Sonntag, 13. Januar 2008

Fast gelyncht in Poona

1981
-----------
Die 52 Geiseln kommen nach 444 Tagen aus der besetzten US-Botschaft in Teheran frei. Bei einem Flugzeugabsturz kommt der grösste Teil der militärischen Führung des Iran um. Ronald Reagan wird bei einem Revolverattentat schwer verletzt. Seine Administration beendet einen Streik der amerikanischen Fluglotsen, indem sie 12000 von ihnen feuert und die Flugsicherheit durch Soldaten aufrechterhalten lässt. Ohne Rücksprache mit den Verbündeten beschliesst Reagan den Bau der Neutronenbombe. Wegen seiner konservativen Wirtschafts- und Sozialpolitik gerät er unter öffentlichen Druck und muss die grösste Demonstrationswelle in den USA seit dem Vietnamkrieg hinnehmen. In europäischen Hauptstädten (und in Bukarest) kommt es zu Massendemonstrationen gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen.
In Rom wird Papst Johannes Paul II. durch den Türken Mehmet Ali Agca bei einem Attentat schwer verletzt. Als Hochzeit des Jahrhunderts wird die Eheschliessung des britischen Thronfolgers Prinz Charles mit Lady Diana Spencer weltweit mediengerecht gefeiert. Eine Häufung von Aids-Fällen in den USA schreckt die Weltöffentlichkeit auf; Aids wird erstmals durch die amerikanischen Centers for Disease Control erkannt und als Seuche registriert. IBM bringt seinen eigenen, jetzt auch offiziell PC genannten Personalcomputer auf den Markt und mit ihm das von Microsoft stammende Betriebssystem DOS, das zum weltweiten Standard wird. Ein erster Flug des wiederverwendbaren Space Shuttle Columbia (mit Young und Crippen) findet statt, ein zweiter Flug muss abgebrochen werden, weil ein Treibstofftank verloren geht.
Phil Collins landet mit «In The Air Tonight» einen Nummer 1-Hit, das gleiche gelingt Abba mit «Super Trouper» und den Creedence Clearwater Revival mit «Hey Tonight». Derweil sichtet Nina Hagen, mit der musikalisch schon nicht mehr allzu viel los ist, 1981 in den USA ihr erstes UFO.
1981 sterben der ehemalige Rüstungsminister und Architekt Hitlers Albert Speer, der israelische General und Politiker Moshe Dayan, der Filmregisseur William Wyler, die Schauspielerin und Sängerin Zarah Leander, der Chansonnier Georges Brassens und der Boxer Joe Louis. Derweil werden 1981 die Pornodarstellerin Belladonna, der Techno-DJ Amok, die Popsängerin Britney Spears, der australische Tennisspieler Lleyton Hewitt sowie der Filmschauspieler Elijah Wood geboren, der später einmal als Hobbit Frodo in der Verfilmung von Tolkiens «Herr der Ringe» berühmt werden wird.


