentlicher körperlicher Unpässlichkeit, in vollen Zügen zu geniessen beginnt. Dieses Lebensgefühl ist schwer zu beschreiben, weil es eben weit über das Denken und die Sprache hinausgeht. In Pokhara nimmt Felix gelegentlich zum Frühstück eine Magic Omlet zu sich (eine Omelette mit Psilocibin-Pilzen) und wandert dann in eine wunderbare, halb dschungelartige, halb gebirgige Landschaft hinein. Pokhara liegt an einem See und in unmittelbarer Nähe der Himalaya-Achttausender, die manchmal unwahrscheinlich hoch in der Abendsonne ins Blickfeld ragen. Das ist die Landschaft, die man in Tolkiens «Herr der Ringe» findet, genau die richtige Kulisse, in die Felix, berauscht von magischen Pilzen, hineingeraten möchte, um dann für Stunden in einer wirklich ganz anderen Welt zu leben, aber eben nicht wie im Film, sondern sozusagen mit Haut und Haar und ganz und gar. Diese Pilze, die Landschaft, die Menschen, die Tiere, die dazugehören, das alles empfindt Felix als das stärkste Erlebnis seiner bisherigen Existenz, zum Niederknien ergreifend und bis ins Mark und in die Knochen gehend schön. Noch nie hat er so deutlich gespürt – und das ist einfach, nicht kompliziert –, was wichtig ist und was nicht und in welche Richtung er gehen muss und was er getrost alles aus seinem Kopf entfernen und mit einem befreiten Lachen in den Mülleimer werfen kann, weil es nämlich Scheisse ist (Frank Zappa: «What is the ugliest part of your body? You think it’s your feet? You think it’s your nose? I think it’s your MIND.»).
Jetzt sind diese Überklarheit und dieses Empfinden einer Lebenstotalität natürlich wieder vorbei, Felix hat heute keine Pilze konsumiert, und der vollmonartige «hässlichste Teil seines Körpers» sitzt wieder ziemlich sicher im Sattel resp. fest auf seinem (mit den Jahren kürzer werdenden und schliesslich ganz verschwindenden) Hals. Aber etwas bleibt zurück und verhindert vorläufig, dass er wieder ganz in jenem Gefühlsbrei versinkt, der ihn üblicherweise die Rolle des Häschens spielen lässt (es sieht ganz so aus, als sei Felix im Begriff, ein Hase zu werden).
Hier noch ein paar Stichworte zu den Ereignissen vor der Ankunft von Felix im Pokhara-Paradies: Zuerst die Fahrt nach Delhi, bis Jammu zwölf Stunden im überfüllten Bus, der Bahnhof von Jammu, dieses unglaubliche Gewimmel, die ohren- und augenbetäubenden und gehirnvernebelnden Menschenmassen Indiens, dieses wogende Auf und Ab von Farben, Geräuschen, Gerüchen, dieser alles überrollende Lebensstrom, in dem auch der Westler einfach mitschwimmen muss, wenn er den Verstand nicht ganz verlieren will – dann Delhi, Old Delhi mit dem Chandni Chowk-Bazar, der grossen Moschee, dieser Mahlstrom aus Ochsenkarren, Fahrradrikschas, Vespas, auf denen fette Sikhs hocken, Tongas, Elefanten, alten englischen Taxis usw. in den Strassen, in denen man bloss zwei Stunden zu gehen braucht, um innerlich zerschlagen zu sein vom Seriefeuer der Sinneseindrücke, die auf dich einprasseln, Blitzlichter rasen durch deinen Kopf, Bild nach Bild nach Bild in nie verminderter Geschwindigkeit; New Delhi mit seinen breiten alleenartigen Strassen, dem noblen Caunnaught-Place und dem Main Bazar (wo die ganzen Freaks rumhängen und wo in den Cafés die Songs von Frank Zappa gespielt werden).



Die Hauptgeschäftsstrasse, der Platz des Mondscheins, ist stets verstopft, belegt mit kugelbäuchigen Basarhändlern und noch kugelbäuchigeren Götterbildern, mit Autobatterien, Seidenschals, Plastikbadewannen, Kuhfladen, Goldschmuck und spitzkegelig aufgehäuften Curry-Pyramiden. In Seiteneingängen, Durchgängen, Nebenstrassen werden geköpfte Hühner und Silberschmuck verschoben. Auch bieten Ohrenputzer hier ihre Dienste an und zeigen fettige Pfropfen als Referenzobjekte nebst Dankesschreiben in vielen Sprachen. Ein Sandwich-Mann lobt sich selbst als bester Rattenkiller. Ein Dentist breitet Dutzende Gebisse, Zahnfeilen und einige rostige Zangen am Boden aus. Einmal Ausprobieren ist gratis.
Einer der Heiler und Quacksalber Old Delhis, der Figur nach ein ehemaliger Ringer, lässt jeden Sonnentag im Meena-Basar zur Ader. Allah und die Erfahrung verraten ihm wohl die richtige Schnittstelle. Hunderte kommen, vor allem die hoffnungslosen Fälle. Flugs werden die Venen abgeschnürt, ein schneller Ritz, schwarzes Blut fliesst über den Boden. Wunde mit Wasser abspülen, Zementpuder drauf, fertig.
In Delhi bleibt Felix fast zehn Tage hängen, lernt in dieser Zeit wieder viele neue Leute kennen, raucht grosse Mengen gutes Manali-Haschisch und lässt sich vom pulsierenden Leben dieser Stadt umtosen. Die Tage vergehen viel zu schnell, viel zu schnell. In Delhi lässt Felix zudem seine ganze fünfundzwanzigjährige Konditionierung auf schweizerische Ordentlichkeit, Sauberkeit und Reinlichkeit endgültig hinter sich. Und es ist lustvoll – wenigstens für eine Weile –, wie eine Ratte im Dreck zu hausen. Sie haben sich zu dritt ein ohnehin schon schmutziges Zimmer gemietet und schlafen alle auf dem gleichen Bett, das wie eine Insel aus einem Meer von Unrat, Dreck und Abfall ragt. Sie werfen einfach alles auf den Boden und lassen es da liegen, Papierfetzen, Essensreste, schmutzige Socken, Tabakkrümmel, Zigarettenstummel usw. Sie hausen wie die Hottentotten, wie die Eltern von Felix es ausdrücken würden. Sie waschen sich nicht, sie stinken, ihre Kleider starren vor Dreck, ihre langen Haare sind verfilzt. Es ist eine Art Therapie für sie alle, und auf dieser Reise ist es vielleicht auch eine Überlebensstrategie.
Seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag feiert Felix an einem Strassenrand hockend, indem er mit seinen Freunden und einem alten – wie sie etwas heruntergekommen wirkenden – Sadhu die Chillums stopft; eine Flasche Whisky haben sie auch dabei. Abends fahren sie dann in einem bis zum geht nicht mehr überfüllten Zug nach Lucknow und dann in einem ebenso überfüllten Zug weiter nach Gorakpur.



Über Zugfahren in Indien liesse sich echt ein Buch füllen. Nur schon die Vorbereitungen sind kompliziert und an ein Ticket und eine Sitzplatzkarte zu kommen, ist eine spirituelle Lektion (vor allem in Geduld und Höflichkeit respektive Durchsetzungsvermögen). Kafka kommt Felix dabei in den Sinn – dass die Bürokratie einen Hang zum Absurden hat, beweist sich definitiv in Indien. Das Zugfahren selbst ist jedoch immer ein tolles Erlebnis – der wahre Film, aber in Echt! Am Abend schaffen sie es noch bis zur nepalesischen Grenze, wo sie übernachten.






