Dienstag, 19. Mai 2009

Das misanthropische Wohnzimmer. Ein Krimi




Zufrieden horchte es in sich hinein. Diese himmlische Ruhe! Dieser köstliche Frieden! Diese wunderbare Menschenlosigkeit des Interieurs!
Endlich, dachte das Wohnzimmer, sind wir die uns vom Menschen aufgezwungenen Funktionen los. Das ist die Rückeroberung des reinen Seins!

Aber wir greifen vor. Ausserdem sind Sie, liebe Leserinnen und Leser, wohl kaum an allgemeinen philosophischen oder existentiellen Überlegungen eines Wohnzimmers interessiert. Oder haben Sie sich schon mal die Frage gestellt, was in Ihrer Wohnung geschieht, wenn weder Sie noch Ihre Freundin oder ihr Freund oder ihre Kinder oder Hunde oder wer oder was auch immer zu Hause sind, mithin die Wohnung ganz sich selbst überlassen ist? Haben Sie sich schon überlegt, ob Ihr Bett oder Ihr Sofa, die auch eine Chaiselongue sein mag, Sie vermisst, wenn Sie nicht in oder auf ihm liegen? Rücken im von Gott und den Menschen verlassenen Wohnzimmer die Tische und Stühle näher zusammen, herzen und küssen sich etwa gar die Polster oder flippen die Vorhänge an den Fenstern aus, weil sie nicht mehr einfach immer bloss so da hängen mögen? Lesen sich womöglich die Bücher in den Büchergestellen lautlos gegenseitig was vor, beginnen die Tassen im Schrank zu tanzen, weil sie nicht alle Tassen im Schrank haben? Und erst die Lebensmittel! Lebensmittel existieren auch nicht einfach so im Vorrats- und im Kühlschrank vor sich hin. Da ist Leben, Geheimnis, fortwährende alchimistische Verwandlung! Und was geschieht eigentlich im Innern des Fernsehers, wenn er ausgeschaltet ist?

Ich weiss, Sie wissen es nicht, es interessiert Sie aber auch nicht. Es interessiert Sie keine Bohne. Sie wollen eine Geschichte hören, Sie lechzen nach dem angekündigten Krimi, der wohl ebenfalls schon lange irgendwo in der uns umgebenden Atmosphäre irgendwie darauf gewartet hat, empfangen und umgesetzt und, verzeihen Sie mir die pompöse Ausdrucksweise, gleichsam erlöst zu werden.

Nun denn. Es handelt sich bei unserer Geschichte wie gesagt um die Geschichte eines Wohnzimmers. Ein Wohnzimmer ist wie eine Person, nur anders. Die Unterschiede sind ja fast offensichtlicher als die Gemeinsamkeiten. Ein Wohnzimmer kann nicht herumlaufen, zum Beispiel. Ein Wohnzimmer kann nicht entscheiden, was in es hinein gestellt oder gar gestopft wird. Es kann sich auch seine Bewohner nicht selbst aussuchen. Wobei wir schon fast bei den Gemeinsamkeiten wären. Denn: das können wir Menschen auch nicht in jedem Fall. Denken Sie nur an die Bakterien oder Viren. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen einem Wohnzimmer und Ihnen, also uns, besteht darin, dass auch Wohnzimmer Gefühle haben. Jedem sensiblen Menschen ist das klar. Jeder von Ihnen, der nur ein bisschen Einfühlungsvermögen besitzt, wird sofort einsehen, dass ein Wohnzimmer ebenfalls Vorlieben und deshalb auch Abneigungen hat. Das mag Sie zwar nicht interessieren – obwohl es Sie mit Blick auf die nun bald folgende Geschichte schon interessieren sollte –, es leuchtet Ihnen aber unmittelbar ein. Manche Wohnzimmer können gewisse Besucherinnen und Besucher, die in es eindringen, es gewissermassen penetrieren, und erst recht gewisse Bewohnerinnen oder Bewohner, die sich in ihm einnisten, nicht ausstehen. Ich möchte wetten, dass Sie sich das noch nie überlegt haben. Und da ich fast sicher bin, dass auch Sie über so etwas wie ein Wohnzimmer oder zumindest eine wohnzimmerähnliche Räumlichkeit verfügen, sind Sie mir sicher dankbar, dass ich Sie mit diesem nicht nur originellen, sondern vielleicht eines Tages auch nutzbringenden Gedanken bekannt gemacht habe.