------------------------------
Fast gelyncht in Poona
------------------------------
Felix trennt sich in Goa von seinen Gefährten, die weiter nach Süden wollen – nach Bangalore, nach Madras, nach Kerala, nach Sri Lanka –, um zurück in den Norden zu fahren, mit dem Schiff nota bene, das ihn der Küste entlang nach Bombay zurückbringt. Felix liebt es, mit dem Schiff zu reisen, er empfindet es als reine Erholung, auf dem Schiffsdeck zu liegen und geruhsam die dschungelartige, üppig grüne Landschaft an seinen Augen vorbeiziehen zu sehen. Er hat etwas Morphium intus und befindet sich in einem vegetativen Zustand. In Bombay bezieht Felix wieder einmal ein vergammeltes Hotelzimmer, in dem gerade mal ein Bett Platz hat. Er schmückt die Zimmer, die er in Pensionen bezieht, jetzt immer mit Tüchern, Bildern und Blumen aus. Er hat das Bedürfnis, sich einzurichten, und sei es auch nur auf kurze Zeit. Dann besorgt sich Felix in einem dubiosen Reisebüro bei einem Inder ein günstiges Flugticket zurück nach Europa. Der Flug ist erst in zwei Wochen. Bezahlen muss er aber schon jetzt, ohne danach eine Sicherheit in der Hand zu haben – das Flugticket könne er nämlich erst am Abreisetag abholen, wird ihm beschieden (Felix ist schon etwas mulmig zumut dabei, aber schliesslich wird alles ganz prima klappen).
Nun hat Felix also noch Zeit für einen Ausflug nach Poona, wo der indische Guru Baghwan Shree Rajneesh in seinem Ashram Hof hält und einen Haufen ausgeflippter Westler in roten Roben und mit der Mala des Meisters um den Hals um sich geschart hat. Schliesslich sind auch einige der WG-Mitbewohner von Felix in Bern Anhänger des Gurus (Swami Premdas – der uns gut bekannte Ernst hat nach Marx und Wilhelm Reich ein neues Idol gefunden –, Swami Satchit, Prem Ananda, und etwas später wird auch Peter zum Swami Nirguno mutieren). In Poona wird Felix zunächst beinahe das Fell über die Ohren gezogen. Er kommt mit dem Zug an, ziemlich breit von einem Klümpchen Rohopium, das er vor der Reise zu sich genommen hat. Rein zufällig trägt Felix die Nationalfarben der Schweiz in Form eines roten Hemdes und einer weissen Hose, und natürlich hat er auch keine Holzkette mit dem Bild des bärtigen Baghwan, der sich ja später, nach einem zahntechnischen Eingriff, die er der Gemeinde seiner Sanyassins als unwälzende dentale Erfahrung kommuniziert, nur noch Osho nennen wird, um den Hals. Gut, Felix tritt also frohgemut aus dem Bahnhofgebäude von Poona und schlendert mit seinem Rucksack am Rücken in die Stadt, als er unvermittelt in eine hinduistische Prozession mit Götterbildern, die auf Elefantenrücken herumgetragen werden, gerät. Das findet Felix zunächst ganz interessant. Bis er merkt, dass die Teilnehmenden auf ihn aufmerksam werden, wohl weil sie annehmen, er sei ein Jünger Baghwans. Und vor allem ist diese Aufmerksamkeit gar nicht freundlicher Natur. Er hört ein Geraune und Gemurre, das sich unmissverständlich zur Beschimpfung steigert. Dann schliesst sich der Kreis der Menge um ihn. Und plötzlich ist Felix von aggressiven Menschen umzingelt. Er bekommt es einmal mehr mit der Angst zu tun. Beschwörend hebt er die Hände und will erklären, dass er in friedlicher Absicht gekommen sei und auch gar nicht zu den Anhängern des Unmoral und zügellose Sexualität verbreitenden Verführers gehöre. Das nützt aber wenig; einige indische Menschen beginnen, an seinen Kleidern zu zerren und nach ihm mit den Beinen zu ginggen, Fäuste recken sich ihm entgegen, Pogromstimmung liegt in der Luft. Doch da wird er im letzten Moment vor Ausbruch expliziterer Gewalttätigkeiten, wie ihm scheint, von zwei, drei beherzten und gutmeinenden Einheimischen energisch aus dem Kreis geführt, sie bringen ihn rasch in eine Seitengasse und raten ihm dringend, sich in Zukunft nicht mehr in roten Kleidern oder am besten gar nicht mehr in der Stadt zu zeigen.



Felix lehrt daraus, dass der Baghwan und seine Anhängerschar in Poona nicht gerade beliebt sind. Warum das so ist, darüber kann Felix nur spekulieren. Er glaubt aber, dass sich die doch allgemein eher prüden Inder vor allem durch den lockeren Umgang mit der Sexualität, den sie mit Baghwan und seiner Bewegung verbinden, provoziert fühlen. Vielleicht empfinden sie den Guru auch als Gotteslästerer, wobei es im Hinduismus ja unzählige Götter gibt und eigentlich für jede mögliche Sorte von Heiligen Platz sein müsste. Eventuell spielt auch eine Prise Nationalismus und somit eine fremdenfeindliche Komponente in die Ablehnung des Meisters hinein, besteht dessen Anhängerschaft doch vor allem aus Menschen westlicher Länder. Die Lehre des Baghwan ist eine Mischung aus östlichen und westlichen Ideen – eine Mixtur aus indischer Mythologie, Hinduismus, Buddhismus und westlicher Psychotherapie. Zudem hat der an einen Nikolaus mit Rauschebart erinnernde Meister auch etwas von einem Dichter und Anarchisten an sich – ist also eher Bakunin als Marx – und er verfügt über einen unergründlichen Humor, den nicht jeder versteht. Man weiss bei ihm nie: Was meint er ernst, was ist als Provokation gemeint? Er liebt es, die Menschen zu verunsichern, ihre mentalen Konzepte durcheinanderzuwirbeln. Mal schweigt er einfach während seiner «Lectures», mal erzählt er einen Witz nach dem anderen. Und dann seine 75 Rolls Royces, die er höchstens dazu benutzt, nicht weiter als zweihundert Meter zu fahren – ebenfalls ziemlich absurd und abgefahren. Geboren wird der Meister 1932 als Rajneesh Chandra Mohanin in Kuchwada, einem kleinen indischen Dorf. Jahrelang ist er Professor für Philosophie und Psychologie an der Universität Jabalpur. Dann wird er, als Erleuchteter, zum Star des Meditationszentrums in Poona. Der Ashram zieht in den Siebzigerjahren Zehntausende von zivilisationsmüden Flüchtlingen aus aller Welt an. Weltweit gründen seine Anhänger Firmen, Restaurants und Zentren. 1981, also kurz nach dem Besuch von Felix in Poona, wird Bhagwan vor der indischen Steuerfahndung in die USA flüchten. In «Rajneesh Puram» in Oregon kommt dann ein weiteres Gesicht der Bewegung zum Vorschein: Machtkämpfe, totale Kontrolle, Chaos, Paranoia (Sheela, seine damalige Vertraute, ist heute übrigens Krankenpflegerin in der Schweiz). 1984 verhaftet das FBI den Bhagwan und versucht ihn, wie dieser behauptet, zu vergiften. Der Guru flieht, nachdem ihn kein anderes Land aufnehmen will, zurück nach Indien, wo er am 19. Januar 1990 stirbt (an den Spätfolgen des Giftanschlags, wie seine Anhänger behaupten, oder an einer Verengung der Herzkranzgefässe).



