Sonntag, 20. Januar 2008

Stille Tage in Bosch-en-Duin



Im Sommer 1984 treffen wir Felix schwitzend auf der deutschen Autobahnraststätte Hünxe.
Er ist durchgefahren, fast ohne Unterbruch, und befindet sich jetzt in der Nähe der holländischen Grenze. Er hofft, es heute zumindest noch bis Arnhem zu schaffen. Erst kam er bis Basel durch, anschliessend bis kurz vor Karlsruhe, und dann, in einem Zug, das heisst natürlich nicht im Zug, sondern in einem Stück, mit einem dicken Brummi bis hierher. Der dicke Lastwagenchauffeur im verschwitzten Unterleibchen quatschte ohne Punkt und Komma, meist über Frauen und das Leben auf der Strasse und das Leben im Allgemeinen, und alle fünf Minuten brüllte er etwas in sein Funkgerät, um sich bei Käte, Lise und Mitzi zu melden, seinen Mietzen am Ufer der Autobahn. Das war der Nervenpreis, den Felix für diesen Lift zu zahlen hatte. Fasziniert starrte er auf die riesigen Haarbüschel, die dem Brummifahrer aus den miefenden Achselhöhlen wucherten. Aber im Grossen und Ganzen hat er heute echt Glück beim Trampen, an diesem fürchterlich heissen Tag, der nach Schweiss und Abgasen riecht.



Er schafft es nach dem Zwischenhalt auf der Autobahnraststätte, wo er ein Bier trinkt, dann sogar noch bis Bosch-en-Duin, das ist ein kleines Kaff bei Zeist, und Zeist ist ein etwas grösseres Kaff bei Bosch-en-Duin, und zwar schafft er es, gewissermassen als Kontrast zum Brummi, in einer roten Ente mit französischem Kennzeichen, einem Bruder oder einer Schwester von Antonius (der geneigte Leser, die geneigte Leserin erinnert sich vielleicht, siehe Post vom 3. Dezember und folgende). Umgekehrt wäre es Felix allerdings fast lieber gewesen (also im Deux-chevaux unter dem blauen Himmel Deutschlands und im Brummi in der holländischen Wetterhexenküche). Aber so viel Koordination zwischen den meteorologischen Verhältnissen und der chronologischen Zuteilung von Verkehrsmitteln beim Trampen kann man vom Schicksal denn doch nicht erwarten (und vom Herrgott schon gar nicht, der hat anderes zu tun, als sich um Tramper zu kümmern). In Holland fahren Felix und sein Chauffeur nämlich direkt ins Zentrum eines Gewitters hinein, das heisst, sie fahren auf eine ziemlich kompakt wirkende bräunlich-schwarze, beeindruckend sich himmelwärts auftürmende Wand zu und dann in diese Wand hinein und dann – oh je, ja dann. So etwas hat Felix noch nie erlebt. Es bricht nämlich ein wahrer Hexenkessel los aus Hagelsturm, grell niederzuckenden Blitzen, wummernden, krachenden, polternden, böllernden Donnerschlägen und heftigsten Windstössen. Von all diesen exzessiven Äusserungen der Natur sind sie nur durch die dünne, fragile Haut ihrer Ente getrennt. Man sieht kaum zwei Meter weit. Eiergrosse Hagelkörner stürzen sich in fast selbstmörderisch anmutender Entschlossenheit vom Himmel auf die Erde. Unsere beiden Reisenden können sich nur noch im Schritttempo vorwärtsbewegen und müssen Bäumen ausweichen, die auf die Fahrbahn gestürzt sind – eine ziemlich beängstigende Sache. Felix ist wieder einmal verkrampft vor Angst, in seinen Därmen rumort es und er müsste dringend aufs WC, woran natürlich nicht zu denken ist, während sein Fahrer, Hansi, ein blondes, vielleicht zwanzigjähriges Bürschchen, versucht, Witze zu reissen und den harten Kerl herauszuhängen, indem er gruselige Geschichten erzählt, und zwar uralte Kamellen wie jene Geschichte vom automobilen englischen Paar im Wald, dem das Benzin ausgeht und dann marschiert der Mann mit dem Benzinkanister los und die Frau wartet und wartet im Auto und plötzlich hört sie ein dumpfes Klopfen auf dem Dach: bumm bumm bumm. Sie kennen diese Geschichte bestimmt, liebe Leserin, lieber Leser. Bumm bumm bumm macht es auch auf dem Autodach von Hansis Antonius.



Nun, mit der Zeit beruhigt sich die Atmosphäre ein bisschen und sie kommen doch noch heil in Utrecht an, wo sie sich bei ein paar redlich verdienten Bierchen und Jeneverchen der Marke Bokma vom Schreck erholen, Felix und der deutsche Kumpel Hansi. Bis Zeist ist es nicht mehr weit, den ehemaligen Bahnwaggon von Nicki finden sie allerdings erst nach langem Suchen, der steht gut getarnt in einer Gruppe von Bäumen, die vom Gewitter glücklicherweise nicht niedergeknickt wurden. Nicki ist eine Bekannte von Mättu (so lautet die berndeutsche Bezeichnung für Matthias) und Mättu ist ein Kollege von Felix aus der Buchhändlerschule. Mättu ist vernünftigerweise mit dem Zug nach Holland gefahren und schon vor einiger Zeit im ehemaligen Bahnwaggon eingetroffen.

Ein paar Tage später, an einem Sonntag, ist Felix noch immer in Zeist/Bosch-en-Duin. Es regnet, die ganze Zeit regnet es, die Stadt zeigt sich provinziell-sonntäglich, und nach dem kräftigen Kaltlufteinbruch, vielleicht handelte es dabei auch um einen Kaltlufttropfen oder ein besonders fieses Höhentief, sind die Temperaturen auch nicht mehr gerade hochsommerlich. Felix sitzt in der einzigen Kneipe von Bosch-en-Duin vor einem trockenen Sherry, er ist dem Häuschen respektive dem ehemaligen Eisenbahnwagon im Wald entflohen.
Morgen wollen Felix und Mättu nach Amsterdam weiter.
Eigentlich hängen sie die ganze Zeit in Bosch-en-Duin nur so rum, indem sie entweder im Eisenbahnwagon kiffen oder mit dem Fahrrad ein bisschen in der Gegend herumfahren. Nun könnte man eigentlich denken, Holland sei ideal zum Verlofahren, da flach, aber wer so denkt, hat den Wind nicht einkalkuliert. Komischerweise hat man in Holland auf dem Fahrrad immer Gegenwind. Wir wissen auch nicht, wie das zu erklären ist, aber es ist so. Wir wollen jetzt nicht von Fall- oder Scherwinden zu schwadronieren beginnen, da wir zugegebenermassen von dieser Materie wenig Ahnung haben. Natürlich lässt es sich auf dem Fahrrad, vor allem, wenn man mit heftigem Gegenwind kämpft oder meinetwegen auch mit Fall- und Scherwinden, nur schlecht unterhalten. Der eh schon schweigsame Mättu wird, wenn er gekifft hat, und das hat er meistens, noch schweigsamer, und so ist das Zusammensein von Mättu und Felix meistens ziemlich arm an verbaler Kommunikation. Die Tage verlaufen also recht ereignislos für die beiden. Nur einmal, am Mittwoch, fahren sie nach Arnhem, um Shit zu kaufen, sonst begeben sie sich höchstens zum Einkaufen nach Zeist oder kehren manchmal abends im Lambik ein, der Bar hier, in der man sich trifft. Das Mädchen arbeitet tagsüber, als Krankenschwester, und ist abends entsprechend geschafft. Nicki ist ein katzenartiges Wesen, unberechenbar wie alle im Sternzeichen des Krebses geborenen Frauen (und Männer).
Mit Mättu, seinem Kumpel aus der Buhhändlerschule, verbindet Felix ein vage freundschaftliches Gefühl. Er ist ein sympathischer und durchaus hübscher, erotisch anziehender junger Mann von achtzehn Jahren. Felix ist 29 und fühlt sich in der Gesellschaft seines Kumpels manchmal schon alt.
Mättu hat keine Ahnung, dass Felix schwul ist, oder Felix geht davon aus, dass Mättu keine Ahnung davon hat, und Felix hat auch nicht das Bedürfnis, es ihm zu sagen. Er hat den Eindruck, Mättu verstehe das möglicherweise nicht oder könne vielmehr mit dieser Information nichts anfangen; nicht, dass Felix glaubt, Mättu würde ihn deswegen ablehnen, aber er befürchtet, ihr Zusammensein würde dann durch Befangenheit geprägt, wobei ihr Zusammensein ja auch so von Befangenheit geprägt ist. Anderseits bewirkt es, dass Felix, wenn er mit Mättu und auch mit dem Mädchen zusammen ist, sich nicht wirklich entspannt fühlt, sich also in einem gewissen Sinn kontrolliert oder gar zensiert. Felix fühlt sich denn auch nicht sehr wohl und sein Atem ist beklemmt. Er hat gehofft, die paar Tage in Amsterdam allein verbringen zu können und dort ein wenig in die Subkultur einzutauchen, aber jetzt will Mättu auch mit. Sie verbringen dann insgesamt nur einen Tag und eine schreckliche Nacht in Amsterdam. Das Hotel, in dem sie übernachten, heisst «The Last Waterhole», und ein Loch ist es und aus dem letzten Loch pfeift es auch. Die ganze Nacht wummern die Bässe und heulen Gitarren und hämmert das Schlagzeug aus der darunter liegenden Kneipe durch den Massenschlag, in dem ein ständiges Kommen und Gehen herrscht und der Rauch vieler Joints und Zigaretten zwischen den Betten steht. Ausserdem stinkt es im letzten Wasserloch noch nach ganz anderem als nach Rauch, und wir sprechen jetzt hier nicht von Küchengerüchen. Also nichts wie weg!

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