Donnerstag, 31. Januar 2008

Tsunami am Doubs



Felix sass, sitzt und wird gesessen haben in einem alten, klapprigen Volvo, zusammen mit seinen Dichterfreunden, es ist Freitag, sie wollen ein verlängertes Wochenende im Jura verbringen. Sie fahren von Bern aus über Hinterkappelen, Illiswil, Murzelen, Frieswil, Dettlingen und Radelfingen zunächst nach Aarberg. Felix ist gut gelaunt: keine Atmenbeschwerden, keine Herzbeschwerden, kein Stechen im Kopf und kein Zwicken im Magen, auch kein Flashback von einem LSD-Trip, alles ist okay. Er sitzt zunächst neben Roland vorn, angegurtet, denn das muss sein. Dänu, welcher mit Jean-Jacques hinten sitzt, ein grünes Beret trägt und verschiedenfarbene Hosenbeine hat: das linke grün, das rechte gelb, nein rot; oder das linke gelb oder rot, das rechte grün, Dänu findet die oben mit Namen genannten Dörfer zum Kotzen oder jedenfalls zum Motzen: sie gefallen ihm nicht und er würde, zum Exil zum Beispiel in Murzelen verknurrt, glattweg davonlaufen oder draufgehen. Ja, ja, Murzelen, Fliegenschiss auf der Landkarte, nicht der Rede wert, aber aus Murzelen besteht nun mal die Welt. In Aarberg machen sie einen ersten Halt, denn Roland will Zigaretten kaufen, Gauloises extra oder Marlboro Gold. Sie ringen mit sich und beschliessen, noch nicht in einem Wirtshaus einzukehren. Auch Aarberg ist übrigens nicht der Rede wert und doch die halbe Schweiz, so hat alles zwei Seiten. Felix sitzt jetzt hinten im Volvo, neben Jean-Jacques, während sie über Bühl, Hemrigen, Bellmund nach Biel fahren, durch Biel hindurch, sich quer durch die erste Jurakette pflügen, sozusagen, La Heutte und Sonceboz passieren, in Sonceboz nicht die Abzweigung Richtung St. Imier nehmen, sondern weiter nach Tavannes fahren, in Tavannes nicht die Abzweigung nach Tramelan-Saignelegier nehmen und etwas später auch nicht die Abzweigung nach Bellelay, wo die literarisch zumindest einmal verewigte (Friederich Glauser, «Der Tee der drei alten Damen»), an eine Schutz- und Trutzburg gemahnende Irrenanstalt steht, sondern weiterfahren durch Reconvilier hindurch (nicht abzweigen nach Loveresse), durch Malleray hindurch, durch Bévilard hindurch (wo Roland sich vorstellen könnte, Lehrer an der Gesamtschule zu sein), durch Moutier hindurch, nicht abzuzweigen Richtung Grandval-Crémines-Gänsbrunnen-Welschenrohr und Herbetswil, wo sich das Arschloch der Welt befindet, sondern schnurstracks weiter nach Roches, aber vor Choindez dann doch abzuzweigen nach Rebeveulier, ein Kaff, welches Dänu seit fernen Kindertagen in seiner Erinnerung mit sich herumschleppt (da gibt es ein grosses Schild, auf dem steht REBEUVELIER, und eine Burg, ein Schloss gar, und süsse Knappen, und stramme Pagen, und ein blondes Burgfräulein).



Die an eine Schutz- und Trutzburg gemahnende Irrenanstalt von Bellelay



Friedrich Glauser

Baurenhöfe gibt es in Rebeuvelier natürlich auch, und Hunde, zum Glück angebundene, einen Dorfladen und immerhin, wie sie erfreut feststellen, eine Beiz. In dieser Beiz gibt es einen Ölofen, eine Wirtin, einen weiteren Gast, Tische, tischtuchbedeckt, auf den Tischen Plastikkörbchen mit Erdnüssen, Pommes-Chips-Tüten nature und paprika, Kägi-Fret-Schoggiwaffeln und süsse Brezeln.



Roland trinkt einen Kaffee und Dänu eine warme Schokolade, er knappert dazu Salznüsschen, er scheint es süss-salzig zu mögen. Jean-Jacques nippt an einem Verveine-Tee. Felix hat eine grosse Flasche Bier (Warteck) bestellt, weil er ja nicht fahren muss und auch gar nicht fahren kann. Als sie die Beiz wieder verlassen, senkt sich bereits Dämmerung, wie der Dichter zu sagen pflegt, übers Land. Farbe des Schnees jetzt blau. Sie fahren wieder auf die Hauptstrasse zurück, passieren Choindez und Courrendin. Die verschneiten Felder links und rechts der Strasse sehen in der dreiviertelsatten Dunkelheit aus wie ein See. Folglich können sich unsere lieben Freunde vorstellen, auf einer Chaussee zu fahren. Sie stellen es sich vor. Sie fahren durch Delémont. Felix sitzt noch immer hinten. Nach Devilier steigt die Strasse an, auf den Col des Rangiers hinauf, welcher eine Höhe von 856 Metern über Meer aufweist.



