Sonntag, 28. Oktober 2007

1975: Dichtung und Wahrheit in Florenz und Kairouan



.................................................................................................................................................................................................................(Bildlegende: Die grosse Moschee von Kairouan. Am 21. Dezember 1910 schrieb Rilke folgende Zeilen aus Kairouan an seine Schwester Clara: „Ich bin für einen Tag herübergefahren in die ‚heilige Stadt‘ Kairouan, nächst Mekka der große Pilgerort des Islam, den Sidi Okba, ein Gefährte des Propheten, aufgerichtet hat in den großen Ebenen und der sich aus seinen Zerstörungen immer wieder erhoben hat um die ungeheuere Moschee herum, in der Hunderte von Säulen aus Karthago und allen römischen Küstenkolonien zusammengekommen sind, um die dunklen zedernen Decken zu tragen und die weißen Kuppeln zu unterstützen, die heute so blendend vor den grauen,nur da und dort aufreißenden Himmeln stehn, aus denen der Regen fällt, nach dem man seit drei Tagen geschrieen hat. Wie eine Vision liegt die flache weiße Stadt da in ihren rundzinnigen Wällen, mit nichts als Ebene und Gräbern um sich, wie belagert von ihren Toten, die überall vor den Mauern liegen und sich nicht rühren und immer mehr werden.Wunderbar empfindet man hier die Einfachheit und Lebendigkeit dieser Religion, der Prophet ist wie gestern, und die Stadt ist sein wie ein Reich...“)

----------------------------------------
Dichtung und Wahrheit in Florenz und Kairouan
----------------------------------------
Nun, theoretisch währt die Liebe zwar ewig, aber das gilt nur für den Moment, während im praktischen, irdischen Leben jede Phase einmal vorbei ist, und Felix verliert seinen Angebeteten nach der Matur ein wenig aus den Augen. Felix arbeitet ein paar Monate lang bei einer Gartenbaufirma, um seine nächste – und erste grössere – Reise zu finanzieren. Diese Reise hat Felix in einem Tagebuch dokumentiert und wir können nun daraus einige Stellen zitieren, wobei wir die werte Leserin und den werten Leser schon jetzt bitten möchten, Gnade walten zu lassen und zur Kenntnis zu nehmen, dass Felix in seinen damaligen Schilderungen nicht immer ganz ehrlich ist. Ob man bei diesen «Geschichtsklitterungen» von Beschönigungen sprechen will, kann oder muss, sei dem Urteil des Publikums überlassen.
Wir ersparen uns die Tagebuch-Schilderungen der ersten Stationen dieser Reise, die Felix etappenweise über Venedig, Florenz, Rom, Neapel und Pompeji nach Palermo führt, von wo aus er per Fähre nach Tunesien übersetzt. Hier nur ein Müsterchen, das zeigt, wes Geistes Kind Felix damals (schon? noch?) ist: «Ich verlasse Venedig um halb zehn und reise während sechs Stunden durchs Apeninnenland, das sich unter einem düsteren Himmel nicht gerade freundlich zeigt. Am Nachmittag komme ich hier in Florenz an, gebe meinen Rucksack, ein unbequemes, schweres Ding, in der Gepäckaufbewahrung ab und verordne mir einen ersten Streifzug durch die Stadt, obwohl ich schon im Zug ein zwingendes Schlafbedürfnis verspürt habe. Mein Gang führt mich zuerst zur Kathedrale, die mich beeindruckt, gerade in ihrer imposanten Einfachheit. Ich sitze auf einer Holzbank, für lange Zeit, und ein Lichtstrahl trifft in einer gewissen Weise auf zufällige Formen und mischt sich in dunklere Farben und erlöst diese aus ihrer Dumpfheit; ein Knabe kniet vor einem Altar und betet, sein Haar schimmert schwarz; selbst die mannigfaltigen profanen Geräusche gieriger kamerabewaffneter Touristen vermag das gewaltige Gebäude zu absorbieren und in Watte zu ersticken; ein Madonnengesicht leuchtet auf und lächelt mir zu, in katholischer Wehmut; alle Materie scheint mir für Momente in grossen Zügen ein- und auszuatmen, und tatsächlich, der Boden beginnt zu schwanken unter meinen Füssen, und, ohne dass ich mich dagegen wehren kann, treten mir Tränen in die Augen, vor Trauer und vor Glück.» Und so weiter, Ende Zitat. Mit dieser Art von Schilderung, die wahrscheinlich nicht einmal ansatzweise seine wahren Erfahrungen und Empfindungen wiedergeben, versucht Felix wohl, an etwas heranzukommen, das er für «poetisch» hält. Diese Absicht ist aber so leicht zu durchschauen, dass uns der etwa zwanzigjährige naive junge Mann doch schon fast wieder sympathisch ist. Jedenfalls sind wir geneigt, ihm diesen Stuss zu verzeihen und ihm, gewissermassen über den Graben der Jahre hinweg, nachsichtig über das damals noch blonde und lange Haar zu fahren.

Richtig interessant wird die Reise aber erst ab der Überfahrt nach Tunis. Wir geben noch einmal dem Zwanzigjährigen das Wort: «Es beginnt schon auf dem Schiff. Ein paar Tunesier verwickeln mich in ein Gespräch, Männer zwischen vielleicht 25 und 35» (also für Felix damals schon uralt), «und beginnen, richtiggehend zu flirten mit mir. Ich bin erstaunt und perplex, freue mich aber auch über die Aufmerksamkeit und mache den Fehler, auf diese Flirterei einzugehen, und schon bald schlagen sie mir vor, mit ihnen auf das menschenleere nächtliche Deck zu kommen, um mir, wie sie sagen, den Mond zu zeigen. Dort fragen sie mich, mit welchem von ihnen ich denn nun wolle. Ich winke vorsichtig ab, denn keiner von ihnen gefällt mir wirklich gut. Aber ich bin wohl zu wenig deutlich (energisches, eindeutiges Auftreten ist nun mal nicht meine Stärke), denn plötzlich küsst mich ein Kerl, der ungefähr wie Anwar-as-Saddat aussieht, stürmisch auf den Mund. Ich schaue daraufhin wohl ziemlich verdattert aus der Wäsche, jedenfalls meint ein anderer, ein Jüngerer, ich hätte halt sagen sollen, dass ich nicht das Mädchen spielen wolle. Wir gehen wieder hinunter in den Passagierraum und ich versuche einigermassen vergeblich, auf einer Bank ausgestreckt etwas zu schlafen. Man könnte nun erwarten, die Araber seien von mir enttäuscht gewesen oder hätten mir mein Verhalten übel genommen, aber nein, am nächsten Morgen lachen sie mich an und unterhalten sich angeregt mit mir. Sadat macht mir noch ein letztes Angebot, indem er mir – für ein bisschen Entgegenkommen meinerseits – freie Kost und Logis in seinem Haus in Tunis anbietet, was ich aber dankend ablehne.»

Mohammed Anwar as-Sadat wird es übrigens bestimmt sein, während einer Militärparade in Kairo im Zuge eines Attentats von einem islamistischen Soldaten seiner Armee – Khalid Islambouli – am 6._Oktober erschossen zu werden. Die Islamisten werden die Ermordung Sadats dann damit begründen, dass ein Herrscher, der andere Gesetze als die der Scharia zur Anwendung bringt, kein Muslim mehr sei und als Murtadd rechtmässig getötet werden dürfe. Zu seiner Beerdigung wird kein einziger arabischer Staatschef anreisen. In Libyen und im Südlibanon wird sein Tod sogar gefeiert und im Iran eine Strasse nach dem Mörder Sadats benannt werden. Das mag daran liegen, dass Sadat als erster arabischer Staatschef das Existenzrecht Israels anerkennt und mit Israel auch ein Friedensabkommen vereinbart, wofür er 1978 – gemeinsam mit Menachem Begin – den Friedensnobelpreis erhält.

Aber zurück von der grossen Weltpolitik zur kleinen Geschichte von Felix, der in seinem Tagebuch fortfährt: «Noch andere Leute lerne ich auf der Fähre kennen: den Kanadier Allan, einen Hotelmanager aus Toronto, und den Amerikaner Tom, einen jungen Fotografen aus Prior Lake, Minnesota, der unter anderem für die Northwest Airlines fotografiert und dessen Traum es ist, eines Tages auf die Big Island von Hawaii auszuwandern, um dort eine Kaffeefarm zu kaufen, einen Ressort für Ökotouristen zu eröffnen und Fotografiekurse anzubieten. Dieser Tom, ein wirklich netter Bursche, nennt einen alten orangefarbenen R 6 sein eigen und bietet uns an, ihn gegen Beteiligung an den Benzinkosten auf eine Tour durch Tunesien zu begleiten.» Felix sagt zu und bildet nun für die nächsten paar Wochen zusammen mit dem zappligen, kurzsichtigen Tom, dessen Augen hinter den dicken Brillengläsern stets neugierig in Bewegung sind, und dem grossen hageren Allan, der mit seinem blasierten Schnauz ein bisschen wie ein steifer englischer Gentleman aussieht, ein zwar nicht gerade unschlagbares, aber doch insgesamt recht gut funktionierendes Team.

Und hier eine Szene im Tagebuch, von der wir wissen, dass sie gelogen ist und sich ganz anders abgespielt hat. Felix schreibt: «In Kairouan bieten sich uns haufenweise ‹Führer› an, die uns die Stadt zeigen wollen. Mohammed, ein sehr hübscher Junge von etwa 17 Jahren, weiches, schwarzumrahmtes Gesicht, gut gebaut in seinem engen Pullover und den Hosen, deren Reissverschluss arg beschädigt ist, lädt uns geradezu von der Strasse weg zu einer Hochzeit ein – und zwar zu seiner Hochzeit, wie er behauptet. (So weit ist der Bericht noch wahr.) Natürlich sollte uns das stutzig machen, aber naiv, wie wir sind, glauben wir ihm, und ich denk noch: Schade, dass der heiratet. Er verspricht uns in blumigen Worten ein echt tunesisches Familienfest und lädt, wie er sagt, laufend neue Leute ein, seine Freunde – in Tunesien werden Hochzeiten aber spontan gefeiert, denke ich. Der Abend und damit das Hochzeitsfest sind jedoch noch weit entfernt. In verschiedenen Lokale schlürfen wir Tee und schmauchen Wasserpfeife und lernen immer neue Mohammed-Freunde kennen. Dann führt uns Mohammed direkt zum Heim, das aus einem Raum für die ganze Familie, einem Kellergemach für Gäste, einem Hof und einem Unterstand für einen uralten Kleinlaster besteht. Im Wohnraum befindet sich die gesamte Verwandtschaft von Mohammed, etwa zehn Personen unterschiedlichen Alters, die Mutter sitzt vor dem offenen Fenster und hat ein Kleines an der Brust, wir schütteln allen reihum die Hand, dann führt uns der angehende Bräutigam in den Keller, wo er uns ein leckeres Couscous-Essen vorsetzt. Nach dem Mahl fahren wir mit unserem Renault in einen anderen Stadtteil zum Hochzeitsfest. Seltsam, dass die Familie davon ausgeschlossen ist. Unser tunesischer Freund verschwindet in einem Haus und erscheint nach ungefähr einer Minute schon wieder – mit der bedauerlichen Nachricht, dass das grosse Fest verschoben werden müsse, da die Musiker, die in einem anderen Dorf wohnten, noch nicht eingetroffen seien. ‹Lassen wir uns den Abend nicht verderben›, meint Mohammed mit ungebrochenem Enthusiasmus, und die