Freitag, 8. Mai 2009

Das Märchen vom König, der vielleicht gar keiner war




Es war einmal ein überaus reicher und mächtiger Mann, der König eines grossen Landes war, der alles besass, was man nur besitzen konnte zu jener Zeit, der alle nur denkbaren Erfahrungen gemacht hatte und der alles Menschenmögliche wusste. Und dieser Mensch war noch immer nicht zufrieden. Denn es gab ein Gebiet, und zwar ein riesiges Gebiet, das er nicht zu beherrschen vermochte und das auch nur besuchsweise zu betreten ihm bisher unmöglich war: das Reich der Zukunft. Das ärgerte den König sehr, und er dachte Tag und Nacht darüber nach, wie diesem Übelstand abzuhelfen sei und wie er n das Land der Zukunft gelangen und wie er es später sogar erobern könnte. Er sass Stunde um Stunde über philosophische Werke gebeugt, was sonst gar nicht seine Art war. Aber alles Lesen half nichts, die Tür zur Zukunft tat sich um keinen auch noch so klitzekleinen Spalt auf. Das ganze Leben ist eine Reise in die Zukunft», was sollte er auch damit anfangen. Dieser bescheidene, alllmähliche, schrittweise Zugang mochte etwas für seine Untertanen sein, keinesfalls aber war er einem König wie ihm angemessen. Er verbrannte die Bücher und befahl sämtlicvhe Zauberer, Magier und Alchemisten des In- und Auslandes zu sich.
«Wer mich ins Land der Zukunft führt», liess er verkünden, «bekommt die Hälfte meines Reichs.» Worauf die Zauberer, Hexer und Alchimisten ihn mit grosser Hingabe umzauberten, umhexten und alchemisierten, denn jeder wollte natürlich die Hälfte des Königreichs erhalten und sie gaben ihm eigenartige Kräuterteemischungen zu trinken, fütterten ihn mit heiligen Pilzen und rieben seinen königlichen Körper mit übelriechenden Salben ein, wodurch er zwar regelmässig in andere, ihm bisher verschlossene Räume seiner Seele geriet, aber niemals in den Raum oder vielmehr, bildlich gesprochen, die riesengrosse Halle der Zukunft. Da wurde der König, seiner Art entsprechend, zuerst wütend, dann aber erfasste ihn eine bisher nicht gekannte Verzweiflung. Er wusste jetzt, dass er alles andere als allmächtig war und dass ihn im Grunde nicht sehr viel von seinen Untertanen unterschied – nur, dass diese im Allgemeinen viel zufriedener waren als ihr armer, geplagter König, der als Einziger das Ausmass menschlicher Beschränktheit erahnen konnte und sich des Eingeschlossenseins im Kerker der Gegenwart bewusst war. Der König fühlte, wie sich eine definitive Einsamkeit seiner Seele bemächtigte. Da halfen all die jungen Gespielinnen und Lustknaben nichts.

Nach einem sinnlos vertanen Tag, an dem der König sich selbst und alle anderen genervt oder gar gequält hatte, geschah es, dass er einen Traum hatte. In diesem königlichen Traum erschien ihm ein Mann, der ihm aufs Haar glich. Auch er war ein König, reich und mächtig und klug, ein Bruder, ein Zwilling gar.
«Was willst du?» fragte der König unwillig und irritiert, «wer bist du?»
«Das weißt du doch», anwortete der andere spöttisch. «Ich weiss, was dein Begehren ist und kann es dir verschaffen. Aber ich verlange einen hohen Preis.»
«Was es auch sei, es sei dir gewährt», sagte der König ganz aufgeregt, «ich biete dir mein halbes Reich.»
«Dein halbes Reich?» lachte der andere. «Du musst verrückt sein. Glaubst du, ich gebe mich mit halben Sachen zufrieden?»
Der König erschrak ein wenig ob dieser klaren Worte, überlegte sich aber dann, wie unglücklich er ja trotz seines prächtigen Königreichs war und im Übrigen das Reich der Zukunft noch viel prächtiger und grösser zu sein versprach.
«Ich werfe mein ganzes Reich in die Waagschale», entschied er sich.
Da lachte der andere noch lauter und noch gemeiner. «Lächerlich», sagte er, «was soll ich mit diesem lächerlichen Reich, das dir ja ohnehin nicht wirklich gehört? Nein, so billig kommst du nicht weg.»
«Was willst du denn noch?» stöhnte der König auf, «mehr habe ich wirklich nicht zu bieten.»
«Si, mehr hast du also nicht zu bieten? Na, denk doch mal nach!»
Das tat der König, und zwar so sehr, bis ihm der Kopf schmerzte. Was ist, dachte er nach, mein Leben denn noch wert, wenn ich die Wahrheit über das Reich der Zukunft nicht erfahre?»
«So biete ich dir denn in Gottes Namen mein Leben», fasste der König seine Überlegungen zusammen.

Diesmal lächelte der andere nur, beinahe wohlwollend. «Ah, clever. Aber damit legst du mich natürlich nicht herein. Ich will dir auf die Sprünge helfen. Es ist ganz einfach: Du gibst mir deine Vergangenheit und bekommst dafür meine Zukunft.»
Noch bevor der König erleichtert auf dieses, wie ihm schien, günstige, ja geradezu unverschämt preiswerte Angebot eingehen konnte, weckte ihn ein näher kommendes Tosen und Schütteln und Krachen brutal aus seinem Traum. Und während er aufrecht in seinem prunkvollen Himmelbett sass und sich seine wache Aufmerksamkeit nach und nach in Panik verwandelte und er verzweifelt nach seinem Kammerdiener Johann rief, wurde es dunkler und dunkler und dunkler um ihn.

Oder war das nur ein neuer Traum, in den er fiel?

Keine Kommentare: