Dienstag, 4. Dezember 2007

Angstschweiss auf dem Autoput



Nach genau fünf Wochen, am 27. August 1978, ist Felix wieder daheim in Bern. Zwei Tage vorher befinden sie sich in Belgrad und den Tag zuvor in Polikastron, also noch in Griechenland. Der Kopf von Felix zerplatzt einfach bei diesem Tempo, er flippt aus dabei. Von Preveza reisen sie über Ioaunina nach Kalambaka, also durch griechisches Bergland und über hohe Pässe, das ist am Sonntag, genau eine Woche vor ihrer Rückkehr, und im Unterschied zur vom damaligen Felix pathetisch als kalt, antispetisch und spätkapitalistisch beschriebenen Schweiz ist die ganze Bevölkerung auf der Strasse, überall werden Feste gefeiert, Hochzeitsfeste oder so was, Felix weiss nicht genau, da wollen sie in einer Kneipe ganz harmlos ein Bier trinken und schon sind sie mitten drin in der Festerei, es wird gesoffen und getanzt und alle sind eine grosse, ausgelassene Familie, eine Kapelle spielt griechische Musik und ist auch schon etwas hinüber, so dass die Instrumente zu jammern beginnen und der Sound schon fast jazzig wird. In Kalambaka gibt es die bizarren, surrealistischen Felsen, die nackt und einsam aus der Ebene ragen, und da stehen Klöster drauf, «im Himmel schwebende Klöster», und um diese Felsenklöster herum wuseln viele Touristen, und zu Füssen dieser komischen Felsen liegt die kleine Stadt mit dem ameisenhaften Leben, am Abend ist die ganze Einwohnerschaft auf dem Hauptplatz und promeniert und sitzt in den Strassencafes. Auf der Terrasse eines Hauses findet ein Fest statt, ein kommunistisches Fest, das zehnjährige Jubiläum der KKE Kalambaka, wie der im Altgriechischen bewanderte humanistisch gebildete Ernst die Aufschriften auf den Transparenten für Felix übersetzt, die lassen griechische Musik pathetisch über diesen summenden und brummenden Hauptplatz schmettern und dann gibt es wieder gewaltige, wohltönende, von tiefem Pathos getragene Reden, und niemand stört sich daran, man hört zu oder auch nicht, es ist egal, es gehört dazu und tut niemandem Abbruch, und wenn es jemandem Abbruch täte, dann kümmerte das niemanden in Kalambaka. Natürlich ist Griechenland kapitalistisch, analysiert Ernst und hebt sein Glas, während Felix sich eine Olive in den Mund schiebt, aber der Kapitalismus, doziert Ernst, hat andere Strukturen als bei uns in Mitteleuropa, feudalistischere. Kleinhändlertum dominiert, und alle Griechen sind geborene Kleinhändler (und haben fühlbar Spass am Kleinhändlertum – es ist für sie offenbar auch ein Spiel), selbst wenn sie sich dabei sinnlos konkurrenzieren. Natürlich gibt es Abriss, aber der ist nicht bös gemeint, es gibt auch immer wieder grosszügige Gesten, es gibt stets ein paar Oliven und etwas Schafskäse und ein paar Gurkenscheiben zum Ouzo.

Von Kalambaka, der Stadt mit den Meteora-Klöstern, geht es weiter an den Poseidon-Strand in der Nähe von Larissa mit vielen deutschen und österreichischen Touristen; da haben Ernst und Felix, bei viel Rezina und Ouzo, endlich mal ein wirklich gutes Gespräch. Es ist eine Art Wiederfinden an diesem Abend. Ernst gesteht Felix ganz offen seine Enttäuschung darüber, dass er bisher keinen Sex mit ihm haben konnte. Ernst findet auch, Felix habe ihn getäuscht (obwohl vor der Reise keine sexuellen Dienstleistungen vereinbart wurden, geht Ernst einfach mal davon aus, dass solche bei einer Einladung zu so einer Reise inbegriffen sind). Ernst befürchtet auch, Felix sei nur aus finanziellen Gründen auf diese Reise mitgekommen und habe kein Interesse an ihm, Ernst, als Mensch. Ernst ist sehr traurig und Felix ist sehr alarmiert, die Machtkämpfe hören für den Rest der Reise auf und sie haben weitere gute Gespräche. Felix hat sich nach fünf Wochen jedenfalls an Ernst und an alles gewöhnt. Felix hält Ernst trotz allem für einen erstaunlichen Menschen, der zwar ganz anders ist als er selbst, aber andererseits versteht er ihn nun auch besser in seinen Sehnsüchten und Ängsten. Nur – Sex findet weiterhin nicht zwischen ihnen statt.
Am Poseidon-Strand bleiben sie zwei Tage lang. Und dann folgt die verrückte Rückreise. Am ersten Tag fahren sie etwa 600 Kilometer und zehn Stunden bis Belgrad auf dem verrückten Autoput. Felix empfindet es als extrem lebensgefährlich und ist die ganze Zeit übel gestresst. Die kriminelle Fahrweise der deutschen Touristen. Es gibt auch zweimal fast einen Unfall. Auf der ganzen Strecke zu beiden Seiten immer wieder zusammengestauchte Autowracks. Ein Horror. Anderntags geht es weiter so, bis Ljubljana, aber da ist es nochmals schön und gemütlich am Abend in jenem Dorf mit den basketballspielenden Jungs, dem «Bär» und dem «Altmeister».

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Kurz nach dieser Reise zieht Felix um und wohnt für die nächsten sechs Jahre in der gleichen WG wie Ernst, zusammen mit noch sechs oder sieben anderen Personen in einem alten, etwas heruntergekommenen, aber recht herrschaftlichen Jugendstilhaus in einer Häuserzeile an der Effingerstrasse. Dieses Haus steht heute noch, die Häuserzeile hat sich zwar halbiert und die Umgebung ziemlich verändert, aber die Jugendstilvilla aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sieht noch genau gleich aus wie vor zwanzig Jahren und es wohnt noch immer eine WG darin, wie sich aus den vielen Namensschildern an der Tür schliessen lässt. Auf Anfang 1979 hat Felix ein Auslandsemster an der Universität Wien geplant.

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