Der zerstörte Fritz wird an einem Sonntag im Jahr 1984 entdeckt

Hier stand früher das zweimal zerstörte und dann nicht wieder aufgebaute Denkmal des «Alten Fritz» aus dem 1. Weltkrieg. Etwas unterhalb der Passhöhe zweigt die Strasse nach St. Ursanne ab. In rassigem Tempo kurvt Roland die sechs Kilometer runter auf eine Höhe von 434 Metern über Meer: hier fliesst gemächlich gemütlich der alte Vater Doubs: Au monde, il n’est rien plus doux/Que Saint-Ursanne au bord du Doubs.




Sie kehren zunächst im Hotel du Soleil ein, um einen halben Weissen zu trinken. Sie sind wieder quasi die einzigen Gäste. Sie kommen auf den Erdrutsch zu sprechen, der sich etwas oberhalb von St. Ursanne ereignet hat und sich jetzt gegen den Doubs vorschiebt. Mit einem, zwei oder auch drei Stundenkilometern Geschwindigkeit. Wenn die Erdmassen im Bett des alten Vaters Doubs gelandet sein werden, wird es eine Stauung geben, ist ja klar. Der auf diese Weise entstandene Damm oder Wall wird natürlich brechen können. Dann wird sich eine Springflut ereignen, ein Tsunami: zehn, zwanzig Meter hoch. Und St. Ursanne wird den Doubs runtergespült werden, an Ocourt vorbei und womöglich ohne die nötigen Zollformalitäten über sich ergehen zu lassen über die französische Grenze. Und unsere Freunde mittendrin. Aber vom Zoll später. Wegen der drohenden Springflut, überlegen sich unsere leicht paranoid veranlagten Dichter, ist das Dorf fast menschenleer.
Nach dem halben Weissen suchen sie sich nichtsdestotrotz mit einem etwas mulmigen Gefühl eine Unterkunft. Neben dem «du Soleil» bietet sich noch das «Cigogne» an, was wahrscheinlich in etwa unserem deutschschweizerischen «Storchen» entspricht. Alle anderen Hotels sind geschlossen. Man ist auch im «Cigogne» nicht gerade begeistert über ihren Besuch: am übernächsten Tag sind Betriebsferien. Nein, es herrscht in der Tat keine Saison für den Fremdenverkehr in St. Ursanne. Eine junge Frau zeigt ihnen die Zimmer, Doppelzimmer für 80 Franken die Nacht. Es stinkt in den Zimmern nach Moder, Verfaultem und Schimmel, obwohl sie frisch renoviert sind. Ausserdem funktioniert das Etagen-WC nicht, und eines der Zimmer hat keine eigene Toilette. Felix bezieht mit Roland das eine der Zimmer, das toilettenlose. Dann wollen sie essen, ein Ansinnen, das mit befremdetem Erstaunen quittiert wird: auch das noch! Sie bekommen eine Karte vor den Latz geknallt, die sich nicht gerade durch Fantasiereichtum auszeichnet. Sie bestellen wieder Weissen. Immerhin ist eine Aktion im Angebot: zwei Forellen für 15 Franken. Forellen sind schliesslich die Spezialität des Clos-du-Doubs. Felix, Dänu und Jean-Jacques bestellen denn auch brav ihre Truits à la meunière, während Roland, der manchmal etwas zum Querschlägertum neigt, heissen Schinken bestellen muss, weil er sich vor Fischgräten fürchtet resp. vor dem durch solche verursachten Erstickungstod. Die Strafe folgt auf dem Fuss: der Schinken schmeckt ganz fürchterlich, wie Roland mit angewiderten Gesichtszügen erläutert, er ist wohl etwas zu gut abgehangen, so gut, dass er bereits einen gewissen Arschgeruch ausdünstet. Roland flucht über die Weiberwirtschaft; das Hotel mitsamt dem Restaurant wird ausschliesslich von Frauen geführt. Die Forellen schmecken ganz passabel. Felix denkt hin und wieder an die Springflut; es scheint nicht unmöglich, dass sie kommt. Er rechnet immer mit allem, um nicht mit unangenehmen Überraschungen konfrontiert zu werden. Solche Gedanken werden ohne Erbarmen mit Weisswein runtergespült.
Nach dem Essen machen sie noch einmal einen Rundgang durch das verschlafene mittelalterliche Städtchen. Nur wenige Fenster sind erleuchtet, obwohl es erst zehn Uhr ist. Dann sitzen sie etwas trübsinnig und natürlich ein weiteres Mal als einzige Gäste in einer Kneipe, es läuft ein Fernseher und im Fernseher irgendeine Sendung über die Weltraumfahrt mit Bruno Stanek.