In Poona besucht Felix zwei- oder dreimal den Ashram von Bhagwan, allerdings als Tagestourist, vor allem, weil er wieder einmal eine hygienisch einwandfreie Mahlzeit zu sich nehmen und eine saubere Toilette benützen will. Felix ist nämlich inzwischen ziemlich abgemagert und auch sonst körperlich nicht auf der Höhe. Hat er am Finger eine kleine Wunde, entzündet sich der zu einer mit Eiter prall gefüllten Wurst. Das ist nicht lustig. Deshalb braucht Felix den Ashram als Ort der Erholung. Er lässt sich aber auch von den Türstehern an der Buddhahalle beschnüffeln, um zwei-, dreimal der Rede des Meisters zu lauschen, von der er jedoch nichts versteht, weil der Meister ausgerechnet jetzt ausnahmsweise auf Hindi zu seinen indischen Jüngern spricht.

--------------------------------------
Die Heimreise ist für Felix wie ein Traum. Frierend sitzt er im Flugzeug, er hat alle seine warmen Kleider verloren oder verschenkt und besitzt noch genau hundert Franken. Beim Zwischenhalt im supermodernen Flughafen von Schardscha mit seinen Luxusgeschäften und der hellen, aufgeräumten Sauberkeit kommt er sich vor wie in einem falschen Film.


Sharja City, allerdings 2007

In Warschau, wo gegen Ende Februar noch immer tiefster Winter ist, kann Felix das Hotelzimmer, das er von LOT zugewiesen bekommen hat, nicht verlassen, weil er erstens Fieber hat und zweitens weder gute Schuhe noch einen warmen Pullover, geschweige denn eine gefütterte Jacke. In Zürich kann Felix es gar nicht glauben, dass er wieder in der Schweiz ist, nach acht Monaten unterwegs. Mit seinem letzten Geld fährt er zurück in die WG nach Bern, wo sich inzwischen in seinem Zimmer ein neuer Mitbewohner eingenistet hat, der sich zunächst weigert, das Feld zu räumen. Felix ist noch knapp 50 Kilogramm schwer (zwanzig Jahre später wird er über dreissig Kilo mehr wiegen), hat Amöben und Salmollen und Würmer, die er sich umgehend in der Polyklinik behandeln lassen muss, wo er den Studenten von erstaunten Ärzten als seltener Fall vorgeführt wird. Aber das spielt alles keine Rolle, auch dass er aus Geldnot gezwungen ist, sofort einen Job auf dem Bau anzunehmen. Felix ist glücklich und stolz: er hat es geschafft, er hat die Reise gewagt und sie überlebt. Felix hat die seltene Gelegenheit, seine Heimat für eine Weile mit den Augen eines Aussenstehenden zu betrachten; er wird sich bewusst, dass die Welt, in der er normalerweise lebt, so etwas wie eine Insel ist und keine Selbstverständlichkeit darstellt, die Allgemeingültigkeit beanspruchen könnte; dass sie eher die Ausnahme ist als die Regel. Zumindest das wird er nicht mehr vergessen. Als Felix einmal nachts im Auto über die Autobahn fährt, ergreift ein fast unirdisches Glücksgefühl Besitz von ihm, die Umgebung ist ihm fremd und vertraut, Fremdheit und Vertrautheit befinden sich in einem exakten Gleichgewicht und Felix fühlt sich gleichzeitig geborgen und frei, er gehört dazu und doch nicht, ist zu Hause und trotzdem unterwegs.

Keine Kommentare: