Montag, 10. Dezember 2007

Karma





Wien underground; Jack Nickolson in «Profession Reporter»

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Karma
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Am Montag gegen Mittag merkt unser Held, dass er Fieber hat und ein wenig kränkelt. Aber in der Wohnung ist es kaum auszuhalten, da sich Martin und Linda, die Amerikanerin, deren viel gehörter Lieblingssound überdies die nervtötende Schlaftabletten-Folkmusik von Joni Mitchell ist, ständig streiten und das Baby brüllt wie am Spiess. Trotzdem liegt Felix zusammen mit seinen blanken Nerven zu Hause im Bett und würde am liebsten mit dem Baby um die Wette schreien (so viel zu den Freuden des WG-Lebens, die dem Ungemach des Reisens in nichts nachstehen).

Obwohl es ihm immer noch nicht wesentlich besser geht, liest Felix, der für die Kunst doch alles tut, abends zuerst bei Franz und Rudi Texte, die auf Tonfilm gebannt werden und später im «Treibhaus» gezeigt werden sollen. Das ganze Theater ist zwar ein bisschen peinlich, nicht für Felix, der sich ja für einen Dichter hält, aber wahrscheinlich für die, die zuhören müssen, doch das nehmen sie in Kauf, wenn sie dafür den feschen Felix ein bisschen anschauen dürfen, und obwohl sie sich nicht getrauen, Felix vorzuschlagen, die Texte doch mal ein wenig anders, nun ja, nackig zum Beispiel, vorzulesen… Diesem Wunsch würde der zeigefreudige Felix bestimmt mit Wonne entsprechen. Später in der Gruppe fühlt Felix sich dann doch ein wenig unbehaglich: Christian und Josef um sich herum, Franzi beleidigt, Rudi und Franz sabbernd und der burschikose Markus (das ist der, der den nuttigen Felix in Frauenkleidern unlängst mit dem Taxi nach Hause nahm) auf Antidepressiva, die ihn noch naiver machen, als er schon ist. Später lässt Felix sich trotz körperlicher Schwäche auf eine Haschischorgie in seinem spartanisch eingerichteten Zimmer ein und sie liegen wieder zu dritt auf dem kleinen Bett, Sex mit Christian, aber später flippt Felix fast aus, weil ihm das alles langsam zu viel wird.

Um elf Uhr Verabredung mit Kaiser Franz Joseph im Volksgarten, sie reden lange über ihre inkongruente Beziehung. Am Abend trifft Felix Armanda-Franzi vor dem Star-Kino und sie schauen sich den Film «Profession Reporter» mit Jack Nickolson und Maria Schneider von Antonioni an. Ein Mann Ende dreissig unter der weissglühenden Sonne der Sahara. Beruf: Reporter. Diesmal soll er in einem geheimen Guerilla-Camp irgendwelche Freiheitskämpfer fürs Fernsehen interviewen. Ein Traumjob, voll von exotischen Abenteuern? Ein Scheissjob. In einer persönlichen Krise nutzt Fernsehjournalist David Locke die Gelegenheit, die Identität eines toten Landsmannes anzunehmen, der in einem Hotelzimmer aufgefunden wird. Er sieht die Chance, sich von seiner alten Existenz zu befreien und noch einmal von vorn anzufangen. Unter seinem neuen Namen trifft David ein junges Mädchen, mit dem er seine Reise fortsetzt. Als sich herausstellt, dass der Tote ein Waffenhändler war, versucht Locke, dessen Geschäfte weiterzuführen, und gerät in tödliche Gefahr: jetzt jagen dessen Geschäftsfreunde ihn. Der Film fährt Felix voll ein, aber Franzi findet ihn öd und langweilig und stänkert dauernd, was das Filmvergnügen von Felix natürlich ebenfalls schmälert (was will denn der für einen Film sehen, denkt Felix, einen Heintjefilm mit Peter Alexander etwa?). Felix wird nun ebenfalls grantig, und nach dem Film reden sie kaum noch miteinander. Tja, auch so kann das grausame Ende einer Affäre, die kaum stattgefunden hat, aussehen.

