Donnerstag, 1. November 2007

Tunis, im November




(Bildlegende: Sbeitla, einstmals Sufutela; Constantine)

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Tunis, im November
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Ihre letzten Tage haben Felix, Allan und Tom auf den Spuren der Römer verbracht, in den Ruinenstädten von Sbeitla, Maktar, Kasserine und Bulla Regia: Einsame Totenstädte unter Wolkengebirgen in einer einsamen und kargen Gebirgslandschaft, durchtost von Wind und Regen. Zerbröckelnde Triumphbögen, einstürzende Theater, Überreste von prachtvollen Mosaiken in unterirdischen, noch gut erhaltenen Villen, bizarre Bilder, Wolken- und Sonnengemälde hinter halben Säulen, kopflose Marmorhelden, verwitterte Mauerreste. Kleine Jungen, die ihnen «echte» römische Münzen verkaufen wollen, very cheap; kleine schwarze Skorpione unter losen Steinplatten.

Inzwischen hat auch die Neckermann-Reisgruppe aus Stuttgart in ihrem Bus in Sbeitla Halt gemacht. Schon von weitem sehen die Touristen aus Deutschland bei der Anfahrt den riesigen Triumphbogen des römischen Kaisers Diocletian. Der Reiseführer erklärt: «Sbeitla, das römische Sufetula, ist eine der grössten archäologischen Stätten des Landes mit unzähligen Ruinen römischer Tempel und Bäder, einem Theater, frühchristlichen Kirchen und byzantinischen Festungen. Sufetula scheint eine spätrömische Gründung zu sein und wurde wahrscheinlich unter Kaiser Vespasian (69 bis 79) aufgebaut. Ab dem 3. Jahrhundert sind für Sbeitla christliche Bischöfe bezeugt, danach wurde Sufetula eine byzantinische Festung. Dann wird der Name dieser Stadt bis zum Ende der byzantinischen Epoche nicht mehr erwähnt, als sie um das Jahr 660 herum der Byzantiner Gregor zur Hauptstadt eines vom Karthager Verwaltungsdistrikt unabhängigen Imperiums ernennt. Das ist sie allerdings nur für kurze Zeit, denn Gregor wird besiegt und von den Arabern getötet. Die Stadt Sufetula wird zerstört und gerät in Vergessenheit.»

Doch während die Neckermann-Reisegruppe ihre Rundreise durch das römische Tunesien fortsetzt, sind unsere Freunde bereits wieder in Tunesiens Metropole eingetroffen, wo Allan und Tom auf ihr Visum für Algerien warten. Sie logieren im Hotel «Almacar» bei der Medina. Felix trifft hier einen unvorsichtigen Deutschen, der gleich an seinem ersten Tag in Tunis seiner Checks und seines Passes beraubt wird und dem am zweiten Tag seines Urlaubs in Tunesien gleich ein weiteres Malheur passiert: ein tunesischer «Freund» haut ihm in einer dunklen Gasse eins auf den Schädel, und zwar so, dass er immer noch eine geschwollene Backe hat, und nimmt dem jungen Deutschen auch noch das wenige tunesische Geld ab, das ihm geblieben ist. Der arme Kerl ist völlig fertig, und Felix lädt ihn zum Essen ein.
Die Generation der jungen Tunesier ist verunsichert; entfremdet der moslemischen Tradition, geblendet von der «Zivilisation» des Westens, stehen sie irgendwo dazwischen; Geld, der Wunsch, es zu besitzen, wird zur treibenden Kraft vieler junger Tunesier, denn ohne Geld kann man, wie das Beispiel der «westlichen» Touristen zeigt, nicht «europäisch» sein, das heisst, europäische Kleider tragen, europäische Schallplatten kaufen etc. Felix spricht auf dieser Reise immer wieder mit Jugendlichen, die ihm fast alle das gleich sagen: sie wollen keine Afrikaner oder Moslem oder Tunesier sein, sondern Europäer – offenbar aus einem falschen Minderwertigkeitkomplex heraus, an dem die Touristen, halb verachtete, halb bewunderte, jedenfalls als notwendig empfundene Wesen, nicht ganz unschuldig sind – einfach durch ihre Gegensätze schaffende Präsenz.

Am 2. Dezember fahren sie von Tunis aus der algerischen Grenze entgegen. Das Wetter ist schlecht, es ist bedeckt und kalt, und als sie den tunesischen Zoll passierten, ein kleines Häuschen ohne Elektrizität, in dem die Beamten frieren, beginnt es zu regnen. Die algerische Zollstation hingegen macht einen geradezu luxuriösen Eindruck, dafür arbeiten die Zöllner umso langsamer. Durch eine Gebirgslandschaft kurven unsere Freunde dann gemächlich auf Sidi Abbès zu, die erste grössere algerische Stadt auf ihrem Weg. Gegen Abend beginnt es gar zu schneien, und die Strasse wird glitschig. Weit und breit ist kein anderes Fahrzeug sichtbar – er herrscht eine etwas unheimliche Atmosphäre in der leeren Nachtlandschaft und sie haben den schneeigen Sturmwind im Ohr. Die deutsche Neckermann-Reisegruppe ist heute nach Deutschland zurückgeflogen.

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Welcome To My Nightmare
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Um etwa 21 Uhr erreichen sie Sidi Abbès; sie sind alle drei ziemlich müde und eigentlich reif für ein kuscheliges warmes Bett. Es hat zwar vier Hotels im Ort, die jedoch besetzt sind oder von denen behauptet wird, sie seien besetzt, denn heute sei Markttag, wie man ihnen erklärt, und die Leute aus den umliegenden Dörfern, Bauern und Gemüsehändler, würden in der Stadt übernachten. Es bleibt ihnen also nichts anderes übrig, als weiter zu fahren und es im nächsten grösseren Ort zu versuchen, der Gelma heisst und etwa 60 Kilometer, also nicht alle Welt, wie ihnen scheint, von Sidi Abbès entfernt gelegen ist. Um Tom, den Fahrer, wach zu halten, erzählt Allan aus seinem Leben: Vom Haus seiner Mutter, einer grossen Villa, und wie dort gelebt wird; von seiner Arbeit als Hotelmanager und was er – ganz dem Klischee entsprechend – so erlebt hat mit in Toronto gastierenden Popstars wie Elton John oder den «Who», die ein Loch in die Wand brachen, weil zwei Zimmer nicht, wie gewünscht, eine Verbindungstür aufwiesen, die besoffen und auf Drogen das Mobiliar vollkotzten und die Vorhänge dazu benutzten, sich den Arsch zu wischen, und vom Schockrocker Alice Cooper, dem Sohn eines evangelischen Pfarrers, der mit schöner Regelmässigkeit die Möbel zu Kleinholz schlug und so weiter und so fort. (Ungefähr ein Jahr vorher geriet Alice übrigens ungewollt in die Schlagzeilen, nachdem ein Fan einen seiner Bühnentricks nachstellte und dabei umkam. Mit neuen Mitmusikern nimmt er 1975 «Welcome To My Nightmare» auf. Die Platte markiert den letzten kreativen Höhepunkt, denn danach geht es steil bergab. Seine Popularität sinkt entgegengesetzt proportional zu seinem Alkohol-Konsum, was immer wieder Aussetzer nach sich zieht. Die opulenten Bühnen-Shows dienen dabei nur noch dazu, die fehlenden Ideen zu übertünchen. Es dauert jedoch noch bis 1978, ehe er sich dazu entschliesst, einen Entzug zu machen. Die Erfahrungen in der Klinik finden auf dem im selben Jahr auf den Markt kommenden «From The Inside» ihre musikalische Verarbeitung. Danach wird Alice Cooper immer mal wieder in der Versenkung verschwinden, um dann, getreu dem Motto, dass Todgesagte länger leben, ein Comeback zu erleben – bis heute, wo Alice immerhin fast 60 ist.)
Über solchen Geschichten treffen sie endlich in Gelma ein. Aber es sieht so aus, als sei das ein ebenso ungastlicher Ort wie Sidi Abbès. Tiefste Provinz. Sie begegnen auf der Strasse einem Spanier, der hier arbeitet und im einzigen Hotel am Platz wohnt und sich als letzter Bewohner von Gelma noch draussen herumtreibt, schliesslich ist es auch schon elf Uhr nachts, die Bürgersteige sind hochgeklappt und es herrscht Grabesstille im Ort. Das sind die Freuden des Reisens! Der Spanier führt unserer Freunde zum Hotel, aber dessen Tür ist abgeschlossen und in der «Reçeption» brennt kein Licht. «Das Personal schläft meist schon, wenn ich abends nach Hause komme», erklärt der Spanier und poltert an die Tür – er ruft und poltert, aber nichts regt sich. Der Spanier drückt an der Tür herum – die muss doch zu öffnen sein! Und wirklich – ein bisschen Druck genügt. Im «Entrée» machen sie zuerst einmal Licht, mal schauen, wo sich das diensthabende Personal verkrochen hat. Aha, im Glasverschlag liegen sie am Boden und schlafen selig und träumen ganz bestimmt nicht von den Segnungen des Kapitalismus, denn vom Kapitalismus hat man im Algerien des Jahres 1975 ganz bestimmt nicht auch nur den Hauch einer Ahnung. Der Spanier schüttelt sie, schreckerfülltes Aufwachen, verklebte Augen, in denen sich bald ein verärgerter Ausdruck zeigt. «Habt ihr noch ein Zimmer frei für die drei da?» Nein, es sei alles besetzt, gibt einer mürrisch zur Antwort, sie sollten sich zum Teufel scheren, das sei aber auch keine Art, zu nachtschlafender Zeit.
Da stehen sie nun also wieder im Regen, müde, hungrig und kalt bis auf die Knochen. Weiterfahren? Das wäre mörderisch bei diesem Wetter, ausserdem kann Tom kaum mehr die Augen offen halten. «Versucht es doch auf dem Polizeiposten», gibt ihnen der Spanier als guten Rat mit auf den Weg, bevor er sich in sein warmes Bett verkriechen darf. Natürlich, wieso nicht auf dem Polizeiposten schlafen, in solchen Situationen scheint einem keine Lösung zu absurd. Die drei erschöpften Reisenden suchen also den Polizeiposten und finden ihn tatsächlich, können aber auch da nicht im Ernst erwarten, dass man sie mit Begeisterung empfängt. Tut man auch nicht. Der diensthabende Beamte ist skeptisch. Unsere Freunde erklären sich: die Situation ist so und so. Fassen Sie sich ein Herz, Monsieur le Colonel, gewähren Sie uns Herberge für eine Nacht, müde Wanderer klopfen an ihre Tür. Der Diensthabende will es sich überlegen. Erst kontrolliert er aber ihre Pässe, fragt sie nach dem Woher und Wohin – Ordnung muss sein. Schliesslich kratzt der Beamte sich unschlüssig hinter dem Ohr und kommt dann zu einem Entschluss: «Ich werde den Chef fragen. Der ist jetzt auf Streife, kommt aber bald.» Sie dürfen sich setzen. Immerhin ist es hier trocken und warm. Nimmt mich nur wunder, was der Chef im menschenleeren Gelma so sucht, wenn er auf Streife ist, denkt Felix. Der Chef kommt, nicht bald zwar, aber immerhin, schüttelt ihnen die Hand. Sie haben Glück und den leutseligen Typen erwischt, der ganz die Freundlichkeit in Person ist, vor allem, nachdem man ihn mit Monsieur le Général angesprochen hat. Man führt sie in einen Raum, der wohl der Ausnüchterungszelle unserer christlichen Breitengrade entspricht, aber Ausnüchterungszellen brauchen die hier ja wohl nicht, nur schon deshalb nicht, weil es in diesem Kaff keinen einzigen Laden gibt, in dem man sich etwas Anständiges zu trinken besorgen könnte. Egal. Hauptsache, die Ausnüchterungszelle, die eigentlich keine sein kann, ist geheizt und unsere müden Wanderer können endlich in ihre Schlafsäcke kriechen und die Glieder strecken. Schlafen!

Doch am nächsten Morgen werden sie bereits um fünf Uhr wieder geweckt. Denn jetzt weht ein anderer Wind. Der Chef hat gewechselt, und der Neue ist nicht vom leutseligen Typ. Der braucht keine dahergelaufenen Ausländer auf seinem Polizeiposten. Draussen regnet es immer noch in Strömen. Felix, Tom und Allan trinken in einem windschiefen und zugigen Teehaus einen lauwarmen Tee und fahren dann weiter, nach Constantine. Au revoir tristesse, bonjour tristesse. Unerwartet taucht die Stadt im kahlen, düsteren Land vor ihren Augen auf. Sie gleicht einer heruntergekommenen französischen Provinzstadt und ist von nicht zu überbietender Hässlichkeit, Felix stellt sich vor, dass Clermont Ferrand in den Fünfzigerjahren etwa so ausgesehen haben muss, an einem schlimmen Novembertag, obwohl Felix noch nie in Clermont Ferrand war und schon gar nicht in den Fünfzigerjahren. Fehlen nur die Michelinreifen. Man hört keine Musik, sieht auf keinem Gesicht ein Lächeln, nicht einmal der ausgelassene Kinderlärm jeder nordafrikanischen Stadt ist zu vernehmen; die Gesichter der Leute haben einen missmutigen, ja gequälten oder gar verzweifelten Ausdruck. Das Gedränge im Herzen der Stadt ist dermassen gross, dass Felix kaum atmen kann; ein Anflug von Panik streift ihn. Die Armut der Menschen von Constantine präsentiert sich ungeschminkt und nackt an diesem Dezembertag: verkrüppelte, bis auf die Knochen abgemagerte Bettler, die in ihren durchlöcherten Fetzen vor Kälte zittern, mit schmerzhaft verzerrten Gesichtern. Es kommt Felix so vor, als wäre es für die Menschen in Constantine schon Glück – oder Unglück – genug, den heutigen Tag überhaupt zu überleben. Felix hat den Drang, aus diesem tristen Ort zu fliehen. Seinen Freunden geht es offenbar genauso, und so fahren sie weiter nach M’Sila, das zwar auch nicht gerade der Garten Eden ist, aber immerhin ein Elendsort von überschaubarer Grösse, und suchen wieder einmal ein Hotel. Und tatsächlich, hier finden sie endlich eine Bleibe, und was für eine: ein zugiges Dreckloch mit müffelnder Bettwäsche und Fenstern, die sich nicht richtig schliessen lassen, von einer Heizung ganz zu schweigen. Aber sie sind sich ja inzwischen schon Schlimmeres gewohnt und ergeben sich ohne Murren in ihr Schicksal. Immerhin müssen sie feststellen, dass sich Algerien ihnen bisher als eine Schönheit präsentiert, die mit ihren Reizen allzu sehr geizt. Sie beschliessen deshalb, dieses Land so schnell wie möglich zu verlassen.

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