Runde durch die Teehäuser beginnt erneut. Um etwa 11 Uhr ist Mohammed müde und bietet uns an, bei ihm unser Nachtlager aufzuschlagen. Also zurück zum Heim von Mohammeds Familie. Er bietet uns im Kellerraum sein ‹Bett› an, ein Holzgestell ohne Matratze, und da legen wir, Tom, Allan und ich, uns zu dritt hin und es ist ziemlich eng. Aber Mohammed hat es noch unbequemer, er legt sich auf den nackten Boden neben die Kerze. Ich liege eingeklemmt zwischen Allan und Tom auf dem Rücken und fühle mich so gar nicht schläfrig. Mohammed ist unruhig am Boden. Ich hebe vorsichtig den Kopf. Mohammed beginnt wild zu gestikulieren, macht Zeichen. Zwinkert mit den Augen, zeigt hinauf Richtung Hof. Was will der Kerl? frage ich mich, obwohl ich es eigentlich ja weiss, denn mein Herz schlägt wie wild. (Bis hierher stimmt der Bericht, aber nun folgt nur noch Dichtung und keine Wahrheit mehr.) Tom und Allan liegen eingemummt und scheinen zu schlafen. Ich muss sowieso noch einmal Wasser lösen, denke ich. Ich husche die Treppe hoch und steh dann in der mondlichtenen Dämmerung des Hofs. Neben der Tür zum Wohnraum der Familie liegt schnarchend der père de famille, zusammengerollt auf einer Wolldecke, Hüter von Haus und Herd. In meiner Aufregung pisse ich literweise, und da taucht auf ein Jüngling in der Blüte seiner Jugend, schön wie die Rosen an Dornröschens Schloss, kommt auf mich zu und streichelt mich zwischen den Schenkeln, ich spüre seine warme Hand durch den Hosenstoff, und als er merkt, dass ich willig bin, führt er mich, kleiner Schuljunge von zwanzig Jahren, an der Hand durch eine niedrige Tür in die ‹Garage›, öffnet vorsichtig leise diebisch die Tür zum Kleinlastwagen, wir legen uns auf die Sitze, die nach altem Leder riechen, dunkel und warm ist’s, dunkel und warm auch die Höhle seines Mundes, wir küssen uns, seine Lippen sind süss und weich und begehrlich, die bis auf etwas Oberlippenflaum noch bartlosen Lippen, brünstig und ungeschickt tasten meine Hände seinen Oberköper ab.» So oder so ähnlich könnte für Felix ein aufregendes sexuelles Abenteuer in Kairouan durchaus beginnen, aber eben: könnte. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Unser Karl May des erotischen Abenteuers getraut sich nicht, obwohl er es sehr gern so haben würde, er zögert und zaudert und lässt die Chance vorüberziehen, während Allan, sein kanadischer Reisepartner, die Gelegenheit beim Schopf packt, so dass vielleicht er erlebt, was Felix später auf Papier zusammenfantasiert, während Felix zum damaligen Zeitpunkt frustriert neben dem schnarchenden, stockheterosexuellen und völlig unerotischen Tom liegt und in irgendeine nichtvorhandene Tischkante beissen könnte vor Wut auf sich selbst.
-------------------------------
Schattengetier und Gespensterwesen
-------------------------------
Anderntags fahren sie über Sousse, Monastir, Mahdia nach El Djem, wo sie das römische Amphitheater besichtigen und beinahe mit zwei Jungen in Streit geraten, die ihr Auto ungefragt «bewacht» haben und nun eine stattliche Summe als «Lohn» dafür haben wollen. Die Jungs machen den kanadischen Gentleman verlegen, indem sie ihm etwas von ihren sagenhaft grossen Schwänzen vorschwärmen und ihn «Horse» nennen.
