Montag, 29. März 2010

Traurige Jäger (27)

Sie froren beide. Die spärlich bewachsenen Steppe oder Tundra war beleuchtet von einem kalten nördlichen Licht. Ein Gefühl von ungeheurer Weite erfasste einen angesichts dieser Landschaft. Sie standen auf einem Hügel, der sich kaum hundert Meter über die Ebene erhob und dennoch ein majestätischer Aussichtspunkt war. In der Ebene sah man riesengrosse schwarze Vögel durch die Luft gleiten; ihr schauerliches Kra kra gab der Grösse und Weite dieser Landschaft eine durchaus adäquate akustische Dimension. Kleine Wölkchen schwammen zum fernen Horizont dieses weiten Himmels, der über die weite Landschaft gespannt war. Ja, Ehrfurcht rührte die beiden angesichts dieser Landschaft und berauschte ihr Herz; eine schmerzliche Sehnsucht, toska, angoisse, saudade, soledad. Sie begriffen nun, aus welcher Stimmung heraus die Religion – die Angst vor den Göttern und die Hoffnung auf eine Erlösung von den Furchtbarkeiten der Welt und des Lebens – in den Morgenstunden der Menschheit geboren wurde. Es sind schreckliche Götter, vor denen wir nackt stehen, und doch wissen wir, sie sind gut – zu gross und zu mächtig nur für uns, sie zu verstehen.

Don Quichotte und Sancho Pansa standen stumm und staunend vor dieser Szenerie. Wie lange schon? Sie schienen da in eine Zeit geraten zu sein, die noch kein Zeitmass kannte. Dass jetzt in der Ferne die königlich-plumpe Silhouette eines Dinosaurus Rex auftauchte, war allerdings schon fast zu viel des Guten. Wenn es nicht so kalt und unwirtlich gewesen wäre, hätte man beinahe meinen können, in ein überdimensioniertes Disney-Land geraten zu sein. Sancho entfuhr ein Ausruf des Erstaunens.

«Ich glaube fast, jetzt sind wir gar in die Vorzeit geraten! Hijcho des puta, was soll denn noch alles kommen! Jetzt reichts mir aber wirklich! Ich frage mich, ob wir jemals wieder nach Hause kommen.» – «Schweig, du kleinmütiger Sancho!», sagte Don Quichotte streng, «was störst du mit deinem dummen hasenherzigen Geschnatter diese heilige Ruhe?! Sind wir denn bis jetzt nicht noch aus jedem Abenteuer heil und ganz hervor gegangen? Unsere Schutzengel, deiner Sancho, und meiner, haben uns bisher mit wohltätiger Hand durch die eigenartigsten Geschichten geführt. Und du jammerst, statt dankbar zu sein! In welcher Zeit sind wir denn zu Hause? Und an welchem Ort? Kannst du mir das sagen? Ich jedenfalls weiss, dass ich durch die Zeiten und die Räume als ein ruheloser Wanderer gehen muss, bis sich mein Schicksal erfüllt haben wird, und ich ohne Murren annehmen will, was es mir bereitet!»

Sancho kam nicht mehr dazu, auf diese fatalistische Rede zu antworten, denn jetzt taucht ein Wesen auf, genau in der Mitte zwischen einem Menschen und einem Affen. Man mag nun einwenden, dieses Auftauchen eines Neandertalers passe erdgeschichtlich in keinster Weise zum Vorhandensein der majestätischen Silhouette des einige Zeilen weiter oben erwähnten Dinosaurus Rex. Aber die Zeiten sind in dieser Geschichte nun mal ziemlich durcheinander gerutscht. Wir können deshalb also auch nicht dafür, dass das seltsame vormenschliche Wesen nun auf die beiden Gestalten unserer Helden zuhüpft, gelächterartige Geräusche ausstossend und den Sancho am Bart, zu dem dieser wie die Jungfrau zum Kind gekommen sein muss, packend.

Das mochte als Geste der Zuneigung gemeint sein oder nicht – vielleicht erkannte der Halbaffe oder Halbmensch den Sancho als seinen fernen Nachkommen an, Blut ist, wie man weiss, dicker als Wein –, Sancho begann sich jedenfalls gegen dieses Bartziehen zu wehren, sodass sich schliesslich aus dem, was als zärtliche Neckerei begonnen hatte, ein handfestes Schlagen, Knuffen, Reissen und Beissen entwickelte, bei dem sich Sanchon nicht einmal so schlecht behauptete.

Schliesslich gelang es Don Quichotte aber doch, die beiden ineinander verkeilten Kämpfer zu trennen. Der Urmensch oder Neandertaler schnaufte nicht weniger heftig als Sancho, der den haarigen, wulstäugigen, niedrigstirnigen, langarmigen Körper seines Vorfahren voller Verachtung musterte. Dieser grunzte und gab andere nicht zu definierende Laute von sich, schüttelte die Arme und hüpfte von einem Bein aufs andere, als wollte er damit etwas Bestimmtes mitteilen. «Eine anständige Sprache scheinen die noch nicht erfunden zu haben», meinte Sancho kopfschüttelnd. Don Quichotte belehrte seinen Assistenten: «Und doch will er sich uns verständlich machen. Der gute Wille ist zu honorieren. Vielleicht verstehen wir seine Sprache auch einfach nur nicht. Sieh, wie niedlich er die Augen rollt, wie er den Arm und den Finger streckt – ich glaube, er will, dass wir ihm folgen. Er will uns etwas zeigen.» – «Vielleicht will er uns zum Essen einladen», witterte Sancho da Morgenluft, «hoffentlich haben sie wenigstens das Feuer schon erfunden. Roh schmeckt der Dinosaurierbraten sicher nicht sonderlich gut.»

Während sie ihrem neuen Freund folgten, begann es bereits wieder dämmrig zu werden – auch die gwöhnlichen Tageszeiten scheinen in dieser Geschichte etwas ausser Kontrolle geraten zu sein – und wurde bald stockdunkle Nacht. Mit beklommenem Herzen folgten die beiden Abenteuer – der widerwillige und der mutwillige – ihrem Vorfahren oder Urahnen. Der Boden, über den sie gingen, war weich und feucht; nur gut, dass unsere beiden Helden ihre Stiefel, zu denen sie im Verlauf dieser Geschichte in einem unbemerkten Moment gekommen sein müssen und wiederum wie die Jungfrau zum Kind, aus zivilisierteren Tagen in diese hoffnungslose graue finstere Vorzeit hinübergerettet hatten. Der Halbaffe oder Halbmensch ging nacktfüssig, wie sich das gehört, überhaupt trug er kein einziges Kleidungsstück ausser seinem körpereigenen Fell.

Schliesslich wurde die Dunkelheit von einem rötlich-gelben Schimmer etwas aufgehellt, und bald zeigte es sich, dass das Feuer glücklicherweise schon erfunden war. Es erhellte eine geräumige und ganz gemütliche Höhle, in der mindestens zehn Urmenschen auf Fellen hockten, zottelige Männer, Frauen und Kinder, die jetzt angesichts des Besuch, den Vati da mit nach Hause brachte, in ein aufgeregtes Geschmatze und Gegrunze ausbrachen, das aber eher erfreut als ärgerlich klang. Über dem Feuer bruzelte an einem Spiess ein enttäuschend kleines Stück Fleisch, das eher von einer Ratte als einem Dinosaurier stammte. Ausserdem roch es in der Höhle etwas streng, was die Aussicht auf eine Mahlzeit zu einer etwas zwiespältigen Sache machte. Sancho dachte mit Wehmut an die siebengängigen Menus im Palast zurück, für die er jetzt ohne Zweifel den nötigen Appetit gehabt hätte. Don Quichotte hob, um seine freundliche Absicht zu bekunden und ein Beispiel für seine sanfte Gemütsart und edle Gesinnung zu geben, zu einer grossen Rede an: «Liebe Freundlinnen, liebe Freunde, seid gegrüsst! Wir sind von weit her zu euch gekommen, von sehr weit her, nämlich aus den Tiefen der Zeit, um euch als Engel der Zukunft eine Verheissung dessen zu sein, was einst zum modernen Menschen wird aus dem in einem dumpfen geistigen Schlaf verharrenden Material der Evolution, für das ihr euch vielleicht betrübt halten möget. Aber nein! Wisset! Der Mensch ist ein Seil, über den Abgrund gespannt...» Aber weiter kam Don Quichotte nicht.

Er wurde nämlich von mehreren der Urmenschen gepackt und zu Boden gerissen. Jetzt war die Mordgier, die sich auf dieser Stufe der menschlichen Entwicklung als simple Fresslust entpuppte, in den Augen der Halbaffen ganz deutlich. Obwohl Don Quichotte bestimmt keinen wohlschmeckenden Braten abgeben würde, war er in diesen mageren Zeiten immerhin besser als nichts. Und erst unser guter Freund Sancho! Zwar auch nicht mehr der Allerzarteste, aber immerhin war an dem ganz schön was dran. Sancho, der wandelnde Festtagsschmaus! Der allerdings schrie Zeter und Mordio. «Hört auf, ihr Kannibalen, ihr Monster, ihr Menschenfresser, ihr könnt mich gar nicht fressen! So jung und zart und frisch wie ich kann ein Braten gar nicht sein, da ich doch eigentlich noch gar nicht geboren bin! Weg da, weg mit den Dreckpfoten habe ich gesagt!»

Aber an dieser Logik musste etwas falsch sein, denn die Urmenschen hielten sich an das, was ihnen ihr Magen befahl. Und so war denn das Letzte, was Sancho hörte, das Geräusch brechender Knochen (und zwar seiner eigenen) und das zufriedene Mahlen von Kiefern, denen ein gütiger Gott für einmal doch ein saftiges Stück Fleisch zwischen die Zähne gezaubert hatte (der allerdings so zart auch wieder nicht war). Des einen Leid ist des anderen Freud, hätte wohl Sancho dazu gesagt, wenn er noch etwas hätte sagen können.

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