Inzwischen ist es heiss geworden in Wien, wie im Hochsommer, etwa dreissig Grad im Schatten. Am Morgen geht es schon wieder los mit dem Babygebrüll und der Streiterei, am Mittag besucht Felix Joseph und Helga und die Kinder, den Nachmittag verbringen sie auf dem Flohmarkt, abends gehen sie zuerst an das Eröffnungsfest einer Mieterinitiative, die einen Innenhof in ein «naturnahes Naherholungsgebiet» oder ein Biotop mit Robinsonspielplatz oder so was umfunktioniert hat, dann ins «Treibhaus» an der Margaretenstrasse, wo erst Felix und dann auch Josef melancholisch werden, sie trinken und reden und reden und reden, die ganzen Schwulen sind natürlich auch alle wieder da und bilden an diesem Abend einen eher deprimierenden Hintergrund, und dann, an einem bestimmten Punkt auf der Einbahnstrasse der Hysterie angelangt, flippen Josef und Felix fast aus, beinahe hätten sie sich für einen Doppelselbstmord entschlossen, weiss der Teufel warum, der Vorsatz hat sich irgendwie vollständig von einem möglichen Motiv losgelöst und sich an einem allgemeinen Weltschmerz festgehakt, doch dann ruft Helga, die früher mit Tigerlein gegangen ist, an und tröstet die beiden dummen Jungs oder Mädels oder was auch immer, diese überkandidelten Schnapsnasen, diese depperten, wenn die keine anderen Probleme haben, sind sie ja zu beneiden, jawohl! Nein, kein bisschen tun sie uns leid, wir könnten sie ohrfeigen und ihnen einen Tritt in den Arsch geben. Aber inzwischen haben sie ja die Idee mit dem Selbstmord schon wieder vergessen, die Idioten, und in einem Anfall von Grosszügigkeit legt Felix seine sexuelle Zurückhaltung Josef gegenüber ab und sie verbringen die Nacht im ersten Stock des «Treibhauses» auf stockfleckigen Matratzen und wir wissen nicht so recht, ob wir das billigen sollen als unbeteiligte Zuschauende, schliesslich sehen wir grössere Verliebtheit bei Josef und weiterhin Unverliebtheit bei Felix voraus und damit neues Ungemach aufziehen, aber egal, es kommt, wie es muss, und überhaupt, vielleicht ist ja eine Stunde gegenwärtiges Glück viel besser als die rosigsten Aussichten für die Zukunft, denn in der Zukunft, darüber soll sich niemand Illusionen machen, kann es letztlich nur bergab gehen. Auch etwas anderes steht fest: Felix behandelt seine Verehrer schlecht, er spielt mit ihnen, zum Beispiel mit Michi, wir erinnern uns, den haben wir schon fast vergessen, obwohl auch er immer noch in Felix verliebt ist, ein bisschen, allerdings mit steil nach unten zeigender Tendenz, und wir sagen nur eins: Karma. Felix wird dafür bezahlen müssen. Ihr werdet es sehen: Felix wird den ganzen Liebesschmerz, den er anderen eingebrockt hat, Gefühl für Gefühl selber auslöffeln müssen, das sei hier schon mal garantiert. Es gibt nämlich eine Gerechtigkeit auf dieser Welt. Und wir, die göttlichen Autoren, werden dafür sorgen, dass sie sich wenigstens in diesem Buch durchsetzen wird, die Gerechtigkeit. Aber davon dann später.



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Kaiserwetter im Arbeiterstrandbad
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Tagsüber ist Felix, nachdem er bei Thomas, seinem Zimmernachfolger, die Kaution abgeholt hat, im Arbeiterstrandbad an der alten Donau mit Christian zusammen und holt sich bei Hochsommerwetter, das man in Wien nicht ganz unpassend als «Kaiserwetter» bezeichnen könnte, nein, nicht einen runter, sondern mal wieder einen Sonnenbrand. Am Abend im «Treibhaus» in der Schwulengruppe, haben wir es nicht gesagt, Troubles mit Josef, schliesslich fahren sie zu dritt in die Wohnung von Christian, besoffen, und sinken ins Bett, das heisst, Christian und Felix sinken und Josef sitzt am Tisch und weint und Felix schläft irgendwann mal ein mit Christian und Josef verschwindet. Abends trifft Felix sich mit Helga und Josef, erbitterte Diskussion: Natürlich ist Felix der Böse, ein Übertäter. Er übernachtet aber trotzdem bei Helga und Co. Helga und Josef bumsen, dann liegt Felix mit Josef wieder zu zweit im schmalen Bett, Horror.

Abends kommt Christian vorbei, und etwas später, ungefähr um zehn, bringt Christine Felix für 500 Schilling Heroin, das er auch gleich – sniffenderweise – probieren muss. Dann ist Ausgang angesagt: Zuerst das «Voom Voom», eine Diskothek, dann das «Exil», eine andere (und wiederum keine schwule) Diskothek, aber Christine geht es echt beschissen, wegen des Heroins, das sie nicht gesnifft, sondern sich gespritzt hat, und wegen der Games mit Linda, die mit einem Küchenmesser auf Christine losgegangen ist, und überhaupt wegen der unguten Vibrations in der WG. Sie muss kotzen, kotzen, kotzen. Unterwegs all die kaputten Leute: ein Einbrecher, ein Pärchen, das sich schlägt.

Abends Vernissage in der Galerie Schwarzer, Felix säuft sich mit Rosé an, Josef «rächt sich» und Felix verliert ihn wenig später aus den Augen, und zwar für immer. Felix sitzt an der Kärntnerstrasse, angesoffen, und hört Strassenmusikanten zu. Manche Möglichkeiten bleiben eben solche. Nein, nicht manche, alle. Letztlich sind alle Begegnungen mit Menschen auf dieser Lebensreise nicht mehr als flüchtige Berührungen. Denkt Felix und flennt ein wenig.