Kathmandu ist das einzigartigste Durcheinander von Schönheit und Hässlichkeit, das man sich vorstellen kann, ein Durcheinander von Mittelalter und 20. Jahrhundert, von Kindlichkeit und Dekadenz (für Letzteres sind vor allem die Westler verantwortlich), Kathmandu ist ein dermassen widersprüchlicher Ort, dass es einem den Kopf verbläst. Nepal hat seine Grenzen erst 1956 für Fremde geöffnet, aber der Tourismus hat zumindest Kathmandu schon völlig überrannt. Jetzt gibt es nicht bloss Freaks, die anreisen, nein, schon rollen die ersten Neckermann-Busse an. Da stören die «Hippies» bloss. Infolgedessen hat sich das Visum verteuert, fast wie von selbst, infolgedessen findet man in den Restaurants Tafeln mit schon fast beschwörenden Aufrufen: «No Smoking Hashish Ganja please!» (in Pokhara ist es noch nicht so weit und das Dope noch frei erhältlich: vom kleinen Mädchen bis zum zahnlosen Greis, alle bieten sie Fresh Mushrooms an, Pilzkonfiture, Magic Jam genannt, und «Best Charras»: es ist Erntezeit, das Haschisch frisch gepresst, und es ist auch Pilzsaison). Touristen aller Arten auf der einen Seite, Nepali auf der anderen Seite stehen sich völlig fremd gegenüber, einzig verbunden durch den Umstand, dass die einen Geld haben und die anderen nicht. Die Nepali, zumindest die auf dem Land, meistens Bauern, hatten bisher noch nicht viel mit Geldwirtschaft zu tun; das ändert sich erst jetzt, 1980, mit dem Tourismus, und es ist für die Leute schwer zu begreifen, was Geld überhaupt ist und dass diese abstrakte, anonyme Grösse nun auch ihre Welt regiert (die kleinen Jungen haben es am schnellsten begriffen: sie werden einst grosse Geschäftsleute werden – sie werden ganz nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage begreifen, dass man die 20 Pilze, die es für eine gute Magic Omlet braucht, auch für 50 statt für 5 Rupien verkaufen kann).



Und trotzdem ist Kathmandu für Felix ein extrem faszinierender Platz: die Umgebung, die Landschaft, die Tempel, die Szenen um die Tempel – es ist einfach die ganze Atmosphäre, die ihn umhaut und die bewirkt, dass er sich einmal mehr fragt, ob all das «wirklich» sei. Die Altstadt ist geprägt von hinduistischen Tempeln und buddhistischen Stupas und Heiligtümern. Kathmandu war neben Patan und Bhaktapur eine der drei rivalisierenden Königsstädte des Kathmandutales. Die Altstadt hat eine extrem hohe Bebauungsdichte, verfügt aber weitgehend noch über die ursprüngliche Blockstruktur mit der für die Stadt typischen Innenhofbebauung. Die ruhigen, grossen Innenhöfe sind in der Regel nur durch schmale, unscheinbare Zugänge zu erreichen und bilden einen starken Kontrast zum dichten Gedränge und Lärm in den Gassen. Das Tal mit den drei Königsstädten wird von der UNESCO seit 1979 als Weltkulturerbe eingestuft.

Und jetzt Pokhara, dieser Höhepunkt, diese Landschaft und eben die Pilze. Im Moment fühlt Felix sich ein wenig ausgelaugt und psychisch breitgetreten, von den letzten sechs Tagen waren drei Pilztage. Das geht nur deshalb, weil Pokhara eben der ideale Platz für den Konsum dieser Pilze ist, die übrigens mit Vorliebe auf den manierlich platzierten Scheisshaufen der hiesigen Wasserbüffel wachsen. In Bern auf diesen Pilzen – das kann Felix sich schlecht vorstellen.




Es ist schwierig, liebe Leserin, lieber Leser, die oder der du vielleicht noch nie von solchen speziellen Pilzen genascht haben magst, etwas über die Wirkung dieser Pilze zu sagen; sie ist bei jedem Menschen und auch jedes Mal wieder anders. Die Wirkung ist nicht zu vergleichen mit der von Haschisch; Haschisch kratzt bloss an der Oberfläche, während die Pilze fast bis ins Zentrum gehen, bis dahin, wo sich dein Ich aufzulösen beginnt und wo du verströmst und eins wirst mit dem, was dich umgibt – aber was heisst «dich umgibt», da gibt es keine Trennung mehr, kein Innen und Aussen – und dich ein so grosses Glücksgefühl durchströmt, dass du es fast nicht aushalten kannst. Aber vor dieser totalen Ich-Auflösung steht eine Angstmauer, die aus genau dem besteht, was DU bist, was deine Individualität ausmacht, dein Charakter, deine Vergangenheit, alles, was du bisher gemeint hast, zu sein. Du siehst auf Pilzen: du bist das nicht. Du willst es wegwerfen, aber es gelingt nicht, weil wieder DU es bist, der sich wegwerfen will. Zu kompliziert, wir wissen es.
Du fühlst dich so, als ob du ein Haus wärst mit vielen Zimmern, und du hast immer nur in einem oder zweien dieser Zimmer gelebt und entdeckst nun plötzlich all die anderen Zimmer, die vielleicht auch noch oder schon nicht mehr zu dem gehören, was du als «dein» Haus bezeichnen würdest, das heisst, es machen hier keine Eigentumsverhältnisse mehr Sinn und es könnte gut sein, dass du dich in der Weitläufigkeit dieses wuchernden Gebäudes oder Gebildes verlaufen und nicht mehr in die relative Vertrautheit des einen oder der zwei Zimmer zurückfinden könntest, von denen du bisher angenommen hast, dass es sich dabei um deine «Wohnung», deine Persönlichkeit handelt. Auch zu kompliziert, wir wissen es.
Du merkst im Zustand der Pilzbesessenheit viel, erkennst aber nicht mit deinem Intellekt, sondern mit deinem ganzen Sein, mit der Innenhaut deiner Seele, und was du erkennst, leuchtet dir unmittelbar ein, es fällt dir buchstäblich wie Schuppen von den Augen. Und dann kommst du an einen Punkt, wo du das alles gar nicht mehr – oder vielleicht eher: noch nicht – wissen willst. Du willst wieder zurück in dein kleines Sein. Du willst nicht verrückt werden, sondern «normal» (normal beschränkt, normal behindert, normal neurotisch, normal verrückt) weiterleben. Und so kommst du wieder runter und lässt dich wieder in dein kleines Gehäuse sperren. Aber das ist okay. Du hast ja Zeit, jede Menge Zeit, und es bleibt einem gar nichts anderes übrig, als sich weiterzuentwickeln.