Der heilige Bruno Stanek

Besser, man zieht sich ins Hotelzimmer zurück, auch wenn es dort ein bisschen nach Moder stinkt. Roland und Felix nehmen ein Gutenachtbier mit aufs Zimmer. Sie spielen, in den Betten nebeneinander liegend, eine Partie Schach. Felix baut einen Grasjoint. Die Partie endet mit einem eindeutigen Patt. Während sie im Badezimmer ihrer Freunde Wasser resp. Bier abschlagen (da das Etagen-WC, wie gesagt, nicht funktioniert), werden sie von einem grundlosen Lachanfall geschüttelt. Dann liegen sie wieder im Bett, Felix ist am Einschlafen, sein Hirn befindet sich bereits im Alpha-Zustand, während Roland noch liest (Christoph Geiser, Brachland) und den Kopfhörer seines Walkman übergestülpt hat.



Christoph Geiser

Felix träumt von der Springflut. Da weckt ihn ein gewaltiges, grollendes Geräusch. Es ist aber nicht der Tsunami, wie Felix nach einigen bangen Sekunden, die er braucht, um sich zu orientieren, feststellt, sondern das Geräusch stammt bloss von seinem schlafenden Kumpel im Nachbarbett, der sich ungeniert einer exzessiven Schnarchorgie hingibt. Roland hat Felix gewarnt: Ich schnarche ein bisschen, hatte er gesagt. Felix wickelt sich das Kissen um den Kopf. Alle Viertelstunden dröhnen die Kirchenglocken vor dem Fenster des Hotelzimmers. Dazwischen horcht Felix auf die Springflut. Ein Königreich für zwei Ohrenstöpsel!
Dafür hat man am anderen Morgen einen zauberhaften Ausblick auf den Kirchplatz und die Kirche oder vielmehr das Kollegial, von welchem Gonzague de Reynold behauptet: «L’admirable Collégiale, on peut la comparer à bien des églises fameuses de l’Italie ou de la France, mais savons-nous assez ce qu’elle représente?» Wir wissen es, lieber Gonzague, frank und frei gesprochen, nicht.



Der heilige Gonzague de Reynold

Es schneit vor dem Fenster in dichten Flocken, während sich Roland rasiert und Felix duscht, weil die Springflut nun doch nicht gekommen ist. Dann wird gefrühstückt, denn solcherlei Tun ist, zumindest zwischen neun und zehn Uhr, im Zimmerpreis inbegriffen. Dänu wundert sich darüber, dass das Brot nach Camembert riecht. Aber es ist nicht das Brot, das nach Camembert riecht, sondern die Butter, denn die ist ranzig. Oh diese Weiberwirtschaft! stösst Roland ingrimmig zwischen den Zähnen hervor. Als es ans Bezahlen geht, warten die Weiber vergeblich auf ein Trinkgeld. Und jetzt wendet man sich dem historischen Teil der Reise zu: nämlich wird nun das Collégiale besichtigt, was man nicht mit Kloster, sondern mit Stift zu übersetzen hat. Ein Kloster war das Stift nur bis 1119, nämlich ein benediktinisches, dann wurde es in das offizielle Kapitel eines Domherrn umgewandelt. Das Domkapitel besitzt in Deutschland (ausser in Bayern) und der Schweiz sowie einigen weiteren Diözesen (beispielsweise im Erzbistum Salzburg) unter anderem ein Wahlrecht bei der Neubesetzung des Bischofsstuhls der Diözese, jedenfalls aber ein Wahlrecht für den Kapitelvikar, welcher im Fall der Vakanz des Bischofsstuhles die Diözese interimistisch leitet, sofern kein apostolischer Administrator bestellt ist. So viel nur am Rand und für Nichtkatholen. Auf jeden Fall hat St. Ursanne seinen Ursprung einem frommen Eremiten namens Ursicinus oder Urcinus zu verdanken.



Der heilige Ursicinus

Dieser kam zusammen mit ein paar anderen Heiligen vom fernen Irland via Bregenz an die Gestade des Doubs, wo er die Barbaren Mores lehren wollte und um 620 nach Christus das Zeitliche segnen sollte. Später tauchte der heilige Wandrille, Nobelmann des Königs Dagobert I., zusammen mit Donald und Daisy Duck und Tick, Trick und Track in St. Ursanne auf und so weiter, während unsere nicht ganz ausgeschlafenen Freunde im Kreuzgang wandeln und es heftig schneit.





