Samstag, 2. Mai 2009

Der Rüsselfisch




Er hatte keinen Namen und eine grosse Sehnsucht. Er war der einzige seiner Art, weshalb wir hier von ihm auch nicht einfach sagen können, er sei ein Pferd, ein Elefant, ein Tiger, ein Kamel oder ein Kakadu gewesen. Nennen wir ihn also Rüsselfisch.
Ich muss zwar zugeben, dass die Wahl dieses Namens etwas willkürlich sein mag. Eine grosse Ähnlichkeit mit einem Fisch hatte er nämlich nicht. Auch kann man nicht behaupten, dass da etwas Rüsselähnliches an ihm runter gehangen hätte. Er war, im wahrsten Sinn des Wortes, unvergleichlich. Ihr werdet vermuten, dass Rüsselfisch sehr einsam war, so allein und einzig. Aber da liegt ihr daneben. Man kann sich, logischerweise, nicht nach Zweisamkeit sehnen, wenn man ein singuläres Exemplar einer Gattung, wenn man eine Gattung im Kleinen, sozusagen, im sehr Kleinen sogar, wenn der Ausdruck hier erlaubt ist – man kann sich also nicht nach Zweisamkeit sehnen, wenn einem das Schicksal nie die Chance gab, die Idee der Zweisamkeit in sich überhaupt zu entdecken und in der Praxis zu erproben.
Immerhin hatte Rüsselfisch so seine dumpfen Ahnungen, und die eingangs erwähnte Sehnsucht, die allerdings richtungslos war, gehörte zu seinem Lebensgefühl. Rüsselfisch wünschte sich zwar keine Zwei- oder Mehrsamkeit, konnte sie sich gar nicht wünschen, das mochte aber nicht zu verhindern, dass er sich manchmal sehr unzufrieden fühlte oder ein Gefühl in sich verspürte, das einer normalen Unzufriedenheit sehr nahe kommt. Immer, wenn dem so war, begann er, sich im Kreis zu drehen – die einzige Lebensäusserung, zu der der Erbarmenswerte fähig war.
Ihr dürft nicht glauben, dass Rüsselfisch eine abstrakte Idee von mir sein, eine Ausgeburt meiner Fantasie, ein Hirngespinst. Er ist, ich schwöre es, ein reales, konkretes, lebendiges Wesen, so wie ihr und so wie ich. Er hat Energie in sich, Lebensenergie, die es ihm erlaubt, sich im Kreis zu drehen. Er ist Materie, belebte organische Materie in diesem Raum und dieser Zeit. So wie ihr. So wie ich. Auch wenn er sonst keine Gemeinsamkeiten mit uns teilt. Gewiss, er kann sich im Raum drehen, und das können wir auch, man denke nur an gewisse Formen des Tanzes wie etwa an den Tanz der Derwische oder die Polka. Aber wir können daneben auch essen, herumgehen, ein Buch lesen, die Zähne putzen, uns an unanständigen Stellen kratzen, Bier trinken, wir können reden und demzufolge auch schweigen, wir sind wach und verschlafen etwa einen Drittels unseres Lebens, wobei „Verschlafen“ so negativ klingt und das ist nicht gemeint, ganz im Gegenteil. Wir haben die Träume, den Wein, die Kunst, das Fernsehen, die Bratwurst und den Sex, um uns über die Widrigkeiten des Lebens hinwegzutrösten. Wir haben es gut. Rüsselfisch hat es etwas weniger gut getroffen.
Wobei man das natürlich nicht sicher wissen kann. Wer kann schon in einen anderen hineinsehen? Es ist alles blosse Vermutung, Annahme, Spekulation. Man kann ja als Mensch mit Rüsselfisch nicht einmal annähernd kommunizieren. Er hat nämlich keinen Mund, kann also weder reden noch essen. Arme hat der Arme auch keine (oder muss es heissen „die Arme“? Ein Geschlecht hat – einigen wir uns auf „es“ – nämlich auch keins). Ebenso wenig Beine. Nichts, was einem Gesicht auch nur andeutungsweise ähneln würde. Eigentlich ist er bloss ein Klumpen, ein Haufen belebter Materie. Und alles, was er damit anfangen kann, ein Haufen belebter Materie zu sein, besteht im Maximum darin, sich um sich selbst zu drehn.