Der innerste Kern dessen, was man gemeinhin als seine Persönlichkeit bezeichnen würde, ist Angst. Und doch ist Felix das nicht. Er ist Nichts. Er ist Nirgendwo. Er will nirgendwo sein, um überall zu sein. Er will nichts sein, um alles sein zu können. Das, was wie Bescheidenheit erscheint, trügt: Es verdeckt bloss einen masslosen Hunger nach dem Absoluten. Er will alles wissen und muss deshalb alles vergessen. Je mehr er von der Welt entdeckt, desto grösser und fremder wird sie. Je näher ihm die Wirklichkeit auf den Pelz rückt, desto unwirklicher erscheint sie ihm. Nein, sie erscheint ihm nicht einmal so, denn Felix und seine Umgebung sind eins, verschmolzen in einem Leben, verschmolzen in einem Tanz. Er ist ein Tropfen, der sich mit dem Ozean vereint. Er ist der Ozean, er ist die Welle, die ins Meer zurücksinkt.
Und auch das ist er: ein bestimmtes Individuum im Fadenkreuz von Raum und Zeit. Der Nullpunkt seines Wesens ist das Tor zur Befreiung: meistens verpasst er diesen Angelpunkt und lässt sich aufs Leidenskreuz von Vergangenheit und Zukunft, Leben und Tod, Liebe und Hass, Freude und Leid schlagen. Da hängt er dann, mit erstarrten Gliedern, zitternden Nerven und einem wie wahnsinnig rotierenden Hirn. Das ist es, wenn wir sagen: der innerste Kern seiner Persönlichkeit ist Angst.
Der, der am Kreuz hängt, ist ein Herr von Anderswo, ein Heimatloser. Der Schauplatz der Illusionen, die Theaterbühne: die Welt, dieser Zirkus, der 24 Stunden dauert, und zwar pro Tag. Die Darstellerinnen und Darsteller: wir alle, inkl. Tiere, Pflanzen, Flüsse, Steine, Menschen und die Geister der Ahnen. Die Handlung ist zwar eine Variation des immer gleichen Themas, wird aber trotzdem nicht eintönig, so, wie auch Musik nicht eintönig wird, obwohl sie die immer gleichen Töne variiert; die Handlung läuft in Zyklen ab, in kleineren oder grösseren Kreisen mit gelegentlichen Schnörkeln. Es sieht nur so aus, als wälze sich diese Handlung vorwärts auf der Strasse der Zeit – es sieht nur so aus. Die Handlung ist fantastisch, gelegentlich barock überladen, auch denkt man zuweilen an schlechten Stil – immer dieser Hang zur Übertreibung –, doch alles in allem überzeugt diese seltsame Mischung aus Erhabenem und Lächerlichem, Komischem und Tragischem, Langweiligem und Interessantem eben doch – einzig deshalb, weil es ist, wie es ist. Kataraktartig schäumt ein Strom aus Schicksal über die Felsen des Seins...

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