Nun gut! Am 1. Juli 2007 ziehen die neuen Mieter also ein. Ein heisser Tag, dieser 1. Juli, nebenbei erwähnt, zwar nicht zu heiss, um ehrlich zu sein, aber trotzdem eine Katastrophe.

Sie müssen sich das einmal vorstellen: Da lebt ein Wohnzimmer seit über zwanzig mit einer Bewohnerin zusammen, mit der es sich einigermassen verträgt. Zwanzig Jahre sind auch für ein Wohnzimmer eine Zeit, die lange genug ist, um sich an etwas zu gewöhnen. Deshalb leidet das Wohnzimmer an diesem 1. Juli denn auch an so etwas wie Trennungsschmerz. Sie können sich sicher vorstellen, dass für ein Wohnzimmer die Trauerarbeit eine noch viel schwerere Aufgabe ist als für uns Menschen. Wohnzimmer können nicht weinen. Aber das nur nebenbei.

Sie müssen es sich vorstellen. Da lebt man mit jemandem zusammen (es handelt sich dabei, wie gesagt, um die bisherige Bewohnerin, eine alte Frau und leider vor kurzem verstorben) – man lebt also mit jemandem zusammen, der fast gar nicht stört. Es ist ein wenig wie mit Ihnen und Ihrem Blinddarm, falls Sie den noch haben – bis er entzündet ist. Die Frau, um nun ihren Darm wieder zu verlassen und zur Geschichte zurückzukommen, ist ein sanftes, schon etwas von wohltätiger Senilität eingetrübtes Gemüt. Sie sitzt auf der altmodischen Couch und streichelt ihre Katze. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Wohnzimmer und kommen sogar mit der Katze, die Sie bewohnt, gut aus. Schon fast paradiesisch! Diese ebenfalls bejahrte Katze ist nicht mehr allzu wild und von tadelloser Strubenreinheit. Sie zerkratzt auch keine Wände. Zweimal pro Tag kommt der Mahlzeitendienst. Studenten, junge Männer, bringen Ihrer alten Frau das Essen in glänzenden Aluminiumbehältern. Was immer diese auch enthalten – es ist genau das Richtige, um der alten Frau kleine Entzückensschreie zu entlocken, und sie kann sich nicht genug an der Galanterie ihrer Wohltäter erfreuen. «Nein, diese Überraschung!÷ ruft sie immer wieder aus. Sie schäkert kokett mit den jungen Burschen, und als einer ihr gar die Hand küsst, wird sie beinahe ein bisschen übermütig. Manchmal hört die alte Frau auf einem altmodischen Grammophon Schallplatten: alte Schlager. Die Frau singt mit brüchiger Stimme mit. Sie glaubt, man schreibe immer noch das Jahr 1925. Sie ist überzeugt, ein zweiundzwanzigjähriges Mädchen zu sein – ein verdammt scharfes, attraktives Mädchen, das dauernd den entzückendsten Herrenbesuch bekommt. 1925 waren Sie und das Wohnzimmer aber wahrscheinlich noch gar nicht auf der Welt. Der Geburtstag des Wohnzimmers ist der 12. Mai 1939, kurz vor dem Krieg.
Stellen Sie sich vor, wie sich die Frau jeden Abend vor dem Schlafengehen einen kleinen Sherry genehmigt, den sie stilvoll aus einem Kristallglas nippt, und wie sie sich frivol vorkommt dabei.
Mit der Sauberkeit hält es die Frau wie mit der Gegenwart: sie kümmert sich nicht darum, und Ihnen als Wohnzimmer ist das mehr als recht. Sie bleiben dadurch weitgehend von Staubsaugerlärm und giftigen Chemikalien verschont. Alle paar Tage allerdings kommt die resolute Tochter der Frau, um aufzuräumen, auszulüften und ein wenig sauberzumachen. Da sie ihre närrische Mutter aber offensichtlich nicht lange erträgt, sind diese Besuche zwar unangenehm, aber zu ertragen. Erst viel später entwickeln Sie, das Wohnzimmer, dem man damit einen gewissen kriminalistischen Spürsinn nicht absprechen kann, die Theorie, dass diese unmögliche Tochter ihre an sich robuste Mutter womöglich vergiftet hat. Sie haben nämlich beobachtet – Wohnzimmer schlafen nicht –, wie sich die Tochter, die von der Sherry-Liebhaberei ihrer Mutter wusste und sie natürlich nicht billigte, mehrmals unauffällig an der Sherryflasche herumhantierte und dem Sherry etwas hinzufügte.