Felix erwacht mit schwerem Kopf, dann ist er beim Exmatrikulieren mit Bürokratie beschäftigt, dann, um ein Uhr, ruft Tuj an, er ist aus München nach Wien zurückgekommen, um mit Felix, wie es ihm dieser versprochen hat, in die Schweiz zu reisen. Felix trifft ihn am Westbahnhof, Tuj ist schöner denn je. Felix hat einen Kloss im Hals, als er Tuj eröffnet, er könne ihn als armer Student nicht in die Schweiz mitnehmen resp. in der Schweiz nicht für Tujs Lebensunterhalt aufkommen. Es sei auch etwas eng in dem kleinen Zimmer von Felix in der WG in Bern. Kurz, Felix findet tausend Ausflüchte und aus der Ferne können wir wieder einmal nur den Kopf schütteln über diesen Schwätzer. Tuj, der wohl auch nicht so recht an die Beteuerungen von Felix geglaubt hat, trägt es mit Fassung. Am Abend wird Felix zuerst von den Eltern von Kommilitonin Madleine, einer Figur in diesem Buch, wir geben es zerknirscht zu, der wir als Autoren ganz und gar nicht gerecht geworden sind, zum Dinieren im feinen Café Landtmann eingeladen, dann trifft er im Alfi Tuj, der nun doch nicht mehr ganz so gefasst und ziemlich niedergeschlagen ist, ohne aber Felix Vorwürfe zu machen. Er wolle nicht nach München zurück, sagt Tuj, habe aber keine Alternative. Da will ihn Felix doch mitnehmen in die Schweiz. Irgendwie gehe das dann schon, meint er ein wenig halbherzig und nicht ohne zu betonen, dass er Tuj dann natürlich keinen grossen Wohlstand bieten könne. Tuj kann nicht verstehen, dass Felix seine Schwester angerufen hat, als er in München war, um ihr zu sagen, wo Tuj sich befindet. Dann fahren sie mit dem Taxi zu Felix und es ist wieder sehr geil, aber nachher ist Felix unruhig und schläft schlecht, weil er sich über Tujs Situation Gedanken macht, was aber selbstredend herzlich wenig hilft und niemandem etwas nützt. Am Morgen ist Felix dann wieder so gierig auf Tujs Körper und Haut, dass er es fast nicht aushalten kann. Tuj bereut jetzt, dass er sich mit seiner Schwester überworfen hat, er sagt wieder, er sei ein bad boy, er habe Glas zerschlagen und das lasse sich nicht wieder reparieren, er fahre jetzt doch nach München zurück. Er ist sehr deprimiert, aber er gibt Felix keine Schuld. Felix ist traurig, weil Tuj so traurig ist, und er fühlt sich – wir finden: völlig zu recht – trotzdem schuldig. Tuj wirkt ja wie ein Kind, eigentlich ganz unschuldig (dabei ist er hundertmal erwachsener als Felix, was dieser in seiner Verblendung und Blödheit aber nicht merkt). Er habe, sagt Tuj, bevor er nach Wien gekommen sei, seiner Schwester versprochen, er werde studieren, aber dann sei er nur in den schwulen Bars rumgehangen und habe sich amüsiert. Und Felix, hat der etwa studiert? Nein, er ist bloss in den schwulen Bars rumgehangen und hat rumgesoffen und hat rumgekifft und hat rumgevögelt und hat Herzen gebrochen, das war alles, und so was wird er später einmal in seinem Lebenslauf als Auslandsemester an der Uni Wien bezeichnen, dass ich nicht lache – pardon, dass Wir nicht lachen, denn Wir sind darüber not at all amused.

Es ist der erste Juni und damit Zeit für die Rückkehr in die Schweiz. Etwa um neun kommt Tuj, traurig, er sagt, Felix liebe ihn überhaupt nicht und wolle fort, um ihn so schnell wie möglich zu vergessen, aber das stimmt nicht: Felix fühlt sich einfach nicht stark genug dafür, für Tuj zu sorgen, ausserdem mangelt es ihm an Liebes- und Beziehungsfähigkeit und ist er überhaupt zu sehr Egoist, um sich vorstellen zu können, für jemanden zu sorgen. Dann bringen sie die wenigen Habseligkeiten von Tuj zu einem anderen Freund; später trifft sich Felix noch einmal mit den Mädchen, seinen Berner Komilitoninnen, die ernsthaft an der Uni gearbeitet haben und noch etwas bleiben, und zuletzt gibt es eine rührende Abschiedsszene mit Tuj am Wiener Westbahnhof. Von Christian, den Felix ebenso wie Josef und Tuj und Amanda und Franzi und wie sie auch immer heissen, nie mehr wiedersehen wird, hat Felix sich schon vorher verabschiedet. Abfahrt nach Bern um 20 Uhr zehn.

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