Die nächste erzählenswerte Episode dieser Reise ereignet sich auf der tunesischen Insel Djerba. Wir lassen wieder das Tagebuch von Felix aus dem Jahr 1976 sprechen: «Bald trennt uns nur noch ein schmaler Wasserstreifen von der Judeninsel – neben Berbern lebt eine jüdische Volksgruppe seit vielen Jahrhunderten auf Djerba, und südwestlich von Houmt Souk befindet sich eine der ältesten und bekanntesten Synagogen der Welt, die Al-Ghriba-Synagoge (die 2002 Opfer eines Anschlags von Al-Kaida-Terroristen sein wird, wie wir als die herausgebende Instanz dieser Geschichten uns zu erwähnen erlauben) –, und wir lassen uns auf einem klapprigen Motorschiff, das schwankt und die beiden Autos, die es geladen hat, abzuwerfen droht, übersetzen nach Djerba. Völlig verändertes Landschaftsbild: Saftige Dattelpalmen mit eben reifen Früchten, Kakteen, struppige Vegetation. Wir schlagen mit unserem alten Renault Nebenwege ein, dem Meer entlang, sammeln Schwämme und futtern Datteln. Irrfahrt nach Houmt-Souk, dem Hauptort der Insel: Immer wieder müssen wir umkehren, weil der Weg vor uns durch Wasserpfützen unpassierbar geworden ist. Die Nacht verbringen wir in der Nähe von Houmt-Souk an einem durch Dünen vom Land abgetrennten Strand, kochen uns eine Gemüsesuppe und sitzen wie schon so oft um ein Palmfeuer herum, trinken Wein und reden schläfrig über dunkle Dinge. Das Rauschen der Brandung, der Novemberwind, der durch die Palmwipfel rauscht, beflügelt unsere Fantasie. Der Vollmond geht auf und erleuchtet die beginnende Nacht. Ich muss – einige Zeit später – allein im Auto hinter den Dünen schlafen, während meine Freunde ihr Zelt auf der andern Seite der Dünen am Strand aufschlagen. Um mein schützendes Blechhaus das meilenweit offene, karge Land, Schatten zwischen den vereinzelt stehenden Büschen, streunende Schakale. Und in der Ferne das träge Raunen des Meers. Und das silberne Gespenstervollmondlicht, in das diese unwirkliche Landschaft getaucht ist. In solchen Nächten kann alles geschehen. Und ich bin ganz allein auf der Welt, ganz allein mit allerlei Schattengetier und Zauberwesen. Man kann sich vielleicht vorstellen, dass ich in dieser Nacht etwas Mühe habe, einzuschlafen. Ich dämmere gerade mal ein bisschen hinüber und beginne augenblicklich, sehr lebhaft zu träumen. Ich träume vom ‹schwarzen Mann› und werde von einer Stimme im Ohr eindringlich davor gewarnt, dieser Gestalt in die Augen zu schauen. Ich höre aber – im Traum – nicht auf diese warnende Stimme, die Neugierde ist stärker als die Angst, ich öffne die Augen – im Traum –, doch da packt mich ein derart gewaltiges Entsetzen, dass ich mit einer gewaltigen Dosis Adrenalin im Blut und mit gesträubtem Haar die Augen tatsächlich öffne, erwache und kurzerhand schnurstracks aus dem Auto hechte. Aber das nützt mir nichts, ich falle bloss von einem Alptraum in den nächsten: Um mich herum, überall in der gespenstisch beleuchteten Landschaft, stehen Tausende von in weisse Gewänder gehüllten Gestalten herum – sie tun nichts, sie sagen nichts, sie stehen einfach da, aber das so deutlich und so real wie nur möglich, vielleicht sind sie sogar noch etwas realer als real, also für meinen Geschmack viel zu real, sodass ich meine Füsse in die Hände nehme und über den Hügel oder vielmehr die Düne, die sich vielleicht zwanzig Meter vor mir in die Höhe erhebt, mehr fliege als renne, ohne auch nur noch ein einziges Mal zurückzuschauen. Am Strand setze ich mich unter die Palme, die neben dem Zelt mit meinen schlafenden Kameraden steht, und versuche, dieses grauenhaften Entsetzens, das mir immer noch in den Knochen hockt, mit der Kraft rationaler Gedanken Herr zu werden, indem ich mir sage: Du hast geträumt, was dich bedroht hat, war in deinem Kopf; du weisst doch, dass du eine lebhafte Vorstellungskraft hast. Du kannst ja nachsehen, ob es sich beim Aufmarsch dieser Geisterarmee um eine Täuschung handelt, höhnt eine andere Stimme in mir. Es ist drei Uhr dreissig und im November um diese Uhrzeit auch am Strand von Djerba verdammt kalt. Der Mond ist inzwischen untergegangen, Abertausende von Sternen leuchten am Himmel über meinem Kopf, aber, logisch, sie wärmen mich nicht. Dann, nach endlos langer Zeit, kommt der Morgen und mit ihm die Farbe und so hat dieses Erlebnis denn doch noch sein gutes, indem ich – neben ungezählten Sonnenuntergängen – zu meinem ersten und einzigen Sonnenaufgang auf dieser Reise komme.»