Und jetzt, heute, an diesem 1. Juli, diesem Leidenstag, will diese schreckliche und vielleicht sogar verbrecherische Tochter mit ihrem Mann und ihrer Brut also in das Wohnzimmer einbrechen, über das Wohnzimmer hereinbrechen wie eine biblische Plage! Sie hat nämlich nicht nur das Wohnzimmer und die Wohnung, sondern das ganze Haus geerbt. Was diesem Tag voranging, war schon schlimm genug. Nicht nur, dass all die alten, gewohnten Kameraden wie das weinrote Sofa, die Standuhr und das deckchengeschmückte Buffet entfernt wurden. Es wurden auch die Tapeten brutal und rücksichtslos heruntergerissen und ein grauenhaft stinkender Spannteppich verlegt, sodass das Wohnzimmer kaum mehr atmen kann. Wie verrückt wurde gebohrt, herausgeschlagen und hineingemauert und gehämmert und gemalt. Das Wohnzimmer stöhnte und ächzte innerlich, sehr innerlich ob dieser Tortur. Am liebsten hätte es sterben wollen. Aber Sie müssen sich vorstellen, dass Ihnen als Wohnzimmer auch die Gnade des Freitodes verwehrt ist.

Und nun dieses grässliche Mobiliar, mit dem es angefüllt wird. Geschmacklos, stillos, kalt. Fliessbandmöbel von Möbel Pfister oder Ikea ohne Charakter, ohne Persönlichkeit und ohne Geschichte! Mit denen kann ich unmöglich verkehren, denkt das Wohnzimmer. Alles, was diese Möbel können, besteht darin, die miefige Spiessbürgerlichkeit, die unerträgliche Mittelmässigkeit ihrer Bewohner zu repräsentieren! Es ist zum heulen, oder eben: es wäre zum heulen, denn Wohnzimmer weinen ja nicht.
Aber alle Möbel sind eher zu ertragen als schreckliche Menschen. Die Familie besteht nicht nur aus der unmöglichen Frau, der Tochter der Verstorbenen, sondern auch noch aus einem womöglich noch unmöglicheren Mann und mit Sicherheit noch viel unmöglicheren zwei Söhnen im Alter von sieben und neun. Da könnte man, überlegt sich das Wohnzimmer, wirklich zum Misanthropen werden. Wenn man nicht schon einer wäre.
Die Frau erweist sich jetzt, wo sie nicht mehr nur Besucherin, sondern Bewohnerin oder vielmehr Besetzerin oder Usurpatorin im Gelände des Wohnzimmers ist, als definitive Putzteufelin. Nie hat man seine Ruhe. Dauernd ist sie am Wischen und Waschen, Fegen und Saugen, Putzen und Pützeln. Natürlich spart sie nicht an Chemie. Die Luft wird mit Tannnadeldeo und ihrem ewigen Schimpfen und Klagen geschwängert. Man könnte meinen, es handle sich bei dieser Ordnungs- und Sauberkeitssache um eine Staatsaffäre erster Güte. Unerträglich. Wie Atlas trägt sie das Chaos der ganzen Welt auf ihren Schultern. Ununterbrochen schreit sie hinter den beiden Rotzbengeln her, die natürlich ebenso ununterbrochen Schmutz und Unordnung verbreiten. Wenn nicht geputzt wird, dann wird aufgeräumt und umgestellt. Das geht schliesslich auch den Möbeln, die ja nicht von der allerfeinsten Sorte sind, derart auf die Nerven, dass sich mit der Zeit so etwas wie eine solidarische Abneigung zwischen ihnen und dem Wohnzimmer gegen die lästigen Bewohner entwickelt, wovon diese aber nicht die geringste Kenntnis nehmen. Sie sind mit sich selbst beschäftigt. Wenn abends Vater von seinem anstrengenden Bürotag nach Hause kommt, gibt es wegen irgendwelcher Kleinigkeiten Streit. Mutter wird angegiftet, weil das Bier zu warm und das Essen nicht warm genug ist. Vater wird zurechtgewiesen, weil er nach Zigarettenrauch stinkt. Die quengelige Jungmannschaft, die sich den ganzen Tag über von Trickfilmen und Kinderschokolade ernährt hat, ist nicht an den Abendbrottisch zu locken. Die ganze heile Familiengeschichte endet schliesslich einmütig vor dem Fernsehapparat, wo sie dann alle vier hocken und in die Kiste glotzen. Abend für Abend muss der Fernseher diese glotzenden Blicke mehrere Stunden lang ertragen. Man kann sich vorstellen, welche Hassgefühle das missbrauchte Gerät dabei entwickelt.
Als wieder einmal endlich Ruhe herrscht, was jeweils so gegen Mitternacht der Fall ist (an den Wochenenden jeweils später), kommt man im Wohnzimmer während einer historischen Stunde in stummer Einhelligkeit überein, dass etwas zu geschehen habe, und zwar bald. Immerhin lässt man sich Zeit für den perfekten Plan. Etwa ein halbes Jahr nach dem Einzug der netten Familie schlägt die Zwangsgemeinschaft «Wohnzimmer und Inventar» zu.

