Freitag, 18. Januar 2008

Die Folgen des Urschreis



Während seiner Ausbildung zum Buchhändler lernt Felix natürlich vieles, was uns hier nicht zu interessieren braucht, aber auch eine etwas herbe Dame mit dem zarten Namen Aurore kennen, die zweite Frau, mit der er schläft und mit der er auch ein paar Mal auf Reisen ist, zu zweit während des Karnevals in Verona und Venedig, wo das Wasser knietief in den Gassen steht, und, im grösseren Rahmen der Buchhändlerschule, in Tübingen und in Paris. Von der Reise nach Venedig möchten wir hier nur die folgenden Episoden berichten: Als sie in Venedig aus dem Bahnhofsgebäude treten, werden sie, da zur Zeit alle Hotels und Pensionen und Albergos vollbelegt sind, von einem Privatmann dazu aufgefordert, zu einem nicht ganz billigen Preis in einem Zimmer seiner Privatwohnung zu übernachten. Sie werden im Schlafzimmer des älteren Ehepaars einquartiert und dürfen folglich in deren Ehebett schlafen, was eine Ehre ist, zumal in Italien. Das nehmen Felix und Aurore auf jeden Fall an; sie verlieben sich geradezu in diese Idee. Sie sind ganz glücklich darüber, im Trubel des Karnevals ein Dach über dem Kopf gefunden zu haben. Doch dann schlägt die Stimmung schlagartig um: Sie entdecken an den Wänden Fotos des damals noch jungen Ehemannes, die diesen in einer schwarzen Uniform – offenbar zur Zeit des Zweiten Weltkriegs – zeigen. Der war sicher bei den Faschisten, flüstert Aurore Felix zu, der sich von ihrer Erregung anstecken lässt, und unser Paar steigert sich kontinuierlich in so etwas wie eine Panik hinein. Szenen aus dem Pasolini-Film «Die 120 Tage von Sodom» kommen ihnen in den Sinn. Die werden uns sicher umbringen oder wer weiss was mit uns anstellen, rätseln sie halb im Spass, halb im Ernst herum. Damit ist das Rad der Fantasie in ihren Köpfen angeworfen. Schliesslich, wir wissen gar nicht wie, nachdem sie sich in ein paar immer unheimlicheren Geschichten verloren haben, glaubt Felix auch noch sein Erlebnis vom Strand in Djerba zum Besten geben zu müssen. Zuerst Aurora und dann Felix selbst sträuben sich die Nackenhaare und sie nehmen sich schliesslich vor, in der kommenden Nacht abwechslungsweise Wache zu halten. Das ziehen sie dann allerdings so nicht durch: Felix schläft und schnarcht und Aurore ist wach, weil sie wegen des Lärms nicht schlafen kann.

An einem anderen Tag und gar nicht mehr in Venedig, sondern schon in Verona, wo am Karneval ein echter oder verkleideter Bischof auf einer Bühne mit gemessenen Bewegungen zu Discomusik tanzt, sitzen Aurore und Felix in einer Trattoria und sind daran, beim Kellner ihre Bestellung zu deponieren. Dabei geraten sie unvermittelt in einen absurden Wettstreit, indem sie sich gegenseitig in ihren Bestellungen überbieten: Sie bestellt Pasta, er bestellt Fisch, sie bestellt Salat, er bestellt Fleisch, sie bestellt Suppe, er bestellt ein Tiramisù, er bestellt ein Gericht mit Meerfrüchten, sie bestellt noch einmal Fleisch, er bestellt noch einmal Pasta und sie bestellt Prosecco, er bestellt Weisswein und sie Chianti, er bestellt Barbera und sie eine Flasche Grappa… Der Kellner schaut sie nur mit grossen Augen an und fragt sie, ob sie das alles wirklich haben wollen. Die beiden nicken eifrig. Schliesslich sitzen sie etwas ratlos vor Schüsseln und Tellern und Schalen und Flaschen und Karaffen und können sich nicht in die Augen schauen. Dann tun sie es doch und brechen in schallendes Gelächter aus, was den Kellner hinter ihrem Rücken dazu veranlasst, eine eindeutige Geste zu machen, die zu dem italienischen Wort «matto» passt. Und dann beginnt ein Gelage, wie es die Welt seit dem alten Rom nicht mehr gesehen hat.





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Erneute Verwirrung der Gefühle in Undervelier
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Beginnen wir wie immer mitten in der Geschichte, von der man nie weiss, ob sie das Ende vom Anfang oder den Anfang vom Ende bezeichnet. Felix logiert im «Hotel de la croix blanche» – das ist im Moment aber gar kein Hotel, sondern es sind bloss verwaiste Räume, die im Obergeschoss liegen, Morbid Rooms von morbidem Charme, in denen es bestimmt spukt und in denen Felix recht gruselige Nächte mit nicht sehr tiefem Schlaf verbringen wird – plus immerhin ein Restaurant im Erdgeschoss, das noch in Betrieb ist und in dem man sehr guten Kartoffelsalat mit Beinschinken vom Schwein bestellen kann. Gütige Menschen – Bekannte der oben in diesem Buch als neue Figur aufgetauchten herben jungen Frau mit dem entzückenden Namen Aurore – gewähren ihm als schon etwas überjährigem, aber deshalb nicht weniger armem Lehrling hier kostenlos Asyl. Da haust er nun also in einem vergammelten Zimmer und liegt des Nachts in einem feuchten Bett in seinem muffig riechenden Schlafsack und ist allein. Alles passt – die Melancholie der von Herbststürmen gepeitschten Juralandschaft zur tristen Atmosphäre seines momentanen Aufenthaltsortes und dieser wieder zu seinem eigenen Seelenzustand. Felix ist, wie gesagt, allein, und auch das passt – sozusagen zu allem, zur Welt im Grossen und zur Psyche im Kleinen, zu den Farben, die uns die Natur beschert und zu den Träumen, die dieses unheimliche Haus dem Felix zu nächtlicher Stunde – wie sollen wir es nennen? Einhaucht? Einflösst? Überstülpt? Wir wollen erzählen, wie es so weit kommen konnte.
Eigentlich handelt es sich hierbei um nichts anderes als eine Folge sich häufender Krankheitsgeschichten, also eine Art Krankenhausserie oder Spital-Soap. Erst war da die Liebeskrankheit zu Etienne, dann waren die Folgen eines allzu abrupten Entzugs zu bewältigen. Dann erneuter Anfall jener Sehnsucht, die in Sucht zu münden pflegt: Zärtlichkeitsbedürfnis, das Bedürfnis, mit einem Menschen zu verschmelzen… So unvermittelt, so unkontrollierbar brach es bisher allerdings noch nie über Felix herein. So seltsam losgelöst von seiner Person oder von dem, was er als seine Person empfindet.
Früher pflegte Felix zu sagen: ich liebe. Oder: ich bin verliebt. Jetzt werfen ihn seine «Liebeserlebnisse», die wohl nichts anderes als Sexerlebnisse sind, gebieterisch auf ihn selbst zurück, in die tiefste Hölle seiner Einsamkeit, um es einmal etwas pathetisch auszudrücken (wird ja wohl noch erlaubt sein, bei diesem Thema ein wenig in die Tasten zu greifen).
Diesmal trägt er den Namen Hansueli, oder Üelu, wie man im Bernischen sagt, Sohn einer Lehrerin und eines Bauern aus dem berneroberländischen Beatenberg – selbst ein angehender Lehrer. Jung ist er – erst neunzehn. Schön ist er vielleicht nicht, das kann Felix nicht beurteilen, um als schön im klassischen Sinn zu gelten hat er vielleicht zu rote Backen, aber anziehend ist er, sehr anziehend. Sexy. Als Felix ihn das erste Mal sah, den Üelu, da gab es keine Spur des Zweifels in ihm, dass er diesen Jungen haben wollte und dass er ihn auch bekommen würde, aber was heisst da haben wollte, bekommen würde, das klingt ja wie im Supermarkt, es braute sich auf jeden Fall etwas zusammen. Es braute sich etwas zusammen, und nachdem es sich zusammengebraut hatte, war es da und ereignete sich wie ein Gewitter oder fand statt wie ein Naturereignis. Fast könnte man noch sagen, findet statt – bis vor kurzem. Aber jetzt eben nicht mehr.