Felix und seine Freunde fahren von Gabès aus nach Matmata, der unterirdischen Stadt (das heisst, unterirdisch ist sie eigentlich nicht, korrekter müsste man von «unter dem Erdniveau liegend» sprechen), zuerst durch steppenartiges Wüstenland, dann erklimmen sie Hügelchen und Hügel und kommen immer höher: Überblick über unzählbare nackte rötliche Anhöhen, in den Tälern manchmal einige Palmen, eine Oase. Die Wüste ist harte, vernarbte Erde unter dem Fuss. Die Allmacht der Sonne, die hier majestätischer, gewichtiger wirkt als von Felix je zuvor erlebt. Dass die Sonne eine Gottheit ist, leuchtet hier unmittelbar ein. Die tote, beängstigende Stille: kein Vogelpfiff, kein Wasser- oder Windrauschen – und plötzlich ein paar Häuser, eine Tankstelle, ein Laden, in dem man Coca Cola, Fanta und Zigaretten kaufen kann, davor schläfrige Gestalten: Neu-Matmata. Gleich dahinter beginnt die Höhlenstadt.
Auch vor Alt-Matmata hat es eine Tankstelle, das Auto unserer Freunde hat Durst und sie klingeln dem Jungen, der die Tankstelle bedient. Der ist jung und hübsch und Felix beobachtet ihn vielleicht eine verdächtige Spur zu lang, jedenfalls reagiert der sofort mit Augenzukneifen und einer eindeutigen Kopfbewegung darauf. So was ist ziemlich entlarvend. Aber die Reisebegleiter von Felix scheinen nichts davon zu bemerken. Felix ärgert sich über sich, weil er sich beim Gedanken ertappt, dass seine Freunde besser nicht wissen sollen, dass er schwul ist.
Sie stellen ihr Auto beim unterirdischen Hotel ab, wo alte Männer mit Kamelen auf Reitwillige warten. Dann spazieren sie durch diesen kuriosen Ort: das sieht hier aus, als hätten Meteoriten eingeschlagen. Riesenkrater in der Landschaft: der Boden des Kraters dient als Gemeingut der hier lebenden Familien, als öffentlicher Feuer-, Wäsche- und Spielplatz. Um diesen Platz herum angeordnet sind die einzelnen Höhlenwohnungen, die überraschend gut eingerichtet und im heissen Sommer wohl auch angenehm kühl sind. Überall greifen kleine schmutzige Hände nach ihnen: «Come and look my house» – gegen ein geringes Entgelt natürlich, das sie in hennaverschmierte Hände legen.
Von Matmata müssen sie nach Gabès zurückfahren, da sie mit ihrem alten Renault nur noch asphaltierte Strassen passieren können. Das Auto hat ohnehin schon einiges mitgemacht: Staub liegt auf dem orangefarbenen Lack, Sand knirscht in den Bremsen, aber der Motor hält sich gut.
-----------------------
Das Glück der Astronauten
-----------------------
Tozeur, 26. November. Ein heisser Wind führt feinen Sand mit sich, als der grosse blaue Bus von Neckermann aus Stuttgart vor dem Hotel Oasis, Tozeur, einem Paradies aus zweihunderttausend Palmen in der beginnenden Sahara Südtunesiens, zum Stehen kommt. Dreissig zum Teil blondschopfige, zum Teil ergraute und beglatzte Menschen sind froh, ihre Glieder nach siebenstündiger Fahrt mal wieder so richtig durchstrecken zu können. Sie schwitzen zwar und sind erschöpft, unterhalten sich aber, angeregt durch die orientalische, fremdartige Kulisse des Oasenstädtchens, trotzdem angeregt und machen sich gegenseitig auf allerlei Kuriositäten aufmerksam, auf einen alten blinden Mann zum Beispiel, der soeben vorbeigeht und lebhaft gestikulierend unter schmutzigem Turban grimassenschneidend Koranstellen oder obszöne Gedichte rezitiert, oder auf eine schwarzverschleierte Frau, von deren Gesicht überhaupt nichts zu sehen ist – nicht einmal die Augen – und die rasch und scheu den Hauswänden entlang huscht.