Dagobert I.; Tick, Trick und Track 1; Tick, Trick und Track 2

Auf einer Steintafel stehen die berühmten Namen derer von Asuel, von Landskron, von Ze Rhein, von Hallwyl, von Wattenwyl, von Neuchâtel, von Montjoie, von Lichtenfels, Dänu sieht, wie er im Kreuzgang steht mit seinem grünen Beret und den verschiedenfarbenen Hosenbeinen, mehr denn je aus wie der Narr, Trumpfkarte des Tarot mit der Ziffer Null, Zero, Hoffnarr Dagoberts I., immerhin ist Dänu trotz seines italienischen Nachnamens Bernburger und hat also, wenn auch entfernt, einen Bezug zu Aristokratischem.



Als sie genug von Kunst- und überhaupt Historischem haben und zu allem Überfluss an einem riesigen Altersheim vorbeispaziert sind, taucht das Problem der Weiterfahrt auf. Da St. Ursanne in einem Talkessel liegt, die Strassen inzwischen schneebedeckt sind und der grüne Volvo nicht gerade als schneeresistent oder schneetauglich bezeichnet werden darf, bleibt eigentlich nur noch die Strasse entlang dem Doubs, Richtung Frankreich, als Ausweg. Na ja, und auf dieser Strasse gleiten sie nun dahin. Die Landschaft ist, um wieder einmal ein Dichterwort zu bemühen, zauberisch. Fast nur Landschaft und nur wenig Zivilisation. Und Schnee, überall Schnee, das ist ja auch Natur, nicht wahr. Also Natur in Form von Schnee auf Natur in Form von nackten Bäumen und, was man allerdings nicht sieht, in Form von nackter Erde, das heisst unbegraster Erde oder Erde bedeckt von kümmerlich-braunem erfrorenem Gras. Es ist Winter, fürwahr. Und der grüne Volvo, ist der auch Natur? Von Schnee bedeckt ist er allemal. Und die Menschen im grünen Volvo, sind die Natur? Immerhin, es pulsiert Blut in ihren Adern, rot und organisch. Es hängt Fleisch an ihren Knochen, und an manchen nicht zu knapp. Es pulsieren Gedanken in ihren zweifellos organischen Hirnen. Sind die Gedanken auch natürlich? Und wenn ja, welche? Und wenn nein, warum nicht? Eigentlich ist doch alles Natur, denkt Felix. Bei Brémoncourt die Grenze zu Frankreich. Ist diese Grenze auch Natur? Hervorgebracht, um nicht zu sagen: erfunden von menschlichen, organischen Menschenhirnen, die sich längst in ihre Moleküle aufgelöst haben. Kleines Kaff in der Schneewüste. Mit mindestens zwei Beamten, dem schweizerischen und dem französischen Zollbeamten, die hier, am Arsch der Welt – aber nein, der befindet sich ja bei Herbetswil –. pistolenbewaffnet ihren Dienst an ihrem jeweiligen Vaterland tun. Zwei Arbeitslose weniger auf der Welt. Pässe, Identitätskarten, Legitimationen, Ausweise, alles verschwindet im Passhäuschen. Da wird nun geprüft, wie unsere Dichterfreunde annehmen dürfen, vielleicht nur mittels Fahndungsbuch, vielleicht bereits via mit Interpol verbundenem Polizeicomputer, ob Roland, Jean-Jacques, Dänu und Felix keine national oder international gesuchten verdächtigen Personen – Terroristen, Verbrecher, Mörder, Diebe, Kinderschänder, Rauschgiftschmuggler – sind. Felix hat noch ein bisschen Gras, Cannabis indica sattiva enthaltend und bestimmt der Natur entstammend, im Nessecaire, dem Notwendigen, nachbarlich bei Zahnbürste und Rasierzeugs. Der Schweizer Zöllner interessiert sich aber nicht fürs Gepäck, bloss für die Ausweise, das ist dem doch egal, was in Frankreich, wo Gott lebt, nicht hockt, aber speist, und zwar gut, nämlich wie Gott, eingeführt wird. Dafür interessiert sich schon eher sein französischer Kollege, er schaut sich ihr Gepäck an, aber nur von aussen, er wird sich sagen, dass man es nicht übertreiben soll mit dem Pflichteifer, ist ungesund, lieber demnächst einen Aperitif trinken, den Pflichteifer kann er getrost seinen Schweizer Kollegen überlassen. Franzosen sind selbst als Beamte nicht so, denkt Felix. Gepäck anschauen ja, aber nur von aussen. Gott ist eher zu ertragen, wenn er lebt, als wenn er hockt. Und er lebt, wie das Sprichwort sagt, wenn er speist, in Frankreich. In der Schweiz mag er Kohle scheffeln und auf Goldbarren hocken, in Frankreich schlürft er Austern und schlückelt Veuve Cliquot oder gar eine Flasche sauteuren Louis Roederer Cristal (es klingt übrigens sehr lustig, obwohl das überhaupt nicht hierher gehört, wie uns natürlich sehr bewusst ist, wenn ein Thailänder diesen Markennamen auszusprechen versucht, nämlich etwa wie Rouis Loedelel Clistar).



Und so gleiten sie auf verschneiten Strassen über Glère-Vaufry-Soulce-Cernay nach St. Hippolyte, welches, unnötig zu betonen, wieder ein von einem Heiligen beschützter Ort ist. Ein durchaus nicht unsympathischer Ort. Es ist inzwischen fast zwei Uhr geworden und unsere vier Terroristen und Verbrecher haben Hunger, kein Wunder nach dem ranzigen Frühstück. Sie finden eine Beiz eher am Rand oder an der Peripherie des Städtchens, welche sich schlicht und einfach und ohne zusätzliche Schnörkel «Pizzeria» nennt. Die Pizzeria an und für sich. Dabei bekommt man in dieser Pizzeria nicht einmal Pizza. Immerhin hat es aber zur Ausnahme auch mal andere Gäste da. Und einen Töggelikasten, eine Tischfussballkiste. Der Beizer sieht ein wenig versoffen aus. Unsere Freunde bestellen Aperitif, Pernod oder Pastis, und Kleingeld für das Töggelispiel. Und das Menu, Suppe, Koteletten mit Spaghetti, und vorher Charcuterie, später Fromage. Einen Liter Roten. Sie spielen: Dänu kann’s, Roland kann’s auch ganz gut, Jean-Jacques und Felix spielen schlecht, aber mit viel Einsatz. Unsere Freunde sind jetzt beinahe ausgelassen. Nach dem Essen und einem weiteren Töggelispiel besuchen sie die verfallende Kirche des heiligen Hippolyte, der lächerlich fromm als Statue auf seinem Ehrenplatz steht. Alsbald wird er von Roland geschmäht. Das hätte Roland besser nicht getan; kaum sind sie auf der jetzt schneefreien Strasse in Richtung Maîche unterwegs, als am Volvo das Gas nicht mehr richtig zieht und es der Wagen am Hang gerade noch auf die Mofageschwindigkeit von maximal vierzig Stundenkilometer bringt. Man muss also annehmen, dass gewisse Heilige, obwohl längst verstorben, empfindlich sind und eine Vergeltungsmentalität pflegen. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als im Schneckentempo weiterzutuckern. Immerhin scheint jetzt die Sonne. Wintersportler hasten auf Langlaufskiern durch die Gegend. Nach Charquemont fällt die Strasse wieder ab ins Tal des Doubs.



Zwischen dem französischen und dem schweizerischen Grenzposten Biaufond no mans land. An diesem schweizerischen Grenzposten, der den Brückenkopf nach dem Übergang über den Doubs bildet, werden ihre Papiere, Ausweise, Idenitätskarten, Passeports Suisses, Passaporti Svizzeri wieder mit Akribie untersucht. Danach werden sie von einem Zöllner mit dem Gesicht eines Schäferhundes aufgefordert, den Wagen zu verlassen und mit dem Gepäck ins Zollhäuschen zu kommen. Das ist ja ein Cerberus ganz eigener Art, denkt Felix. Er hat das Gras, einer Eingebung oder bösen Ahnung folgend, vom Toilettentäschchen in seine linke Hosentasche transferiert. Der Zöllner-Schäferhund prüft das Gepäck sehr sorgfältig. Nachdenklich hält er ein Päckchen Zigarettenpapierchen Rizla bleu, von dem ein Eckchen Karton abgerissen ist, welches Verwendung als Filter gefunden hat, in der Hand. Als er im Gepäck von Jean-Jacques einige Optalidon-Tabletten findet, fragt er seinen Kollegen Henri, der missmutig und zweifingrig eine Schreibmaschine bearbeitet, ob es sich hierbei um eine legale oder um eine illegale Droge handle. Aber sicher, aber sicher, sagt der Kollege uninteressiert, von dem ich annehme und der auch so aussieht, als möchte er vor allem mit möglichst wenig Scherereien durchs Leben kommen. Als die Kontrolle des Gepäcks keinen illegalen Tatbestand ergibt, der den Schäferhund veranlassen könnte, seines Amtes zu walten oder zuzubeissen, wird eine Leibesvisitation der mittleren Intensität über die vier potenziellen Gangster verhängt. Einer nach dem anderen müssen sie dem Schäferhund in ein Nebenräumchen folgen, wo sie aber etwas ganz anderes als ein Schäferstündchen erwartet. Als erster ist Jean-Jacques dran. Jetzt gilt es für Felix, zu handeln. Er muss das Gras loswerden, und zwar sofort, wenn sie nicht in diesem verdammten Biofond hängen bleiben wollen. Er steckt das kleine Päckchen also schwups hinter einen Prospekt des Uhrenmueums von La Chaux-de-Fonds. Jetzt kann er sich vom Beamten ruhig betatschen lassen. Nachdem der Schäferhund auch noch den alten Volvo auseinandergenommen hat, dürfen sie endlich weitertuckern. Uff!



Die Strassen von Novosibirsk

Sie beschliessen, in La Chaux-de-Fonds zu übernachten und womöglich einen Garagier zu finden, der ihnen das Auto flickt. Das ist gar nicht so einfach an einem Samstagabend, aber schliesslich stossen sie auf einen Monsieur Jungen, der sie zu seiner Werkstadt am westlichen Ende der Stadt lotst. Da stellt er bald einmal fest, dass die Membran kaputt ist. Kleine Sache! Für Jungen kein Problem!, sagt Monsieur Jungen. Er hat nur gerade keine passende Ersatzmembran zur Hand. Aber der Kollege X oder der Kollege Y, er telefoniert französisch, fährt gleich mal nach Le Locle, während unsere schiffbrüchigen Dichter und Gangster im Büro des Meisters Jungen warten. Dieser gibt Anweisungen: Wenn das Telefon läutet: Ne touchez pas! Wenn ein Kunde kommt: Hinhalten! Sagen, der Jungen sei nur schnell weg! Als er vom Kollegen X und vom Kollegen Y wiederkommt, hat er zwar eine Membran, aber es ist eine, die nicht zu dem alten Volvo passt. Doch was ein Jungen ist, der gibt nicht so schnell auf. Ich versuche es noch beim Kollegen Z, meint Herr Jungen, obwohl es Roland inzwischen schon peinlich ist und er den Garagisten beschwört, der möge sich doch nicht so derangieren. Nein, nein, der Ehrgeiz des Meisters der Schraubenschlüssel ist angestachelt, während der Magen von Felix knurrt. Leichte Atembeschwerden, leichtes Herzstechen von der Anspannung im Wagen, auf dem glitschigen Eis und im Schnee, Fantasie, dass die grausame Mutter Natur sie verschlingt, mit Mund und Geschlecht, Untergang in den Wassern der Springflut und im immer dichter wirbelnden Schneegestöber, dann die Anspannung am Zoll – was hilft da besser als Speis und Trank? Endlich kommt Monsieur von Kollege Z zurück. Sie haben sich schon vorgestellt, dass Jungen seinerseits eine Panne gehabt oder sogar einem Unfall zum Opfer gefallen oder durch einen Herzinfarkt dahingerafft worden sein könnte. Aber auch die Membrane von Z passt nicht: Murphys Gesetz. Merde, flucht Jungen, nun echt frustriert. Jetzt müsse er aber heim, die Alte warte mit dem Essen. Am Montag, ja am Montag sei das Problem bestimmt blitzschnell gelöst. Ob sie ein Hotel brauchen würden? Ja. Dänu wünscht sich eines mit Kegelbahn. Das «Moulin» hat Kegelbahn. Jungen, der offenbar leidenschaftlich gern und mit kaum zu überbietender Weltgewandtheit telefoniert, lässt zwei Zimmer reservieren. Die Gaststube des «Moulin» ist wieder einmal leer. Eine schlampige und offenbar verladene Serviertochter bringt ihnen Bier (dem Felix ein Grosses und Roland eine Stange), heisse Schokolade (Dänu) und Kaffee (Jean-Jacques). Dann muss Felix scheissen. Er hat leichten Durchfall. Während er sitzt und scheisst, schaut er in Ermangelung einer anderen Zerstreuung oder Lektüre seinen Pass an. Schweizerische Eidgenossenschaft. Confederazione Svizzere. Nr. 2 703 320. Nom Name Cognome Name. Enfants voir page keine Ziffer. The holder of this passport is a Swiss citizen and is entitled to return to Switzerland at any time. Geboren am 12. November 1955 fünf/fünf. Grösse 172 cm. Cheveux Blond. Occhi Grau. Distinguishing Marks Keine. Dieser Pass wurde ausgestellt gestützt auf Passempfehlung. Bern, den 3. März 1975 Kantonale Polizeidirektion Unterschrift nichtentzifferbar. Gebühr Fr. 25.- Sfr. Stempel: 2. Juni 1975 Entrada Portbou. Bab-Sebta 10. Dezember 1975. Ouel Moumen 1. Dezember 1975. Direccion General Seguridad Fronteras 7. Juni 1976 Salida C Ceuta (El Tarajal). Felix blättert um. Namen: Sezal. Santa Cruz Airport Bombay. Eyzinon. Immigration Officer Taftan Check Point (Pakistan). Gerstungen DDR. Graniczna Mirjaveh Kontrolna Centralnego Portu Lotniczego Wraszawa-Okecie. Departure Mirjaveh Border. Section Consulaires de l’Ambassade de la Rép. Islamique de l’Iran à Berne. Kapikule Demiryolu Kapisi T.C. Edirne 15.VIII. 80 Giris. Departure from Sonauli. K.B. Bahtia Consular Agent Embassy of India Islamabad. Seen at the Royal Nepalese Embassy New Dehli. Fee Rs. 90.-/Ninty only. Jetzt hat der Druck in den Gedärmen von Felix ganz aufgehört. Felix kann den Pass wieder in die Tasche stecken und zu seinen Freunden zurückkehren aus dem Orkus. Nachdem sie Bier, Kaffee und heisse Schokolade ausgetrunken und bezahlt haben, beziehen sie die Zimmer. Das eine Doppelzimmer mit Dusche, das Dänu und Felix beziehen, kostet 60 Franken die Nacht, das andere, ohne Dusche, 50 Franken. Dann suchen sie eine Kneipe zum Essen. In La Chaux-de-Fonds liegen mindestens 60 Zentimeter Schnee, da die Stadt fast 1000 Meter über Meer liegt, also schon fast ein Höhenkurort ist. Roland fühlt sich von der ungeschminkten Hässlichkeit der geometrisch angelegten Stadt positiv angesprochen. Las Vegas, meint er. Nein, eher Novosibirsk.



Zwischen den Fahrbahnen der Hauptstrasse (Rue de la Liberté) türmen sich Schneewälle bis unter die nackten Kronen der in Zweierreihe angepflanzten Bäume. Unsere Freunde einigen sich schliesslich auf das Restaurant «Cercle des Italiens». Sie bestellen Pizze quatro stagioni und Salat. Eine Flasche Rotwein. Dann Kaffee mit Grappa. Auf der Pizza hat es zu viel Wurst.



Danach spazieren sie wieder durch die kälteklirrenden Strassen von Novosibirsk. Kehren noch einmal ein, dieses Mal ist es ein Spunten, in dem sich interessanterweise die Jugend trifft. Musik läuft, Jazz oder wohl eher Jazzrock. Die Kellnerinnen haben zu tun, es ist Samstagabend, die Kneipe ist, im Unterschied zu anderen Kneipen, die unsere Freunde auch schon gesehen haben, voll. Unsere vier Weltenbummler und Bettentummler stehen oder sitzen in der Bar ein wenig wie bestellt und nicht abgeholt rum in der Bar in der Bar ja was machen sie da? Roland und Felix trinken dunkles Bier, Dänu und Jean-Jacques einen Likör der ist süss und schwör. Geräuschkulisse für die Ohren, Formen und Farben für die Augen. Felix überlegt sich, ob er ein zweites Bier bestellen soll, aber da verkündet Roland schon, dass er müde sei und gehen wolle. Na gut, denkt Felix, kann ich ja im Hotel noch eine Flasche (Cardinal) aufs Zimmer nehmen. La Chaux-de-Fonds ist, da im Kanton Neuenburg liegend, Cardinal-Gebiet, während der Kanton Jura sich biermässig ganz in der Hand der Basler Brauerei Warteck befindet. Aber das nur entre Paranthèse. Im Hotelzimmer zieht sich Dänu ganz aus, also nackt bis auf die Haut, er ist tatsächlich splitterfasernackt. Er hat ein Buddha-Bäuchlein, das aber ganz gut zu ihm passt. Felix behält seinen Pullover an, da er sich nur sehr ungern erkälten oder verkühlen möchte (er erkältet sich dann aber trotzdem). Dänu ist schon erkältet, also spielt es keine Rolle mehr und so schläft er eben nackt, wie Gott oder die Natur ihn schufen. Sie lesen noch ein wenig, der eine bepullovert, der andere nackt, der eine liest «Versuch über die Pubertät» von Hubert Fichte (Dänu), der andere von Guido Bachmann «Echnathon». Drüben, im anderen Zimmer, spielen Jean-Jacques und Roland eine Partie Reiseschach, die aber zu keinem eindeutigen Ergebnis in Form eines triumphierend ausgestossenen «Schachmatt!» führt. Felix liest: «Ein Affenknabe mit grossem Glied wollte sich immer wieder einer dunklen Äffin nähern, wurde aber geohrfeigt. Sie schien sich mehr für mich zu interessieren; denn sie wies mit dem Zeigefinger nach mir, lachte und klopfte sich auf die Schenkel. Sie kehrte sich um und präsentierte sich hingekauert. Sie schaute über die Schultern und begann, sich zu masturbieren. Der Affenjunge besprang sie. Er drang kurz ein, wurde aber wieder geohrfeigt.» Felix las das Buch mit einer Mischung aus Abscheu, Langeweile und Faszination. Er fand das Buch einen ganz reizvollen Eintopf aus Hans Henny Jahnn und der Illuminatus-Trilogie von Robert Shea und Robert Anton Wilson. Gewürzt mit einer Prise Meyrink und abgeschmeckt mit einer Fingerspitze Genet.



Hubert Fichte, 1935 bis 1986

Dänu las inzwischen: «Die Männer trinken den Urin dessen, der den Fliegenpilz ass, und werden gross und reichen bis an die Wolken, die nächsten trinken den Urin derer, die den Urin dessen tranken, der den Fliegenpilz ass, und werden gross und reichen bis an die Wolken und die nächsten trinken den Urin derer, die den Urin derer tranken, die den Urin dessen tranken, der den Fliegenpilz ass, und werden gross und reichen bis an die Wolken.»



Guido Bachmann, 1940 bis 2003

Felix trinkt indessen nur einen Schluck gutes altes ordinäres hopfen- und malzhaltiges, kalorienreiches und eher basisches Bier der Bierbrauerei Cardinal. Dieses ergibt zwar auch ein gutes Quantum Urin, wir bezweifeln aber, dass der, der diesen Urin trinken würde, gross werden und bis an die Wolken reichen würde. Roland zieht währenddessen seinen Turm auf E8. Dann schläft Felix ein, zum 11431igsten Mal in seinem Leben. Gott sei Dank ist Dänu kein Schnarcher.
Am andern Morgen schmeckt die Butter nicht nach Camembert. Die Sonne scheint von einem wolkenlosen Winterhimmel. Sie fahren mit dem Bus den Hügel rauf, an dem sich die Stadt hochzieht. Spazieren mit vielen anderen im Schnee. Bis das Spazieren langweilig wird, die Füsse kalt werden, das Rutschen auf dem Eis verleidet, der Magen wieder einmal knurrt, und überhaupt. Jetzt beginnt erneut die Suche nach einem Restaurant. Auch in La Chaux-de-Fonds sind am Sonntag die meisten Kneipen zu. Schliesslich kehren sie im «Terminus» ein. Roland, Felix und Jean-Jacques bestellen Entrecôte, Pommes-frites und in Speck eingewickelte Bohnen, nota bene das Mönü, Dänu Walliser Spaghetti, das sind Spaghetti mit Fleischstückchen drauf, dazu zuerst einen jungen Beaujolais, der wie Sirup schmeckt, dann einen kräftigen Burgunder, Côte de Beaune-Villages 1983. Nach dem Essen will Dänu unbedingt Kegeln. Aber alle Kneipen mit Kegelbahn haben geschlossen, auch die Kegelbahn in ihrem Hotel darf an einem Sonntagnachmittag aus unerfindlichen Gründen nicht benutzt werden. Dann weichen sie aufs Billardspielen aus, oder wollen das vielmehr. Aber auch das Centre de Billard ist zu, runde Bälle – ausser vielleicht Fussbälle, aber nicht im Winter – scheinen in La Chaux-de Fonds am Sonntag einfach nicht angesagt. Und der Spielsalon auf drei Etagen, der Ort, wo sich La Chaux-de-Fonds Jugend am Sonntag trifft, ist dermassen überfüllt, dass sie das Lokal fluchtartig verlassen. Schliesslich setzen sie sich ins Bahnhofbuffet. Dänu macht ein saures Gesicht, es ist ihm langweilig. Dänu und Felix beschliessen, mit dem Zug, der viertel nach fünf Richtung Neuchâtel abfährt, La Chaux-de-Fonds zu verlassen. Jean-Jacques und Roland, welche noch eine weitere Nacht in der Schweizer Uhrenmetropole verbringen wollen, dürfen oder müssen, um anderntags den hoffentlich inzwischen von dem rührigen und findigen Herrn Jungen reparierten grünen Volvo in Empfang zu nehmen, beschliessen, die Kino-Vorstellung um halb fünf zu besuchen (Tati, Les vacances de Monsieur Hulot). Bis es so weit ist, hat man aber noch Zeit, eine Flasche Wein zu bestellen, dieses Mal Rosé vom Neuenburgersee, und wenn schon nicht zu kegeln oder zu billarden, so doch eine Runde «Tschau Sepp» zu spielen, ein Kartenspiel, das unseren Dichtern zum Abschluss ihrer kleinen Reise keinen allzu grossen geistigen Aufwand abfordert.



Der Bahnhof von Novosibrisk

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