Montag, 22. März 2010

Traurige Jäger (26)

Er stand auf, mitten in einem Chaos von spitzen Dingen, die ihm gleichsam in den Kopf stachen. Er wusste nicht, für welche der Identitäten, von denen er geträumt hatte und die alle ganz zweifellos zu ihm gehörten, er sich entscheiden sollte. Der Mensch braucht, tritt er in der Aussenwelt auf, eine einheitliche Form. Sonst ist er verrückt. Er stand auf, die spitzen Dinge drangen in seinen Kopf, er blieb in der Schwebe zwischen den möglichen Identitäten, die von verschiedenen Seiten mit der gleichen Kraft an seinem Schwerpunkt zerrten. Er konnte sich nicht entscheiden, das heisst, es ergab sich für einen vielleicht nur winzigen Moment nicht die richtige Eindeutigkeit, nicht das, was ihn sonst beim Erwachen in die Form presste, in irgendeine Form. Der Boden schwankte, er selbst schwankte, alles schwankte. Das dauerte aber, wie gesagt, nur einen Moment. Dann, mit einem Blick auf die vielen leeren Flaschen, die er durch den Schleier vor sich auf dem Boden sah, bahnte sich die Erinnerung einen Weg in sein Hirn: Ich war besoffen, dachte er sich, und nun verfestigte sich alles auf einen Schlag. Die spitzen Dinge in seinem Kopf waren die Krallen des Katers. Die leeren Flaschen auf dem Boden Weinflaschen, Schnapsflaschen. Die Dunkelheit Dunkelheit, Dunkelheit in einem ärmlichen Zimmer, unvollständige Dunkelheit: Ein schmaler Streifen war Licht, verursacht von der Sonne, die draussen schien, denn es war schon Tag. Ja, Tag, ein Blick auf die Uhr bewies es: Mittag sogar. Das pelzige Gefühl im Hals war Durst.

Durst: Das heisst, es gab etwas zu tun. Man musste Schritte machen, Muskeln bewegen. Eigentlich ging das ganz automatisch, trotz der Schmerzen in den Gliedern. Der Impuls liess ihn wie eine Puppe tanzen. Die kleine Kammer war voller Rotz und Dreck, aber es gab in ihr nichts zu trinken. Auch im Korridor, wo es kühler war als im Zimmer, lag Unrat, war zudem ein Summen und Brummen wie von einer Legion Insekten zu hören. Sancho wunderte sich nicht über das Geräusch und fragte sich nicht nach dessen Ursache, er war es offenbar gewohnt, das Geräusch zu hören, ausserdem hatten sich bei ihm, wie wir wissen, vor kurzem erst die spitzen Dinge in Kopfschmerzen verwandelt, der pelzige Ball, an dem er herumwürgte, in Durst. Er ging so schnell wie möglich und so langsam wie nötig die Treppenstufen hinunter, er wollte nicht stürzen, mit dem Schädel auf die Stufen knallen, liegen bleiben und verrecken. In diesem Haus, dachte er, warten die Ratten doch nur darauf, dass du hilflos am Boden liegst.

Auch er, Sancho, war eine Ratte. Eine weisse Ratte mit roten, entzündeten Augen.

Jetzt war er eine Strassenratte, der das grelle Mittagslicht um die Ohren geschlagen wurde, als müsste er weich geprügelt werden. Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf, das Licht war spitzer, als es die spitzesten Dinge im sanften Halbdunkel gewesen waren, war überspitz, überblendete für Momente den Durst. So stand er, die Hände im Gesicht, wurde von Hunden angebellt; es stank in der Strasse wie immer nach Benzin und Kot und Leichen, wie immer, wenn er auf die Strasse trat, musste er sich übergeben. Das tat gut. Jetzt konnte er die Augen wieder öffnen. Wie immer lagen Leichen im Dreck, erstochen, verfault, gedunsen.

Er schaute sie sich gewohnheitsmässig an, drehte sie auf den Bauch, wenn sie auf dem Rücken lagen, auf den Rücken, wenn sie auf dem Bauch lagen, vielleicht gab es bei ihnen etwas zu finden. Und es gab etwas zu finden, dies war sein Glückstag. Ein dicker Mann, den die Hunde noch fast unberührt gelassen hatten, dem aber ganze Heerscharen von Ameisen aus den Ohren, den Nasenlöchern und dem Mund entströmten, trug eine Pistole in der verkrampften Hand. Neben einem anderen Kadaver, der schon fast abgenagt war bis auf die Knochen, lag wie durch ein Wunder eine noch fast unangebrachte Packung mit Tabletten.

Don Quichotte steckte ganz automatisch die Pistole in die linke, die Tabletten in die rechte Tasche. Als er um die Ecke eines verfallenden Hauses in eine Hauptstrasse einbog, begegnete ihm das erste Mal auf diesem Gang lebende Menschen: einige Ratten zuerst, dann zwei Schattenengel. Dir Ratten gehörten zu den wenigen Überlebenden der ehemaligen Menschenrasse: Sie hatten durch einen ungeheuerlichen Zufall die vierfache Katastrophe – die
Kriege, den Hunger, die Seuchen, die Zerstörung der «natürlichen Lebensgrundlagen» – überlebt. Wer oder was die Schattenengel waren, wusste Don Quichotte im Grunde nicht. Vielleicht waren es Abkömmlinge eines fremden, weit entfernten Planeten, Besucher aus dem All; vielleicht Mutanten, die sich aus dem untergehenden Menschengeschlecht entwickelt hatten – eine neue Art und Gattung von Lebewesen, genauso weit entfernt von diesem wie der «Homo sapiens» es vom Affen gewesen waren – Wesen vom Typus des «Übermenschen», wie ihn Friedrich Nietzsche, Philosoph eines lange vergangenen Jahrhunderts, in Visionen vorausgeahnt hatte. Schattenengel nannte Don Quichotte diese Wesen deshalb, weil sie von tiefschwarzer Hautfarbe waren; ansonsten aber hatte sie weder mit dem negroiden noch dem asiatischen Menschentypus etwas gemein. Diese Schattenengel hatten Gesichtszüge von im wahrsten Sinn des Wortes unbegreiflicher, un-menschlicher Schönheit, die man weder als jung noch als alt, weder als männlich noch als weiblich hätte beschreiben können. Ihre Bewegungen waren von einer solchen Grazie, dass selbst ein Nurejeff neben ihnen wie ein Tanzbär oder Gorilla gewirkt hätte. Auch schienen sie tatsächlich geschlechtslos zu sein oder vielmehr zweigeschlechtlich; Don Quichotte erinnerte sich vage an das Gleichnis aus der griechischen Philosophie von den Kugeln, die ein eifersüchtiger Gott entzweigeschnitten hatte – diese Wesen waren noch Kugeln, metaphorisch gesprochen. Sie waren ganz, männlich im Weiblichen, weiblich im Männlichen Yin im Yang und Yang im Yin. Die Schattenengel kümmerten sich in keinster Weise um die Ratten, behandelten sie wie Luft. Überhaupt strahlten ihre Augen so schwarz und entrückt (genauso genommen waren ihre Augen wie Seehundaugen, man wusste nie, ob sie einen anschauten oder nicht), als würden sie sich in ständiger Ekstase befinden. Was sie taten tagsüber oder nachts war nicht ersichtlich, es sah ganz so aus, als würden sie gar nichts Bestimmtes tun.

Sancho kümmerte sich, von seinem Durst getrieben, weder um Ratten noch Schattenengel. Da trat auch schon das «Café Universum» in sein Blickfeld. Er keuchte jetzt in der Hitze, vor seinem Mund stand Schaum. Er versuchte zu rennen, fiel hin. Lag da, vermochte nicht mehr aufzustehen. Sein herz schlug ihm schmerzhaft in den Hals. Auf seiner Brust hockte eine dicke fette Katze, die hiess Durst. Die wollte ihn zerquetschen. In seinem Kopf zog sich der Nebel rot zusammen und wurde zu einem kleinen heissen giftigen Punkt. Da erinnerte sich Sancho an den von Hunden geschändeten Kadaver, an die neben der Leiche liegende, noch fast unangebrauchte Packung Tabletten. Der bewegte seine Hand langsam zur Taschen hin, riss mit zwei Fingern unendlich mühsam die Packung auf und hatte nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, endlich eine Tablette im Mund.

Aber nun konnte er nicht schlucken. Sein Mund war trocken, wie von Papier ausgekleidet. Da rutschte seine Aufmerksamkeit in einem überwältigenden Moment der Erschöpfung den Körper hinunter in die Gegend der Lenden, wo er einen Druck spürte. Er musste pissen, und in diesem Moment liess er das Wasser auch schon fahren. Seine Finger berührten fast zärtlich das Nass, als wären sie am Verdursten. Er führte die feuchten Finger zum Mund; und jetzt konnte er auch die Tablette schlucken.

Wenige Sekunden später spürte er Kraft von der Gegend des Sonnengeflechts aus den ganzen Körper durchströmen. Ein unendliches Wohlbefinden löste seine Glieder, liess ihn aufstehen und die paar Schritte zum «Café Universum» tun. Das Café hatte riesige Dimensionen und ehemals vielleicht als Parlamentssaal oder Fabrikhalle für die Montage von Gleitern der «Moon and Mars-Company» gedient. Es war angenehm kühl hier in der Mitte der Welt, Sanchon inzwischen in Hochform. Er hatte zwar noch immer Durst, aber dieser Durst existierte gewissermassen nur noch am Rande seines Bewusstseins. Er bewegte sich wie ein Prinz im Farbenspiel der Lasershow. Oder vielleicht doch eher wie eine Prinzessin, oder eine Prinzessinnen-Mutter, mit ausladendem Sonnenhut im geblümten Kleid? Dieser Gedanke, der ihm von irgendwoher zugeflogen war, brachte ihn zum Lachen. Wie dem auch sei: Der Prinz bewegte sich auf die Bar zu, die von einer Traube von Albinoratten mit Sonnenbrillen vor den wahrscheinlich roten Augen umlagert war. Man machte der königlichen Hoheit Platz, man spürte, dass ihr Wille jetzt unbeugbar war, chemisch gepanzert, gefüllt, satt. Straff wie ehemals ein junger Leutnant in Galauniform vor seinem Kaiser. Stählern wie ein riefenstahlscher Athlet in einer Sportarena der Dreissigerjahre. Prinz Sancho von Pansa bestellte sich ein riesengrosses Glas. Er trank wie ein Mann nach Wüstenfahrt. Ahhhhhhhh! Die Prinzessinnen-Mutter dehnte sich aus, schneller, als ihr Verstand es fassen konnte, wurde unendlich, grenzenlos, alles durchdringend. Ein Fluss ohne Ufer. Griff in die Tasche, nahm eine weitere Tablette. Es hatte noch paradiesisch viele Tabletten in der Packung, es reichte für eine Ewigkeit. Das Leben war ein Schlaraffenland: Sancho trank Nektar, den Trank der Götter, aus grossen Gläsern, spülte Ambrosia (Marque déposée) hinunter ins Uferlose des riesigen Magens, in den sich alles verwandelt hatte.

Aber mit der Zeit (Zucken der Lichter, Wirbeln der Töne) genügte Don Quichotte das nicht mehr. Von seiner augenblicklichen Fallhöhe aus konnte Sancho genau erkennen, dass der rattenhaft mit der Möglichkeit der Stillung sich steigernde Durst auf diese Art nicht mehr zu befriedigen war. Don Quichotte schaute sich um. Sein Blick fiel auf einen Schattenengel, der sich wie ganz zufällig in das postmoderne Café mit den riesigen Ausmassen verirrt hatte und abwesend und entrückt einfach dastand, und nun wusste Sancho, worauf sein Hunger und sein Durst aus waren. Er nahm eine weitere Pille, trank ein neues Glas. Don Quichotte versuchte, den Blick des Schattenengels zu fassen kraft seines unbeugsamen Willens. Aber die seehundhaft schwarzen Augen des Schattenengels gaben keinerlei Antwort. Sanchos Gier wurde zur Wut.

Er schob sich an den Schattenengel heran. Dieser nahm noch immer keine Notiz von ihm. In Sanchos Kopf tönten die Textzeilen des Songs «My Passion»:

Obey me, seduce me, please me
Now touch me, adore me and serve me
I'll
harvest without
sorrow
Obey me, seduce me, please me
Now touch me, adore me and serve me

Trust me,
I'll be your guide

Die Pistole, die er erbeutet hatte, lag plötzlich glatt und schwarz in seiner Hand. Dann gab es einen trockenen Knall. Der Schattenengel fiel um, nicht wie ein sterbender Mensch, sondern wie ein Ding, das zu Boden gestossen wird.

In Don Quichotte wurde es für einen Moment der Erkenntnis ganz still. Er sah das schwarze Blut, das träge und dickflüssig wie Marmelade aus dem Schattenengel floss. Sanchos Finger, der sich hinabtasten wollte, um zu kosten, war wie steif gefroren. Eine grosse Kälte wie aus den Tiefen des Alls, schien es ihm, strömte bei diesem Impuls durch den Finger bis ans Herz. Sancho hatte Angst, eine noch viel tiefere Angst, als er sie vorher, verdurstend auf dem stinkenden Boden liegend, empfunden hatte.

Er flüchtete in Panik aus dem Café «Universum». Er fürchtete nicht, dass ihn jemand verfolgen könnte; er fürchtete, sie könnten ihn nicht verfolgen. Und es verfolgte ihn auch tatsächlich niemand. Es gab keine Polizei mehr und keine Strafverfolgung und kein Rechtssystem. Es galt das Gesetz des «Jeder gegen Jeden», es galt das Recht des Stärkeren. Niemand verfolgte ihn, und niemand wartete auf ihn, und allen war alles egal.

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