Ihr werdet euch nun fragen, wie Gott (oder wer oder was auch immer) die Grausamkeit besessen haben kann, ein solches Lebewesen in die eh schon beschissene Welt zu setzen. Ich weiss, diese ewigen Sinnfragen, diese Warums und Wozus, die ja doch nie jemand schlüssig beantworten kann, hängen euch langsam zum Hals heraus. Geht mir doch genau so! Aber wenn es um den Rüsselfisch geht, müssen wir auf eine gewisse methodische Strenge bestehen, denn der Rüsselfisch, ihr erinnert euch, ist eben gerade keine abstrakte Grösse. Es gab ihn übrigens, um eine weitere Merkwürdigkeit zu erwähnen, die aber einen ganz plausiblen Hintergrund hat, schon immer. Das muss so sein, rein logisch gesehen. Wenn er der Einzige seiner Art ist, der absolut Einzige, kann er auch keine Eltern haben, oder gehabt haben. Und dass er aus dem Nichts emporgestiegen sein könnte, ist unwahrscheinlich. Dass er aus dem Nichts herausgezaubert worden sein könnte, irgendwann in grauer Vorzeit, glauben höchstens Esoteriker, Fantasy-Spinner. Nichts stiegt einfach so aus dem Nichts empor, das wäre empörend. Sogar der Urknall hat einen Grund, auch wenn der schwer zu verstehen ist. Wer kann sich schon in den Nullpunkt hinein verdichtete Materie vorstellen? Ich nicht, ihr nicht. Etwas, das so dicht ist, dass es keinen Platz mehr braucht, scheint uns absurd. Genauso wie die Behauptung einiger Astonomen – Astronomen, nicht Astrologen! -, dass man mit einem Supersupersuperteleskop in die Vergangenheit hinaus- oder zurückzuschauen vermöge. Nein, ich halte die Möglichkeit, dass Rüsselfischs Entstehung auf den Urknall zurückzuführen sei, für eine durchaus vertretbare Hypothese.
Er weilt jedenfalls schon sehr lange unter uns, länger, als wir uns das vorstellen können – man braucht ja nicht gleich den Begriff „Ewigkeit“ zu bemühen. Vor dem Erscheinen der Dinosaurier auf diesem Planeten drehte er sich schon im Kreis, wenn er ärgerlich oder unzufrieden war (um seinen Gefühlszustand in menschlichen, also unzulänglichen Kategorien zu umschreiben). Die Ursuppe war noch am Köcheln, da war er schon da.
Es gibt weitere Fragen. Zwar war er schon immer da, oder so gut wie schon immer, aber wird er auch ewig bleiben? Zu wünschen ist es ihm nicht. Der Gedanke an eine solche Unsterblichkeit wäre unerträglich.

Wo ist Rüsselfisch? Wo war er und wo wird er sein? Er haust überraschend konkret: Nämlich in Ihrem Keller. Oder vielmehr: in meinem Keller. Nein, ich besuche ihn nicht. Er braucht ja nicht gefüttert zu werden. Hat ja keinen Mund, wie gesagt. Ist unglaublich genügsam, wie gesagt. Hat keinen Mund, kein Maul, keine maulähnliche Öffnung, um zu fressen, wovon er sich ernährt, oder vielmehr erhält, ist ein weiteres Wunder der Natur. Rüsselfisch machte, macht keinen Lärm, es sei denn, dass er sich dreht, und das kommt alle paar Jahre mal vor, ist also ganz pflegeleicht. Eigentlich war, ist er ein ganz angenehmer Mitbewohner und Zeitgenosse. Nur, dass ich nicht mehr in meinen Keller geh, wo sich noch ein paar ganz gute Flaschen Wein inzwischen wohl in Essig verwandelt haben. Trotzdem bin ich mir immer bewusst: Er ist da. Ich weiss nichts über ihn, obwohl er in meinem Keller wohnt – das beschäftigt mich manchmal. Ich weiss zum Beispiel nicht, ob er wirklich nicht weiss, wonach er sich sehnen soll. Weshalb ich auch nicht weiss, ob er zu bemitleiden ist, oder ich. Trotzdem denke ich, dass er nicht viel zu lachen hat, da unten in meinem Keller. Wir haben, wie gesagt, immerhin den Wein, die Träume das Nasenbohren. Und er hat nicht einmal etwas vom Essig vor seiner Nase.

Meine Damen, meine Herren: dem ist nichts hinzuzufügen. Und sollten Sie heute Nacht vom Rüsselfisch träumen, dann denken Sie daran, dass es vielleicht wieder einmal Zeit wäre, in den Keller zu steigen. Nehmen Sie kein Licht mit, gehen Sie nackt. Reden Sie mit ihm, flüstern Sie ihm Liebenswürdigkeiten ins Ohr. Vielleicht versteht er Sie ja doch. Und wenn nicht: Tun Sie es Ihrer eigenen Seele zuliebe, Streicheln Sie ihn. Vielleicht hat er das gern. Vielleicht tut es ihm gut. Sicher tut es Ihnen gut. Und fressen kann Rüsselfisch, er, sie oder es, Sie ja nicht

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