Mittwoch, 16. Januar 2008

Do you really want to hurt me?

1983
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Nach dem Putsch vom 14. Oktober und der Ermordung des dortigen Premierministers Maurice Bishop besetzen die USA die Karibikinsel Grenada, weil sie Kuba und die UdSSR als Drahtzieher vermuten. Die UdSSR schiesst eine koreanische Verkehrsmaschine in ihrem Luftraum mit 269 Passagieren, davon 69 US-Bürgern, ab. Der Protest ist eher verhalten und der Fall wird im Laufe der Folgejahre heruntergespielt, weil Spionagetätigkeit während dieses Fluges mehr als nur vermutet werden darf. In Polen wird das Kriegsrecht ausgesetzt.
Der Bombenterror im Nahen Osten erreicht einen neuen Höhepunkt – insbesondere gegen US-Soldaten im Bürgerkriegs-Libanon. PLO-Chef Arafat muss das Land nach schweren Niederlagen verlassen. In Italien wird Bettino Craxi erster sozialistischer Ministerpräsident des Landes. Papst Johannes Paul II. besucht sein Heimatland Polen. Der polnische Gewerkschaftsführer Lech Walesa erhält den Friedensnobelpreis. Eine UNO-Kommission errechnet eine Verschuldung aller südamerikanischen Länder in Höhe von 275 Milliarden US-Dollar. Die Illustrierte STERN veröffentlicht die verschollenen Tagebücher von Adolf Hitler, die sich wenig später als Fälschungen des Verkäufers der Story herausstellen. Die Computer-Maus wird erfunden (Apple LISA), und der IBM XT hat als erster PC einen fest eingebauten Plattenspeicher von 10 MB Kapazität. Die ersten erfolgreichen Verpflanzungen menschlicher Embryonen werden vorgenommen, das erste künstliche Chromosom wird erzeugt. Die UdSSR schraubt den Daueraufenthalt im All auf 211 Tage hoch. «Do You Really Want To Hurt Me» – diese Frage wird von der Band «Culture Club» mit ihrem androgynen Front-«mann» Boy George in den Raum gestellt. Nena singt von 99 Luftballons, als wär nichts gewesen, und DÖF behaupten in «Codo»: «Nur die Liebe Liebe Liebe Liebe die macht viel Spass, viel mehr Spass, als irgendwas». «Geier Sturzflug» dagegen beschwören nach Art der Neuen Deutsche Welle das «Bruttosozialprodukt». Paul Young hinwiederum bettelt wunderschön: «Come Back And Stay».
Es sterben 1983 unter anderem die Katze auf dem heissen Blechdach, das siebte Kreuz, der andalusische Hund und die Leitern, die als Feuerband das Himmelsblau durchziehen.






21. Juli

Lieber Etienne
Ich sitze im Zug und der Zug fährt durch ein Gewitter. Am alten Hafen von Marseille ist es bedeckt, aber sehr warm, obwohl es noch früher Morgen ist; der faulige Meerwassergeruch steigt mir in die Nase. Ich sitze im «Parc du Pharao». Links und rechts des Hafeneingangs Festungsmauern, im Hintergrund ein Dom, Schiffswerften, auf einem Hügel die Garnison der Fremdenlegionäre. Geräusche von Schiffsmotoren, ferne Stimmen, Autohupen, Vogelgezwitscher. Der Himmel ist bleigrau, es fallen die ersten Tropfen.

Das Hotel ist nordafrikanisch, billig und ein Loch, aber doch ganz angenehm. Nur, dass das Zimmer kein Fenster hat. Der Himmel ist inzwischen strahlend blau, die Sonne brennt, Afrika. Alles erinnert in dieser Stadt an Afrika, die Menschen, die Menschenmassen, der Lärm, die Musik, der Gestank, die Speisen, der Markt. Die Luft in den Strassen ist zum Ersticken.

Es ist Nacht und es ist sehr heiss, selbst nackt fühl ich mich noch wie zu sehr angezogen. Ich möchte meine Haut ausziehen, ich möchte aus der Haut fahren!

Ich war unterwegs. Eines der Lokale, die ich besuchte, war ein Privatclub, da haben sie mich gar nicht erst reingelassen, zerlumpt und abgerissen, wie ich bin. So ist das in Frankreich, il faut être elégant. Dann war ich in anderen, weniger vornehmen Schwulenkneipen. Ich sah nur Masken, geschminkte und geföhnte Schwulen-Masken. Die törnen mich gar nicht an. Ich bin scharf auf einen, der ist wie du. Ich bin scharf auf dich, ich sehne mich nach dir, nach deiner Haut, nach deinem Geruch, ich sehne mich nach einem Blick aus deinen schönen Augen. Auch wenn es dir gar nicht passt: ich werde mir heute einen runterholen und mir dabei vorstellen, du seist leibhaftig da.



Und jetzt bin in der Nähe von Cassis gestrandet. Eine schöne kleine Bucht. Tagsüber hat es mehr Leute hier, nachts sind wir nur zu zweit. Der andere ist ein junger Belgier, ein netter Bursche und obendrein sexy, aber leider schwärmt er die ganze Zeit von den Mädchen. Am Abend machen wir Feuer, trinken Wein, palavern. Für den Moment bin ich fast glücklich, gelöst – und ich denke zur Abwechslung mal nicht an dich.
Das Dorf selber, Cassis, ja, wie der Likör, ist ziemlich touristisch, ein Postkarten-Abziehbild. Am Morgen gehen wir in diesen Ort zum Kaffeetrinken, zum Einkaufen, schauen den Leuten zu. Der Belgier, dessen Namen ich nicht behalten kann, bewundert die Schönheit der Frauen…



Ich bin auf Reisen, weil ich vor dir geflüchtet bin, vor deinem Desinteresse an mir, vor dem Ende unserer Liebe bin ich geflüchtet, weil du mir es nicht sagen sollst, dass du mich nicht mehr liebst, weil ich das nicht hören will, deshalb bin ich von dir davongerannt. Wenn du mich nicht mehr in deinem Herzen tragen magst, dann kann ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, es wird nichts nützen. Andererseits kann ich auch nichts für meine Verliebtheit.

Ich pfeife ich auf die Liebe. Aber mein Körper brennt vor Verlangen.

Die letzten Tage war ich in jener auf einer sehr banalen Karte erwähnten «Berghütte» in den Calangues. Da hingekommen bin ich per Zufall – ein paar Leute haben mich mitgeschleppt. Die Hütte war voll von Freaks und Späthippies – jenen Gestalten, die man heute fast ausgestorben glaubt. Aber es war schön. Wir haben alles zusammen geteilt, haben zusammen geraucht, Musik gemacht, gekocht und gegessen. Einmal fand ich im Eintopf zwar eine abgeschnittene Fingerkuppe, aber sonst war auch kulinarisch alles okay. Wir haben Wein getrunken und über Gott und die Welt gelabert. Unter anderem wurde die Bielefeld-Verschwörung thematisiert, eine Theorie, die besagt, dass Bielefeld gar nicht existiere und dass alle Personen, die behaupten würden, schon einmal in Bielefeld gewesen zu sein oder gar aus Bielefeld zu stammen, Agenten oder hypnotisierte Opfer der «Organisation» seien, frag mich nicht, welcher, CIA, KGB, Mossad, was auch immer. Und die Mondlandung war auch eine Fiktion. Der Debattierclub bestand aus einer Vollversammlung von jungen und alten schrägen Vögeln aus Deutschland, Dänemark, Israel, Holland und den USA. Tagsüber, tief unten an der felsigen Bucht, war Schwimmen, Schnorcheln, Sonnenbaden und Nichtstun angesagt. Aber plötzlich fiel die Gemeinschaft wieder in alle Himmelsrichtungen auseinander. Die letzte Nacht in der Hütte verdurstete ich fast, wir hatten kein Holz und kein Wasser (und auch keinen Wein) mehr. Wir Althippies sind zwar charmant, aber auch unorganisierte Arschlöcher.



Heute Morgen bin ich, nach einer fast schlaflosen, mückenreichen (und zudem einer sehr nüchternen) Nacht früh aufgestanden und machte mich sogleich auf den etwa eineinhalbstündigen Weg nach Cassis, während die Sonne den milchigen Dunst durchbrach und die Wärme in Hitze verwandelte. Ich wollte weiter – wohin, war mir eigentlich egal. Ich brauchte aber in Cassis lange, um meinen gewaltigen Durst zu stillen. Weit gekommen bin ich nicht, nur bis Toulon. Die Autoschlange war dicht, alles Touristen, ganze Wagenladungen voll. Hat mich jemand mitgenommen, dann nur zwei, drei Dörfer weit. Dazwischen ging ich lange Strecken in der Hitze zu Fuss.

Toulon habe ich – wieder einmal – fast fluchtartig verlassen. Ich rettete mich in den Rausch. Im Zug war es heiss und ich trank ein Bier nach dem anderen. Ich wurde sehr gleichgültig, ja apathisch, um dann, nach Genf, schlagartig zu erwachen – so, wie ich manchmal mitten in der Nacht hellwach werde, hellwach in irgendeinem Schmerz, hellwach wie selten am Tag. Hellwach, vielleicht für eine halbe Stunde, dann ist der Spuk vorbei und ich schlafe erschöpft wieder ein. Ich stand am Fenster und mein Kopf glühte im Fahrtwind, während in meinem Herzen Liebe und Hass, Verzweiflung und Hoffnung, Lust und Schmerz ein lustiges Spiel spielten. Glaub nur nicht, dass ich dabei an dich dachte; ich dachte an Sangria, an Santana, an Paco de Lucia und sogar an Fussball.»

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