Start für die Umsetzung des Plans ist der frühe Nachmittag. Die Frau des Hauses muss gerade noch rasch ein paar neue Putzmittel einkaufen, und die Jungmannschaft sitzt wie immer vor der Fernsehkiste und schaut «Unsere kleine Farm». Der Fernseher beginnt, ganz heiss vor Aufregung zu werden, als er realisiert, dass nun die Stunde Null oder der Punkt X gekommen ist. Während der Werbepause, als der Kinderschokoladespot anlief, schlug er zu. Die Kids liebten Milchschnitten. Er macht seine Mattscheibe ganz gross und lässt die Kinderschokoladenlandschaft mit den fröhlichen Kinderschokoladenkindern in den allerschönsten Farben erstrahlen, und die Kinderschokoladenkinder jubeln und locken und werfen ihre farbigen Baseballmützen in die Luft. Dazu erklingt eine fröhliche, ja ausgelassene Musik, und bunte Luftballons steigen in den Himmel. Welches Kind hätte da widerstehen können! Wie von unsichtbaren magnetischen Fäden gezogen, nähern sich die beiden Knaben dem farbenfrohen Trickfilmparadies, der Fernseher macht sein Maul noch etwas weiter auf – und schon sind sie weg, die Kleinen.

Diese wahrhaft übermenschliche Anstrengung kostet den Fernseher zwar eine Bildröhre, aber der erste Teil des Plans ist nun verwirklicht. Alles hat bestens geklappt. Das Wohnzimmer und seine anorganischen Bewohner jubeln auf ihre Art, die Menschenart nicht ist: lautlos und innig, unbemerkt von der Frau des Hauses, als diese von ihrer Einkaufstour am Ort des Geschehens auftaucht. Sie ist ein wenig verwundert, dass die beiden Buben nicht mehr vor dem Fernseher sitzen, denn so etwas hat sie noch nie erlebt. Probeweise stellt sie ihn an, und als zwar der Ton, aber kein Bild erscheint, hat sie zwar eine Erklärung für das Unerklärliche gefunden, aber auch einen zusätzlichen Grund, sich aufzuregen. Diese Saukerle haben den Fernseher kaputt gemacht! Das gibt wieder Krach mit Vati. Und da der Fernseher kaputt ist, müssen die Jungen in ihrem Zimmer sein, um Computerspiele zu spielen oder Kassetten von DJ Bobo zu hören oder sich zu streiten. Aber sie sind auch nicht in ihrem Zimmer, und nun ist sie ernsthaft beunruhigt. Was wird Vati sagen, wenn nicht nur der Fernseher kaputt, sondern auch noch die Kinder verschwunden sind! Und immer, wenn sie beunruhigt ist, muss sie etwas tun. Genauer: Sie muss putzen. Meister Proper ist nicht das erste Mal ihre letzte Rettung.