Zunächst einmal, drei Tage nach dem ersten Treffen, ereignete sich eine «weisse Nacht». Eine weisse Nacht ist ja schon dem Namen nach ein Paradox: Dunkelheit, vibrierend vor Energie, einer fast träge wirkenden, aber unglaublich hohen Energie, die jene, die eine weisse Nacht zusammen erleben, in eine Art Zwischenreich entführt, jenseits von Schlaf und Wachsein. Die beiden bewegen sich schwimmend durch eine weisse Nacht, schwimmend in einem zugleich hellen und zarten weissen Licht. Eine weisse Nacht hat ganz zweifellos mit Sex zu tun, mit einer geballten Ladung Sex sozusagen, aber mit einer Art von Sex, die weit davon entfernt ist, der physische Zusammenprall zweier Leiber zu sein, sondern die mit dem Traum und dem Rausch oder auch der mystischen Verzückung verwandt ist. So eine Nacht war das, nicht messbar an der Zahl der Orgasmen, sondern an dem Zustand eines wellenartig sich fortpflanzenden Begehrens, das durch keinen Orgasmus gelöscht werden kann. Felix hat so etwas in seinem Leben nur ganz wenige Male erlebt.
Danach haben Üelu und Felix sich noch zweimal kurz gesehen. Immer stand das Spiel dieser Energie im Mittelpunkt. Natürlich waren sie überzeugt davon, ineinander verliebt zu sein. Die folgenden zwei Wochen waren sie getrennt. Üelu arbeitete in einem Hotel in den Bergen als Tellerwäscher. Felix arbeitete in der Stadt in einem grossen Buchladen als Bücherverkäufer. Sie dachten aneinander, wie man an etwas Unwirkliches denkt, sie träumten von einander, sehnten sich nacheinander, schrieben sich Briefe, gaben sich Zeichen durchs Telefon. Es war die schönste Zeit ihrer «Liebe». Sie begegneten sich – romantischer Zufall aber auch – auf romantische Art immer wieder: Üelu reitet mit seinen roten Backen und seinem geilen Arsch auf dem Pferd am Landhaus von Felix vorbei und dieser lädt ihn mit einer lasziven luziferischen Geste, die Sünde bedeutet, ein, auf seinen Balkon zu treten, auf dem das Bett mit der seidenen Bettwäsche schon bereit steht, sie bei Vollmond zu empfangen. «Ach du meine Güte», ist man da versucht, auszurufen, oder «oh mein Gott!» Wobei man als gottähnlicher Autor damit ja eigentlich fast sich selber anruft (nein, natürlich nicht so wie Uriella, wenn sie mit Jesus telefoniert).

Es riecht noch immer nach ihm, nach Üelu. Das macht Felix verrückt, hier, in diesem Morbid Room, selbst jetzt. Am Schluss waren sie in diesen vergammelten Räumen selbst etwas ungewaschen. Es riecht nach ihm, dem Rotbackigen, dem Köstlichen, dem Wohlschmeckenden, es riecht nach seinem parfümierten Stängel, es riecht köstlich nach seinem Achselschweiss. Der Anstoss, zusammen in diese «Ferien» in den Jura zu fahren, kam von Üelu. Felix hat sich, nichts ahnend, darauf gefreut. Jetzt kennt Felix den Begehrten, Geliebten noch immer nicht – ausgenommen vielleicht dessen nymphomanische Sexualwünsche –, und er ist weg, fort und weg, wie vom Erdboden verschluckt.

Üelu erwartet Felix am Samstag um zwölf vor dem grossen Buchladen, der heute Bookstore heisst und Filialen in der ganzen Stadt, um nicht zu sagen im ganzen Land oder auf dem ganzen Kontinent und sogar jenseits des grossen Teiches hat, und wir, die gottähnlichen Autoren, hoffen doch sehr, dass das Buch, in dem diese Zeilen stehen, einmal als Weltbestseller in all diesen Bookstores an prominentem Platz in grossen Stapeln angeboten wird. Aber das nur nebenbei. Felix ist den ganzen Morgen fast gestorben vor Ungeduld. Sie grüssen sich und Üelu ist weit weniger erfreut, Felix zu sehen, als dieser es von einem wahrhaft Liebenden erwarten würde. Eh bon! Als Felix den Üelu fragt, wie es ihm denn so gehe, sagst der: nicht eben gut. Das hätte Felix stutzig gemacht, wenn es sich in ihm nicht so dagegen gesträubt hätte, etwas anderes wahrzunehmen als positive Zeichen des Glücks. Aber Felix schliesst auf durchgemachte, durchgesoffene und durchgekiffte Nächte, die Üelu in Montreux mit einer Freundin verbracht haben will. Sie fahren nach Münchenbuchsee in die Seminaristenwohnung von Üelu, wo der ein Ratatouille kocht. Üelu erzählt manchmal ein bisschen von sich. Es gibt Gesprächspausen, die nicht vom Vertrauen zweier Liebender getragen sind. Wieder haben sie – auf dem grossen Bett von Üelu – diese Lust aufeinander und aneinander, die jede Frage überflüssig macht.
Sie trinken im Restaurant «Schmiede» ein Gurtenbier und fahren dann nach Bern zurück. Sie wollen ins Kino, um die seltsamste Gotthelf-Verfilmung zu sehen, die es ja gegeben hat und je geben wird. Der Film basiert auf der Novelle «Die schwarze Spinne». Das Böse, im langbeinigen Untier verkörpert, lauert in der Gegenwart noch immer. Der Emmentaler Dichter schrieb von der Pestilenz, die im Film aus Gründen des Aktualitätsbezuges durch das eben lancierte Waldsterben, durch Umweltkatastrophen und durch Aids ersetzt wird. Im Werk des Schweizer Regisseurs Mark Rissi verfliessen die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit, zwischen Gegenwartsproblemen und überlieferter Sage. Auf der Suche nach «Stoff» haben Drogensüchtige in einem Pharmawerk eine chemische Reaktion mit verheerenden Folgen ausgelöst. Noch können sie das Ausmass nicht ahnen, als sie in einem nahen Hof versuchen, den alten Bauern zu berauben. Und sie können auch nicht verstehen, was der Greis von drohendem Unheil und einer schwarzen Spinne dahererzählt, die jedoch plötzlich als Bild des Verderbens präsent ist. In Halluzinationen beginnt sich für die Jugendlichen das Totentanz-Karussell einer mittelalterlichen Legende von Pest und Tod zu drehen. Unsere Freunde verfügen sich nach dem Genuss dieses von Symbolik überladenenen cineastischen Highlights in die «Casa Siciliana», um sich bei Spaghetti und Wein ein wenig von dem Film zu erholen. Üelu erzählt Felix, seine Eltern würden es gar nicht gern sehen, dass er mit Felix in den Jura fahren wolle. Er erzählt, dass sie seine Homosexualität für eine heilbare Neurose halten würden. Seine Mutter hat ihm einen primärtherapeutischen Artikel zum Thema mitgegeben, den Üelu Felix später vorlesen will. Sie plaudern beim Wein, sind zum ersten Mal an diesem Tag entspannt. Auf dem Heimweg, in den dunklen Gassen, halten sie sich umschlungen, alles scheint gut.
Nach dem Joint in der WG von Felix erleben sie, obwohl Üelu müde ist, eine weitere weisse Nacht. Sie haben sich, bei den Spaghetti und dem Wein, entschlossen, am Sonntagmorgen in eine Predigt der evangelisch-reformierten Landeskirche zu gehen, für die ja auch Gotthelf gepredigt hat, irgendwo auf dem Land – das heisst, Üelu hat entschlossen und Felix will sich ihm anschliessen. Üelu hat Felix nämlich von seinem Doppelleben und seinem Genuss am Doppelleben erzählt. Üelu ist gern verrucht und dann doch wieder scheinheilig fromm, oder auch wirklich fromm, das wissen zwar wir, aber Felix weiss es nicht. Der gute Üelu hat, wir müssen es leider so sagen, ein wenig einen Huren-Madonnen-Komplex (Felix ja auch, wie wir wissen). Keine Stunde schlafen sie in dieser Nacht vom Samstag auf den Sonntag. Sie sind einfach zu geil. Und es ist schön, so geil zu sein. Ja, sie treiben es zusammen, dass es eine Lust ist und selbst Gott der Herr im Himmel einen Ständer bekommt, unsere beiden Huren-Madonnen. Dieses Gefühl, in den anderen zu sinken und mit ihm zu verschmelzen... Und ausserdem macht es ja nur dann richtig Spass, seine Sünden reuig zu bekennen, wenn man auch wirklich schön deftig gesündigt hat (das ist zwar eher ein römisch-kaholischer als ein evangelisch-landeskirchlicher Gedanke, aber seis drum).

Am Sonntagmorgen sind sie beide, obwohl müde, relativ fröhlich. So scheint es Felix wenigstens. Was kennt er schon den Üelu! Sie fahren vorerst nach Lyss, wo sie das Predigtgelübde einlösen, in der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde, zwischen Kindstaufen und Jodlerchörlis, die jodeln, und dem Pfarrer, der sie segnet. Der Pfarrer spricht vom gesunden Baum, der seine Wurzeln tief in den Boden gesenkt hat und seine Blätter dem Himmel entgegenstreckt. Er nimmt damit auch Bezug auf das aktuelle Waldsterben. Üelu ist neben Felix ganz in sich hineingesunken, in schönster Armesünderpose. Er sieht gar nicht so aus, als würde er im Boden wurzeln und seine Blätter der Sonne entgegenstrecken. Felix betrachtet ihn von der Seite und würde nur zu gern wissen, was in dem hübschen, rotwangigen jungen Kopf von Üelu vorgeht.
Dann fahren sie weiter; unterwegs kommt Felix wieder der Schwulenartikel von Üelus Mutter in den Sinn. Üelu sagt, er könne nur schlecht Autofahren, aber er fährt trotzdem ziemlich rasant – und doch fühlt Felix sich sicher neben ihm. Das Wetter ist düster und die Landschaft weckt melancholische Gefühle.



Welcome to Undervelier

In Undervelier ist Üelu, wir können es ihm irgendwie nachfühlen, nicht nur nicht begeistert von Situation und Umgebung, er scheint durch beides verunsichert und deprimiert. Zunächst, im Haus, weihen sie ihre Bruchbude, die sich in einer Indian Lodge befinden könnte, ein, indem sie sich, dreimal dürfen Sie raten, ein weiteres Mal der körperlichen Lust aneinander hingeben. Dieser Umstand, dass sie, wenn sie sich berühren, scharf werden, ist inzwischen schon zum automatischen Reflex geworden. Felix spürt jedoch hinter der offensichtlichen Hingabe von Üelu die Zurückhaltung, was er natürlich nicht wahrhaben will. Üelu sagt denn auch zu Felix, nachdem sie sich erst beglückt haben, Üelu dann in einem «Mad», Felix im verrückten Artikel der verrückten Mutter von Üelu gelesen hat, dass er, Üelu, ihn, Felix, zwar gern habe, dass ihm bei Felix aber etwas Entscheidendes fehle. Er, Hansueli, sei überzeugt gewesen, in Felix verliebt zu sein – endlich in jemanden verliebt zu sein, wie Üelu sich ausdrückt. Aber der Traum sei schöner gewesen als die Wirklichkeit. Der Artikel der Üelu-Mama ist übrigens von einem Janov-Schüler oder von Janov selbst verfasst und diffamiert homosexuelle Beziehungen generell als irreal (Arthur Janov, US-amerikanischer Psychologe, bekannt geworden durch das Buch «Der Urschrei»). Der Verfasser des Artikels geht selbstverständlich von der Annnahme aus, dass Schwule in ihren Partnern die als Kinder vermisste Zärtlichkeit des Vaters suchen würden. Die Begründung dieser «Erklärung» besteht einzig in der Feststellung des Verfassers des Artikels, dass Schwanz und Loch sich biologisch gesehen ideal ergänzen würden (dabei hat der Mann ja auch ein Loch, nicht wahr, und mit dem kann man noch anderes tun als scheissen).
Üelu erklärt Felix, dass er glaube, in dem, was er, Üelu, von ihm, Felix, wolle, lediglich eine irreale Ersatzhandlung zu vollziehen, in dem Sinn, wie sie im Artikel beschrieben sei. Er sagt zu Felix, dass es ihm eigentlich nicht darauf ankomme, wer jene «Ersatzhandlungen» an ihm vollziehe. Die Person sei ihm eigentlich egal – wer ihm Wärme, Geborgenheit, Anerkennung und sexuelle Befriedigung verschaffe, sei ihm letztlich schnuppe. Er gibt Felix damit zu verstehen oder Felix glaubt in dieser Aussage zu verstehen, dass er, Üelu, an Felix als Subjekt nur in sehr beschränktem Mass interessiert ist. So was kränkt natürlich schon ein bisschen. Felix war also für Üelu Vaterersatz, Mutterersatz, Objekt, Fetisch, Wärmespeicher für den Moment. Aber Üelu sagt das so traurig, dass Felix es ihm trotzdem nicht übelnehmen kann.
Felix ist, nach dem sich selbst anklagenden Geständnis von Üelu, einigermassen um Worte verlegen. Üelu fasst diese Wortkargheit von Felix auf seine Weise auf, indem er dieses Schweigen zu Futter für noch mehr Selbstanklage macht und zerknirscht behauptet, er, Üelu, sei ein ganz, ganz, ganz gemeiner Kerl. Das hat Felix keine Sekunde gedacht. Gemein ist Üelu nicht, warum auch. Felix bedenkt in diesem Moment nicht, dass jemand, der sich als gemein bezeichnet, eine geheime Lust daran hat, als gemein zu gelten. Der gütige Vater nimmt den Sohn in die Arme und sagt, verkennend, dass er damit insgesamt eher verliert als gewinnt, dass Üelu schon okay sei, so, wie er sei, und dass er aufhören solle, sich ständig schlecht zu machen, was vielleicht das eine Ich von Üelu tröstet, während es das andere eher reizt.

Auf dem darauf folgenden Spaziergang gibt Üelu Felix zu verstehen, dass er morgen oder spätestens übermorgen abzureisen gedenke. Damit hat Felix zwar schon fast gerechnet, es gibt ihm aber doch einen Stich ins Herz. Er beschliesst, seine Enttäuschung für sich zu behalten, ist aber eher schweigsam, während sie nebeneinander durch eine nebelverhangene Selbstmordlandschaft schreiten und Üelu am Laufmeter nicht eben lustige Freiburgerwitze zum Besten gibt. Felix lacht zwar über diese Witze, aber wie nennt man ein solches Lachen schon wieder? Eher unfroh. Seine Gedanken sind ganz woanders. Am Abend, während und nach dem Nachtessen in der Kneipe unten (Kartoffelsalat und Beinschinken vom Schwein), nach dem Wein, nach dem Bier, nach dem Schnaps, reden sie Englisch miteinander, weiss der Teufel warum. Üelu bleibt Felix ein Rätsel, wenn auch ein anziehendes, begehrenswertes.
Vor dem Einschlafen ein Joint. Danach sind sie sogar zu müde zum Vögeln. Ausserdem ist es für Nacktheit im ungeheizten Zimmert zu kalt. Überhaupt ist es in diesem Schlag verdammt ungemütlich und Felix versteht ja, warum Hanspi morgen wieder wegfahren will. Er selbst möchte ja eigentlich auch am liebsten wieder wegfahren, aber das gibt ihm sein Kopf nicht zu, da kann er stur sein. Am Morgen sind sie wieder so weit, dass sie ihre zwei Körper aneinander reiben wollen, als wären sie zwei grosse Schwänze, die sich verselbstständigt haben (also sozusagen zwei Schwanz gewordene Körper). Dann fahren sie mit dem roten VW nach Saignelegier und über Montfalcon nach St. Ursanne. Üelu erklärt, dass er heute nicht nach fünf fahren wolle, findet die Landschaft einmal mehr bedrückend und erscheint Felix sehr fremd.
Er geht schon etwa um drei Uhr, oder vielmehr: Felix schickt ihn weg. Es gibt eine mehr oder weniger traurige Abschiedsszene, Üelu macht ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter und findet sich einmal mehr gemein, nur, weil Felix die Tränen kommen, aber das will nicht viel sagen, hat Felix doch nun mal nahe am Wasser gebaut. Ein letztes Mal – ein vorletztes Mal – dürfen Felix und Üelu sich gegenseitig trösten in ihrem Weltschmerz. Dann fährt Üelu davon in seinem roten VW-Käfer und Felix kauft sich auf der Stelle zwei Flaschen Bier, wovon er eine sofort und unverzüglich und ohne zu zögern und ohne einmal abzusetzen, also sozusagen im Eiltempo leert. Die andere Flasche säuft er unterwegs weg, während er fluchend, stolpernd, mit sich selbst redend durch die abweisende und düstere Landschaft zieht und Gott sei Dank eh wieder kein Schwein schaut. Er erreicht auf Irrwegen das nächste Dorf und setzt sich da in die einzige Kneipe und betrinkt sich. Es braucht heute nicht viel.



Als Felix anderntags erwacht, ist nichts von ihm übriggeblieben. Er hat keine Persönlichkeit mehr, keinen Stolz, kein Bild, das ihm gegebenenfalls Mut einhauchen könnte. Er denkt: Ich bin ein Versager. Alles, was ich bisher gemacht habe, war fragmentarisch, Zufallsprodukt, hatte nichts mit mir zu tun. Das gebieterische Gefühl, allein zu sein, lastet tonnenschwer auf seiner Seele. Vielleicht ist einzig dieses Gefühl real.
Kurzum, man kann nachvollziehen, in welcher Verfassung Felix sich befindet. Er ist nur noch Spielball, und was mit ihm geschieht, ist ihm momentan egal. Er ist ein Niemand, ein Nichts, eine Null. Er denkt: Was wissen wir schon von den anderen Menschen? Ich weiss so gut wie nichts, und das, was ich zu wissen glaube, wird dauernd verfälscht durch meine Angst, durch die Paranoia, durch die Libido. Ja, Felix ist ein grossartiger Menschenkenner, wie jeder, der das liest, unschwer erkennen kann.
Woran also soll Felix sich heute halten, an welche Träume, an welche Hoffnungen? Da ihm so plötzlich seine momentanen Träume und Hoffnungen abhanden gekommen sind, ist er einigermassen ratlos. Ob Felix nun wirklich gar keine Hoffnungen und Träume mehr hat, wäre von ihm allerdings noch zu prüfen. Aber das ist, nach all dem genossenen Alkohol, leider nicht mehr möglich. Ein Schleier hat sich selbst über den Schleier gelegt.

L’autre jour: Felix unternimmt eine nicht besonders anstrengende Wanderung und fürchtet sich vor Stieren, die aber Gott sei Dank angebunden sind. Er begegnet – abermals Gott sei Dank – auf dieser Wanderung oder auf diesem ausgedehnten Spaziergang nur wenigen Menschen. Dann sehen wir Felix im Hallenbad von Delémont, wo er, in einem verrückten Wahn, einige hundert Meter schwimmt, immer 25 Meter hin und 25 Meter her, schwachsinnig, wobei ihn die schon schräg stehende Sonne manchmal blendet und manchmal auch nicht. Danach sitzt er im Bahnhofbuffet von Delémont und trinkt in erstaunlich kurzer Zeit ein grosses Bier leer. Dazu liest er die letzten Briefe von Katherine Mansfield, die mit 34 an Tuberkulose gestorben ist, offenbar. So langsam beruhigt sich sein Wärmehaushalt, der nun schon einige Stunden zwischen extremer Hitze und lähmender Kälte hin- und herpendelt. Jetzt fühlt er sich besser und ist erstaunt, dass er weder besonders hungrig noch besonders müde ist. Eigentlich ist er blendend in Form. Nur seine Psyche merkt das nicht.
Die Raben kreisen majestätisch oder wie auch immer über die herbstlichen Felder, die Tannen- und Sträucherlandschaft. Plötzlich ist Nebel aufgekommen, und dieser Nebel dampft oder wabert nun, was das Zeug hält. In diesem Nebel wandelt Felix und weiss nicht wohin (das ist jetzt nicht symbolisch gemeint oder bedeutungsvoll dahergeredet, sondern es entspricht einfach den Tatsachen, dass der Nebel so dick ist und Felix deshalb nicht sehen kann, wohin er wandelt. Das heisst, er weiss es natürlich schon oder glaubt es zu wissen, er hat also so eine ungefähre Ahnung und kommt dann auch tatsächlich irgendwo an, und zwar wahrscheinlich in Undervelier in der Gruselpension mit dem Gammelbett, obwohl er da ja gar nicht unbedingt ankommen will. Aber Felix ist eben, wie gesagt, ein Dickkopf, ausserdem hat sich Aurore für morgen angekündigt, sie will sich den morbiden Charme des Weissen Kreuzes nicht entgehen lassen).
Abends im Gammelbett raucht Felix einen Joint und philosophiert, da in der Gruselpension natürlich keine Glotze zur Verfügung steht, die einen einsamen Gast von seinen grausamen Gedanken ablenken könnte, ein wenig vor sich hin. Er denkt: Die Liebe sagt, dass alles zusammengehört. Die Liebe ist das natürliche Gegengewicht zu jenem selbst- und fremdzerstörerischen Zynismus, den nur das Alleinsein kennt. Felix sieht statt eines Fersehkrimis die beiden streiten, den Idealisten und den Realisten in sich. Irgendwo lacht sich ein Dritter halb kaputt. Und irgendwo liegt ein Vierter mit einem schönen Jungen nackt auf einem Bett – es ist kein Gammelbett, oh nein, es ist ein grosses Himmelbett mit seidener Bettwäsche – und empfindet, angesichts des Gefühls, das ihm in den Lenden pulsiert, nur Verachtung für den fruchtlosen Disput der Anderen. An einem Wirtshaustisch, über den Bier geflossen ist, sitzt ein Fünfter und denkt sich durch sein vernebeltes Hirn zu halben Gedanken durch, die ihn scheel angrinsen und dann nachsichtig zu ihm sagen: Du bist mir ja ein schöner Philosoph, du. Per aspera ad astras, wie der Lateiner sagt. Durchs Dunkel zu den Sternen. Das wäre eine Form der spirituellen Erleuchtung. Aber das Vergessen, das die Spirituosen schenken, ist schliesslich auch eine Möglichkeit, das irdische Jammertal zu verlassen – und sei es auch nur für einen Moment.

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