Man entschliesst sich, nachdem man das Gepäck dem Hotelpersonal übergeben hat, zu einem ersten Streifzug durch den Ort, um dann am nächsten oder übernächsten Tag die übrigen Programmpunkte abzuwickeln: Kamelritt zum Belvedère, einem Steinfelsen, von dem aus man die ganze Oase überblicken und tief in die Wüste hinein sehen kann und wo einem der Beduine Abdullah ben Said, ein Mann, der die komischste Stimme der Welt hat – hoch, singend – und dessen Lachen dem Gemecker seiner Geissen sehr ähnlich ist, der den ganzen Tag im Sand herumliegt, unter seinem Burnus noch drei Nachthemden trägt und trotzdem nicht schwitzt, der sehr skeptisch allem gegenüber ist, was er nicht kennt, sich aber sonst als die Liebenswürdigkeit in Person erweist, zu horrenden Preisen «Blumen der Wüste» – skurrile Gebilde aus Kristall –, Tücher, Ansichtskarten und Coca Cola aufschwatzt; Besuch des Paradiesgartens, in dem man Granatäpfel-, Zitronen- und Bananenbäume sowie herrliche Blumen und in dessen Zoo man Gazellen, Schlangen, Skorpione und junge Dromedare besichtigen kann…
Doch dies soll – wie gesagt – erst später gemacht werden; vorerst einmal schlendert man in Zweier-, Vierergruppen durch die Hauptgasse und lässt das buntbewegte Leben des Ortes an sich vorüberziehen.

Am Abend, während es immer kälter wird und sie sich einen Pullover nach dem anderen überziehen, sitzen Felix und seine Freunde, die sich auf dem Zeltplatz von Tozeur eingerichtet haben, zusammen mit anderen Reisenden am Palmenfeuer, Zigaretten rauchend, und lernen sich kennen: da hat es unter anderem einen Kanadier, der in Holland lebt und arbeitet, mit seiner Freundin – sie wollen den ganzen Winter über in Tozeur bleiben und haben sich gut eingerichtet, mit Heizung im Zelt und elektrischem Licht in der Palmhütte – sowie einen jungen, selbstverständlich gut aussehenden Franzosen. Sie fühlen sich geborgen, drängen sich in der zunehmenden Kälte aneinander. Später in der Nacht erklimmt Felix mit Tom den Steinfelsen, sie legen sich da auf den Rücken und schauen in den bestirnten Himmel. Anfangs reden sie noch, und Tom schwafelt etwas von fliegenden Untertassen, aber dann werden sie immer stiller. Zu sprechen ist nicht nötig, angesichts dieser Nacht. Es gibt unendlich viele Sterne zu sehen im nächtlichen Himmel über der Wüste, und man kann sich, wie ein Astronaut ohne Raumschiff, auf dem Rücken liegend, in diesen Himmel hineinfallen lassen, immer tiefer. Ohne zu wissen, warum, ist dies ein Moment im Leben von Felix, der ihn vorbehaltlos glücklich macht und der ihn jede Frage und jeden Zweifel vorübergehend vergessen lässt.
Felix träumt, dass er sich zusammen mit anderen Männern und Frauen in einer langen Reihe befindet; es ist dunkel, die Atmosphäre ist düster, und Felix denkt: das also ist der Jüngste Tag. Gott, der Allgewaltige, ist in eine weisse Wolke gehüllt; man sieht ihn nicht, hört nur seine Stimme, die durch die Räume donnert: Wer hat den und den Lebenswandel geführt, fragt sie. Eine Gestalt tritt aus der Reihe vor und Gott spricht: Du bist der erste der gefallenen Engel. Darauf bekommt dieser ein schwarzes Gewand, und Gott fragt wieder: Wer hat den und den Lebenswandel geführt? Worauf eine zweite Gestalt zum zweiten gefallenen Engel erklärt wird und so weiter und so fort. Die Leute links und rechts von Felix bekommen ihre Rolle als gefallene oder reine Engel zugewiesen und erhalten entweder schwarze oder weisse Kleider, und nur Felix, der mit pochendem Herzen auf das Urteil wartet, bekommt keine Gelegenheit, vorzutreten.

Keine Kommentare: