Samstag, 15. Dezember 2007

In den Klauen der türkischen Geheimpolizei



Das besetzte AJZ in Zürich, um 1980

Lieber Peter
Ich schreibe dir jetzt also einen ersten Brief, damit du deine Fähnchen zu stecken beginnen kannst. Dazu, mich in der Stadt rumzutreiben, bin ich sowieso zu müde. Ich sitze im legendären Pudding Shop und hätte auch keine Lust, mit jemandem zu quatschen, also schreibe ich. Bis neun Uhr habe ich Zeit, dann ist Ausgangssperre.
Also, das ging so: Am Montag kam ich beim Autostoppen wirklich sehr schlecht weg, und als mich jemand mitnahm, war es eine ältere und sehr fromme Dame, die einen bibeltreuen Christen aus mir machen wollte. Gott sei Dank war sie eine unsichere Fahrerin und musste sich auf die Strasse konzentrieren, so dass sie nicht die ganz Zeit quasseln konnte. Am Montagabend blieb ich in Zürich und übernachtete im AJZ, wo es mir aber nicht mehr so gut gefiel wie die anderen Male. Es gibt da jetzt bereits so etwas wie eine interne Polizei, die manchmal recht rüde vorgeht, wenn ihr etwas nicht passt. Ich hatte mich im AJZ auf einer Terrasse zum Schlafen niedergelegt und wurde prompt zwei Stunden später aufgefordert, mich anderswo hinzulegen, um nach weiteren zwei Stunden wieder geweckt und woandershin geschickt zu werden. Auf der anderen Seite hatte ich aber auch gute Kontakte – allerdings mit Leuten, die nicht zum akzeptierten harten Kern im Haus gehörten: ausgerissenen Jugendlichen, Landstreichern…
Anderntags habe ich keine Lust, mich weiter mit dem Autostoppen abzuquälen, und steige in den Zug nach Mailand. Da ist es, als habe kürzlich die Pest oder die Cholera gewütet, die Stadt ist wie ausgestorben, leergefegt, eine Geisterstadt. Ich finde kaum en vernünftiges Ristorante. Na ja, Ferragosto eben. Ich lege mich also in einer verschwiemelten, aber billigen Pensione früh zu Bett und schlafe tüchtig aus. In Belgrad regnet es; der Bahnhof scheint mir dafür, dass Belgrad eine grosse Stadt und die Hauptstadt Jugoslawiens ist, lächerlich klein, wie ein Bahnhöfchen irgendwo in Sibirien; ich kaufe mir eine trockene Paprikawurst und in Zeitungspapier eingepacktes Fladenbrot und steige dann in den bereitstehenden Schnellzug nach Istanbul. An der jugoslawisch-bulgarischen Grenze gibt es strenge Kontrollen und ich bin in Ängsten wegen des Trips, den ich in Zürich gekauft habe und in meinem Rucksack mitführe. Ich bin übermüdet, ich betrachte die Landschaft, ich döse, ich lese in Joseph Hellers «Catch 22», einem satirischen Kriegsroman über den Zweiten Weltkrieg. In Sofia steigen Iraner zu mir ins Abteil – zwei Männer und eine Frau –, beladen mit überquellenden Kartons, sie führen Hausgerät, einen Fernseher und allerhand «Kleinigkeiten» mit sich, so dass das Abteil nachher bis Istanbul voll bleibt. Sie reden in einer mir unverständlichen Sprache, Farsi, wie sich herausstellt; sie erklären mir in gebrochenem Englisch, dass sie in Istanbul studieren und nach Sofia zum Einkauf gekommen sind; da sei alles billiger als in der Türkei. Das wundert mich. In der Nacht schieben wir die Bänke zusammen und versuchen zwar dichtgedrängt, aber immerhin ausgestreckt auf dem Polster zu schlafen.
An der türkischen Grenze kaufen die Iraner literweise zollfreien Whisky und stangenweise Zigaretten; jeder der Iraner läuft mehrmals hin und her, um jedes Mal die erlaubte Höchstmenge anzuschleppen. Dann, nach endlos langer Zeit, erscheinen endlich die türkischen Zöllner; die Iraner müssen, wohl wegen des Fernsehers, den Zöllner, der unser Abteil kontrolliert, gehörig schmieren; meinen Rucksack beachtet er angesichts der unzähligen Iranerkartons gar nicht. Es ist zwei Uhr nachts; um fünf fährt der Zug endlich weiter. Aber als ich die ersten Häuser von Istanbul auftauchen sehe, vergesse ich alle Mühen dieser Zugsfahrt. Istanbul, das ist doch das Tor zu allen Märchen aus tausendundeiner Nacht.
Ich miete im Dormitory des Hotels Güngör gleich neben dem Pudding Shop an der Sultan Ahmed Strasse ein Bett: Das kostet mich hundert türkische Lira die Nacht, laut meinem Reiseführer «Der billigste Trip nach Indien» die günstigste Übernachtungsmöglichkeit in Istanbul.



Danach lasse ich mich zunächst erschöpft in dem nah gelegenen Park vor der Sultan Ahmed-Moschee nieder, um mich ganz dem Anblick der Abendröte hinzugeben, als sich auch schon ein junger Türke neben mich setzt und angeregt mit Händen und Füssen und unter Zuhilfenahme von ein wenig Französisch mit mir zu plaudern anfängt. Er macht mich richtig an und gibt mir zu verstehen, dass er sich mit mir in irgendein Gebüsch zurückzuziehen gedenke, um da ein paar lustvolle Schweinereien zu veranstalten. Das scheint mir zu riskant, ausserdem steht mir der Sinn nach zwei Nächten im Zug eher auf Schlaf als auf Sex. Er lädt mich ein, ihn später in seiner Heimatstadt Bursa zu besuchen, was ich ihm natürlich gerne verspreche. Dann schicke ich mich an, zu meinem Schlafsaal im Hotel Güngör zurück zu kehren. Unmittelbar vor dem Hotel aber werde ich von zwei grimmigen Kerlen mit imponierenden Schnauzbärten angesprochen, die sich als «Zivilpolizisten» ausgeben und mir einen beeindruckenden Ausweis zeigen, der natürlich in Türkisch abgefasst ist und der mich von ihrer Amtlichkeit überzeugen soll, was ihm auch vollständig gelingt. Es kommt mir – als obrigkeitsgläubigem Schweizer – natürlich nicht im Traum in den Sinn, an ihren Aussagen und an ihrer Identität zu zweifeln. Sie hätten, stellen sie mich barsch zur Rede, beobachtet, wie ich mich mit einem jungen Mann unterhalten habe – Hassan heisse der übrigens und sei ihnen wohl bekannt –, und das eine ganze Weile; dieser Hassan habe mir sicher Haschisch oder Heroin verkauft, und sie würden mich jetzt dann gleich ins Gefängnis stecken. Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie man sich da fühlt, bei allem, was man so über türkische Knäste hört. Mit schon fast panischer Angst streite ich diese Kaufgeschichte, die ja tatsächlich nicht stattgefunden hat, ab. Das werde sich noch zeigen, meint der eine der Geheimpolizisten, im Gefängnis werde man mich von Kopf bis Fuss filzen, was mich auch nicht eben beruhigt, habe ich doch in meinem Rucksack tatsächlich noch ein kleines Eckchen mit LSD beträufeltes Löschpapier bei mir. Aber vorerst schleppen die Bullen mich in ein Teelokal, wo sie mir weismachen wollen, dass sie «alles» wissen. Hassan sei ein übler Dieb und Mörder und ich könne überhaupt von Glück reden, dass ich noch am Leben sei, denn dieser Hassan habe mich ermorden wollen mit einem Messer, das er im Stiefel verborgen habe, und ja, er werde noch in dieser Minute verhaftet.
Das geht mir nun doch zu weit. Das sei doch Unsinn, versuche ich zu beschwichtigen, Hassan habe mich nicht ermorden, er habe im Gegenteil das Leben geniessen und Sex machen wollen mit mir, wozu es aber, wie sie ja gesehen hätten, nicht gekommen sei. Diese Klarstellung entlockt ihnen zwar einige Laute der Entrüstung, führt aber lediglich dazu, dass sie mich in ein weiteres Lokal schleppen, wo sie kategorisch von mir verlangen, sie zu Arrak einzuladen. Das erscheint mir schon ein wenig sonderbar, aber anderseits kenne ich mich ja in den Gepflogenheiten türkischer Geheimpolizisten bis jetzt noch nicht so aus und ausserdem bin ich natürlich froh, dass der Arm des türkischen Gesetzes offenbar doch nicht so erpicht darauf ist, mich ins Kittchen zu stecken (wenigstens nicht sofort), ob jetzt mit oder ohne Grund. Ihre einleuchtende Erklärung für die gastronomischen oder vielmehr alkoholischen Verzögerungen der Verhaftung meiner Person – mir bitte einen Tee, ich bin im Dienst – besteht in der Aussage, sie hätten die Szene zu beobachten, und das tue man immer noch am besten als ganz normale Gäste getarnt in einem Lokal und vor einem Gläschen Arrak sitzend. Sie beginnen nun aber auch, ganz entspannt mit mir zu plaudern, worauf ich mich in meiner Verunsicherung und Angst jedoch nicht recht einlassen mag und ziemlich einsilbig bleibe. Schliesslich wird mir das Ganze dann doch zu blöd und ich verlange, dass sie mich nun entweder verhaften oder aber dann ins Hotel zurückbringen sollen, ich sei nach über zwanzig Stunden im Zug nämlich hundemüde. Ich weiss natürlich, an meinem ersten Abend in Istanbul, nicht mehr, wo in der Stadt ich mich und in welcher Richtung sich das Hotel Güngör, mein sicheres Heim und mein Hafen, befinden. Sie führen mich zu einem S- oder U-Bahnhof und behaupten, mit dieser Bahn seien wir sofort wieder beim Hotel. Von Kriminalistischem ist im Übrigen nicht mehr die Rede.
Der Zug, in den sie mit mir eingestiegen sind, fährt natürlich aus der Stadt heraus und nicht in sie hinein, ausserdem können wir niemals die ganze Strecke, die wir nun fahren, vorher zu Fuss gegangen sein. Jetzt habe ich wirklich Angst; sie sind keine Bullen, wunderbar, aber wenn sie keine Bullen sind, dann sind sie wahrscheinlich Gauner, und das ist alles andere als wunderbar. Vielleicht wollen (statt Hassan) ja sie mich erdolchen. Der Vorortbahnhof, an dem wir schliesslich aussteigen, ist düster und leer. Ich sehe mich schon mit durchgeschnittener Kehle in einer finstern Ecke liegen und beginne fast zu weinen. Ich muss ein bemitleidenswertes Bild des Elends abgeben. Da merke ich, dass sich tatsächlich ihr Mitgefühl bemerkbar macht. Sie versuchen nun schon fast, mich zu trösten, während ich noch ängstlicher und trauriger aus der Wäsche schaue. Nein, sie seien keine Polizisten, beichten sie mir, und wir würden Freunde sein, Arkadasch, Freunde fürs Leben, wenn ich jedem von Ihnen so zwei- bis dreitausend türkische Lira schenken würde. Natürlich kommt die kranke Frau und die kranke Mutter und überdies auch noch das kranke Kind ins Spiel, und ausserdem hätten sie keine Arbeit – davon, bei der Polizei zu arbeiten, könnten solche wie sie bloss träumen, bei all den Schmiergeldern, die die Bullen bekommen. Natürlich gebe ich ihnen noch so gerne das Geld, auch wenn der Trip nach Indien damit definitiv nicht mehr der billigste ist. Die Moral von der Geschichte: meine Naivität bringt mich immer wieder in Schwierigkeiten, rettet mich dann aber auch wieder aus ihnen.

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Die Mutter aller Mütter
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Heute werde ich mit einem wunderbaren Tag für die gestrige Unbill entschädigt. Ich sitze auf einem Platz zwischen Bazar und Universität und schreibe an diesem Brief, als sich eine beeindruckende türkische Schönheit weiblichen Geschlechts an meinen Tisch setzt und mit mir zu plaudern beginnt. Sie ist eine Studentin und eben im Begriff, ihren Lehrer zu besuchen. Sie findet mich offenbar sympathisch, vielleicht, weil ich sie nicht anmache, und deshalb schlägt sie mir wohl vor, sie zu ihrem Lehrer zu begleiten. Dieser ist noch ziemlich jung; er hat eine grossartige Mutter, die uns Tee serviert. Die Frau ist zwar dick und in unzählige Röcke gehüllt, aber ein Sinnbild des Lebens und wunderschön. Ihre Augen sind sehr warm und ihre Stimme, die Unverständliches artikuliert, wohlklingend, und obwohl wir nicht verstehen, was wir uns sagen, verstehen wir uns grossartig. Ich liebe sie und sie liebt mich. Sie ist die Mutter aller Mütter, sozusagen.
Der Professor holt Fotoalben aus einem Gestell, während das Tonband alttürkische Klänge von sich gibt – das kleine, aber gemütlich eingerichtete, wenn auch etwas übervolle Zimmer ist zugleich des Professors Schlaf- und Arbeitsraum. Er zeigt mir Fotos von seinen Reisen durch die Türkei, Schwarzweissfotos, die meisten so gegen zehn Jahre alt. Marmaris müsse ich besuchen, Alanya, die Mittelmeerorte, Ürgü zeigt er mir auf den Fotos, man sieht ihn mit seinem Bruder in Konya und in Denizli; und einmal kam er sogar bis an den Van-See, ins Kurdenland, dahin, wo die Türkei noch tiefstes Asien ist. Über Politisches spricht der Professor ungern, er weist diesbezügliche Fragen höflich, aber bestimmt zurück; es sei schlecht, in der Türkei zu viel über Politik zu sprechen.
Die Mutter des Professors warnt mich, wie mir die junge Englischstudentin übersetzt, vor dem Iran, als ich erzähle, dass ich Indien auf dem Landweg erreichen wolle; im Iran würde man zur Zeit vielleicht sogar umkommen, beschwört sie mich; aber der Professor schwächt ab: ich würde mich eben vorsichtig zu verhalten haben, dann werde mir schon nichts passieren. Zum Schluss wünscht er mir einen schönen Aufenthalt in der Türkei und die Audienz ist beendet. Ich verabschiede ich mich von der Mutter des Professors so, wie sich in der Türkei Kinder von ihrer Mutter verabschieden: ich küsse ihre Hand und drücke diese Hand dann an meine Stirn. Das macht sie fast närrisch vor Freude und sie umarmt mich liebevoll. Seither habe ich wirklich ein gutes Gefühl in meiner Brust, denn schliesslich ist die Mutter an sich bei mir – da kann mir auch im Iran nicht mehr viel passieren.
Die türkische Studentin will mir noch etwas anderes zeigen. Diesmal fahren wir mit dem Bus; dann lassen wir uns in einem der Luxushotels – ich glaube, im Sheraton – von einem Lift in den obersten Stock des Hochhauses tragen, wo sich eine Terrasse mit einem absolut grandiosen Rundblick über die Stadt befindet, man sieht den Bosporus und zum asiatischen Stadtteil hinüber, nach Üsküdar. In Üsküdar gebe es grosse Zigeunerviertel, sagt die Türkin, da sei die Atmosphäre ganz anders als im europäischen Teil der Stadt, und bis vor Kurzem habe man zwischen Üsküdar und Istanbul nur mit der Fähre verkehren können; erst die grosse Bosporusbrücke, eine Konstruktion, die der Golden Gate Bridge ähnelt und die 1970 fertig gestellt wurde, habe eine Autoverbindung zwischen den beiden Stadtteilen möglich gemacht. Und man sieht das Fusballstadion von Istanbul, zur Zeit ist gerade ein Match im Gang, die Spieler wirken wie Ameisen und die Menge der Zuschauenden wie ein riesiger Ameisenhaufen; dagegen ist der Lärm aus dem Stadion erstaunlich gut zu hören. Vom Meer her weht ein angenehm frischer Wind.
An einem der nächsten Abende begegne ich Ali im Pudding-Shop. Er ist Englischlehrer, wenn auch ohne Stellung. Er hat eben erst das Studium beendet und ist in meinem Alter. Er beginnt, von seinen Lebensbedingungen zu erzählen. Es habe an seiner Schule Massaker gegeben, das Institut sei als links verschrieen und deshalb des öfteren Gegenstand von Attentaten durch Faschisten (die Grauen Wölfe) gewesen. Er habe miterlebt, wie ein Lehrer von ihm erschossen worden sei. Bei Razzien an der Schule sei auch er mehrfach verhaftet worden; seine Mutter habe jeweils geweint, wenn er am Morgen zur Schule gegangen sei. Weil er sein Diplom an dieser Schule gemacht habe, bekomme er jetzt auch keine Stelle und sei seit Beendigung des Studiums arbeitslos. Er möchte raus aus der Türkei, nach Europa, und da, zum Beispiel in der Schweiz oder in England, Geld verdienen und Sprachen lernen. Ob ich nicht etwas wisse, ob es mir nicht möglich sei, ihm in der Schweiz eine Arbeitsstelle zu vermitteln? Ich bin ein wenig überfordert; ich kenne die rechtliche Lage zu wenig, glaube aber zu wissen, dass das Problem nicht primär eine Arbeitsstelle, sondern vielmehr eine Aufenthaltsbewilligung ist.



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Der Krieg der Frauen und wie Felix den Schwanz einzieht
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Heute bin ich in Üsküdar gewesen und einfach losgelaufen, steile Strassen den Hügel rauf, denn Üsküdar fällt gewissermassen sanfranciscomässig zum Bosporus ab. Vor einem Teehaus sitzen Männer, die mich heranwinken, und schon steht auch ein Glas Tschai vor mir auf dem Tischchen. Sie grinsen mich freundlich an und versuchen, ein Gespräch mit mir anzufangen, was aber am Sprachproblem scheitert. Also belassen sie es beim Grinsen und Gestikulieren, und immer wieder steht ein neues Gläschen Tee vor mir. Irgendeinmal geraten zwei Frauen, beide in unzählige bunte Röcke gehüllt, auf der Strasse in Streit, das ist ein Geschrei und ein Fauchen, dass es keine Art hat, und plötzlich ist die Strasse voll von buntberockten Frauen, die sofort für die eine oder andere der Streitenden Partei zu nehmen scheinen und das Geschrei und Gezeter verhundertfachen. Die Männer im Teehaus schauen diesem Treiben mit Amüsement, wie mir scheint, bloss zu, gänzlich unbeteiligt, als würden sie im Kino sitzen und eine Filmhandlung verfolgen. Nun versucht eine der Frauen sogar, mit einem Messer auf eine andere loszugehen; aber daran wird sie von weniger rabiaten Mitstreiterinnen denn doch gehindert, und man führt sie, die schreit und tobt, unter Besänftigungsversuchen in ein nahe gelegenes Haus. Dann beruhigt sich die Strasse rasch wieder und die Frauen verschwinden ebenso plötzlich, wie sie aufgetaucht sind. Und die Männer kommen auf ihre Männergespräche und kehren zur Tagesordnung zurück.
Einer, der ein bisschen Englisch kann, lädt mich zu sich nach Hause zum Essen ein und führt mich im Triumph aus dem Teehaus, verfolgt von den neidischen Blicken der anderen. Es scheint für diese Menschen, die bestimmt nicht reich sind, geradezu eine Ehre zu sein, fremde Gäste zu bewirten. Auch später bin ich immer wieder beeindruckt von der geradezu überwältigenden Gastfreundschaft der Türken. Vor dem Haus des Gastgebers, auf einem Tischchen, über das als Sonnenschutz eine Wolldecke gespannt ist, wird mir gebratenes Hammelfleisch aufgetragen, frisches Brot und ein köstlicher Tomatensalat. Die Kinder wollen alle den fremden Gast begutachten, werden aber immer wieder weggescheucht. Die Frauen sitzen nicht mit am Tisch, sie bedienen die Männer bloss, jetzt wieder scheu und stumm. Man schickt Kinder nach Bier. Man gibt mir Raki zu trinken. Der Gast ist König.
Mich verunsichert dieses Übermass an Gastfreundschaft von Leuten, mit denen ich mich nicht einmal richtig unterhalten kann, allerdings auch. Und als mein Gastgeber mich einlädt, meine Zeit in Istanbul unter seinem Dach zu verbringen, wage ich zwar nicht, diese Einladung auszuschlagen, aber es ist mir ziemlich unbehaglich zu Mut dabei. Ich komme mir unter diesen Menschen so tollpatschig, so verkrampft, so komisch vor. Ausserdem bin ich wohl auch etwas misstrauisch, der Schreck der ersten Nacht sitzt mir noch in den Knochen.
Später fahre ich mit meinem Gastgeber und einigen seiner Freunde mit der Fähre zurück in den europäischen Stadtteil, der Besuch eines Fussballspiels steht auf dem Programm, es spielen die zwei Istanbuler Stadtmannschaften gegeneinander. Das Stadion ist, als wir ankommen, schon übervoll und die Stimmung am Überkochen. Mir machen solche Massenaufläufe immer Angst, ich fühle mich eingesperrt und ausgeliefert und klaustrophobisch inmitten einer Menge. Die Sprechchöre, die Lärminstrumente, das begeisterte Anfeuern und das Johlen bei einem Tor, das alles kann mich in Panik versetzen. Ausserdem interessiere ich mich nicht sonderlich für Fussball. Ich fühle mich eigenartig fremd in dieser Stimmung des Mitgerissenseins um mich herum. Dies alles wird mir zuviel und ich mache mich noch während der ersten Halbzeit aus dem Staub, was bei dem Gedränge kein Problem ist, und flüchte geradezu aus dem Stadion, ohne mich bei meinen Gastgebern auch nur bedankt und mich von ihnen verabschiedet zu haben. Ich habe ein schlechtes Gewissen, ich fühle mich als entsetzlicher Feigling, als undankbares Schwein, ja geradezu als Dieb: Ich habe diesen Leuten, die mich so grosszügig und selbstverständlich eingeladen haben, etwas gestohlen, ich habe die Spielregeln ihres Lebens, die ich nicht kenne oder nur erahnen kann, verletzt. Ich bin ein Fremder in einem fremden Land; in diesem Moment denke ich, dass es wohl besser wäre, zu Hause zu bleiben, als sich auf Reisen so aufzuführen. Aber nein, aufgeben, zurückkrebsen, kapitulieren, das kommt denn doch nicht in Frage, da würde ich mir gerade noch einmal als Feigling vorkommen. Und ich will mit dieser Reise doch gerade beweisen, dass auch ich Mut haben und eigenständig sein kann.»

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