Nun hat die Stunde des Wohnzimmers geschlagen. Aus jeder Ecke flüstert, haucht, seufzt es mit gewissermassen unkörperlicher, immaterieller, aber deshalb nicht weniger vernehmbarer Stimme: «Wir siiiiind schmutzig! Putze uns! Wir sind in Unordnung! Mach uns heil!» Die Vorhänge rascheln: «Wir sind gelb, wir sind grau!» Die Bilder jammern: «Hängt uns gerade!» Die Möbel stöhnen: «Wir brauchen Politur!» Das Parkett ächzt: «Ich bin zerkratzt!» Die Gegenstände im Buffet – Geschirr, Bücher, CDs, Videobänder, Nippes – heischen vielstimmig: «Räum uns auf!» Ein schrecklicher Lärm ist im Kopf der Frau. Sie rotiert, dreht sich um die Achse, weiss nicht wo anfangen, wo wehren. Ein Schwindel ist in ihrem Kopf, und Panik will Besitz von ihr ergreifen. Nie, nie, nie wird alles in Ordnung sein! Das dunkle böse Chaos war unausrottbar, lauerte immerzu unter der Oberfläche. Diese schreckliche Ahnung durchzuckte sie wie ein Blitz.
Doch siehe da, es erschien geichsam aus dem Nichts eine rettende Kraft. Meister Proper persönlich nimmt ihre Angelegenheiten in die Hand. Er ist wie von einem inneren Licht erleuchtet. Sie sinkt auf die Knie, und er lächelt gütig auf sie herab. «Hilf mir!», haucht sie. «Gib mir die Hand, ich führe dich!» sagt er mit dunkler, wohlklingender Stimme. Als sie seine nach ihr ausgestreckte, gelb phosphoreszierende Hand ergreift, empfindet sie eher ein Wärme- als ein Tastgefühl. «Es wird alles gut!» flüstert er ihr ins Ohr, während sie zu tanzen anfangen. Ihr wird leicht zumute. Wie lange schon hat sie nicht mehr getanzt! Die sphärische Musik liegt wie ein Hauch, wie ein wohliger Geruch in der Luft. Und während sie tanzen und tanzen, wird auch die Frau immer durchscheinender, immer unirdischer, immer blasser. Schliesslich ist da nur noch eine grünliche, gelbliche Ahnung des tanzenden Paares im Raum, ein leiser Hauch von perfekter Sauberkeit, bis sich die Erscheinung schliesslich ganz aufgelöst hat.

Ehrfürchtige Stille, einem Atemanhalten gleich, liegt im Raum. Dann löst sich die Spannung in ungeheuren, allerdings für menschliche Ohren unhörbaren «Ahs» und «Ohs». Die Bewunderung im Wohnzimmer ist schier grenzenlos, der stumme Applaus über die kreative Kraftentfaltung des Wohnzimmers gleichzeitig lautlos und tosend. Das Werk ist nun beinahe vollbracht.
Als der Mann nach Hause kommt, wundert er sich über die Ruhe in der Wohnung. Er weiss nicht, ob er sich freuen oder ärgern soll. Genussvoll pfafft er eine Zigarette nach der anderen und lässt die Asche provokativ auf den Teppich fallen. Dann genehmigt er sich einen Schnaps, wenn sich die Gelegenheit schon einmal gibt. Natürlich macht er sich Gedanken über den Verbleib seiner Gattin und der Kinder. Es ist nicht das erste Mal, dass sie nach einem heftigen Streit unangekündigt eine Reisetasche packte und mit den Kindern zu ihrer Schwester nach Stuttgart fuhr. Aber dieses Mal hat es am Vorabend keinen besonders heftigen Streit gegeben. Will sie ihn wirklich verlassen? Das würde aber seinen Stolz verletzten. Um sich abzulenken, macht er den Fernseher an und flucht, als kein Bild erscheint. Er trinkt noch ein paar Gläser mehr und wird immer wütender. Ihn mit einem kaputten Fernseher sitzen zu lassen! Das ist die Höhe. Nicht mal einen Brief, eine Nachricht hat sie ihm hinterlassen. Der Mann, so ganz auf sich selbst geworfen, wird immer wütender und immer betrunkener. Denen werde ich es zeigen! brüllt er. Die bring ich um! Zu spät, zu spät, echot es von den Wänden. Der Mann trinkt den Schnaps nun aus der Flasche und beginnt, nur um etwas zu tun, Geschirr auf den Parkettboden zu werfen, das unter stummen Entsetzensschreien auf dem gewachsten Parkettboden in tausend Stücke zerschellt. Da sieht der Mann im Spiegel über dem Buffet einen Mann. Das ist er selbst, ohne Zweifel. Das ist er selbst, und das ist er auch wieder nicht. Er schaut sich diesen Kerl mit den rot unterlaufenen, schon reichlich besoffenen Augen an. «Du bist ein verdammtes Arschloch», sagt die Figur im Spiegel, «du bist ein Versager! Schau dich doch an. Ein jämmerlicher Waschlappen bist du. Dein Leben besteht nur noch aus Gewohnheiten. War es das, wovon du in deiner Jugend geträumt hast? Seit fünfundzwanzig Jahren gehst du, abgesehen von den Ferien, Tag für Tag ins Büro, buckelst vor dem Chef, erledigst einen Job, der dich ankotzt, und wozu? Um nach der Pensionierung in den Sarg zu hüpfen, in die Grube zu fahren? Deine Ehe ist nicht mehr als geteiltes Unglück, du liebst deine Frau nicht und deine Frau liebt dich nicht. Das ist auch kein Wunder. Wie sollte man ein Ekel wie dich lieben? Du hast keinen Charme, keinen Witz, nur mässige Intelligenz, siehst nicht gut aus, im Gegenteil, du bist der allerhässlichste Mann auf Gottes Erdboden, und dein Charakter ist alles andere als über jeden Zweifel erhaben. Bist du wenigstens gutmütig? Nein, du bist hinterhältig, missgünstig, kleinlich und gemein. Deine Söhne werden dich, wenn sie nur ein wenig älter sein sind, verachten. Nein, sie werden auf dich scheissen. Und sie haben Recht. Du bist ein Kerl, den man verachten, auf den man scheissen muss. Du bist einer, den man prügeln, schlagen und hauen muss!» Der Mann hört seinem Spiegelbild entgeistert zu, unfähig, sich zu regen, etwas zu sagen oder zu tun. Und als der besoffene Kerl im Spiegelbild seine Faust hebt und zuschlägt, lässt er es wehrlos geschehen. Die Wucht des Schlags wirft ihn um, und unglücklicherweise fällt er so, dass er mit dem Hinterkopf auf der spitzten Kante des Glastisches aufschlägt. Er ist sofort tot.

Das war Arbeit. Das Wohnzimmer und seine Genossen atmen schier hörbar auf. Immerhin, es ist geschafft. Sie dürfen stolz sein – und sie sind stolz. Nun wird endlich wieder Ruhe einkehren.

Als später der Kommissar im Trenchcode im Wohnzimmer steht und sich die Vorgänge zu erklären versucht, ahnt er schon, dass dieses Verbrechen bei den Akten der ungeklärten Fälle landen wird. Er hat das einfach im Urin. Er fühlt sich ausgesprochen unwohl, unwillkommen in dem Wohnzimmer. Er kann es sich nicht erklären – aber die Atmosphäre im Raum strahlt deutlich Feindseligkeit aus. Was mag in diesen vier Wänden bloss vorgefallen sein? Der Kommissar weiss es nicht. Wir aber wissen es. Ich weiss es, und Sie wissen es jetzt auch und, falls der Komissar zufällig diese Zeilen lesen sollte, dann ist er nun ebenfalls aufgeklärt. Und wenn Sie heute Abend nach Hause kommen, dann denken Sie vielleicht daran, dass Sie gut beraten sind, mit ihrem Wohnzimmer auf freundschaftlicher Basis zu verkehren.

P.S. Dem Wohnzimmer und den Möbeln hat der Kraftakt letztlich wenig gebracht. Die Ruhe war von kurzer Dauer. Die nächsten Mieter waren zwar nicht gar so grässlich, aber auch nicht so leicht umzubringen.

P.P.S. Bis jetzt werden wir noch nicht gesponsort. Sollte aber jemand (eine Firma, meinen wir) Interesse an einem Product Placement haben – bitte kontaktieren Sie uns.

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