Montag, 15. März 2010

Traurige Jäger (25)

Am andern Morgen schmerzte zwar der Kopf und der Geschmack im Mund war eklig, aber seine Erregung hatte sich ein wenig gelegt. Der gesunde Menschenverstand hatte wieder die Oberhand gewonnen. Gewissermassen über Nacht war in ihm zudem der Entschluss gereift, baldest möglich abzureisen, nicht erst in zwei Wochen, sondern schon morgen oder übermorgen. Die Aussagen des komischen farbigen Arztes konnten doch einfach nicht stimmen. Diese ungeheuerliche Geschichte war lächerlich, abstrus, einem paranoiden Gehirn entsprungen. Er würde sich von einem Arzt untersuchen lassen, einem echten, medizinischen
Arzt, damit wäre alles geklärt und bewiesen, und er würde später eine Glosse über die angebliche Krankheit im Land der Gesundheit schreiben. Andererseits erinnerte sich Sancho noch immer voller Widerwillen an gewisse Dinge, zu denen er sich in Misericordia hatte hinreissen lassen und die ihm, wenn er daran dachte, die blutrote Scham in die Wangen trieben.

Zum Frühstück nahm Sancho nur schwarzen Kaffee und eine Kopfwehtablette. Dann erkundigte er sich bei einer Angestellten des Hotels, die natürlich mit Schwester anzureden war und auch wie eine echte Krankenschwester aussah, nach einem Arzt, einem Doktor der Medizin; er fühle sich nicht ganz wohl. Was er denn habe, fragte die Schwester, ein Drache, wie er im Buch stand, eine impertinente Person, die einem kopfwehgeplagten Menschen den Rest geben konnte. Ob denn nicht sie helfen könne; er, Sancho, wisse es vielleicht nicht, aber alle Frauen in Misericordia seien in der Behandlung leichterer Unpässlichkeiten bestens geschult. Es handle sich um eine intime Unpässlichkeit, und auch um mehr als eine Unpässlichkeit, log er, eine gewissermassen psychosomatische, die unmöglich mit einer Frau verhandeln könne und wolle. Die Schwester schaute ihn tadelnd und mit wenig Sympathie in den Augen an. Sie werde sehen, was sich tun lasse, meinte sie, und verschwand, um zu telefonieren. Es dauerte eine ganze Weile. Warum muss die jetzt auch so lange telefonieren, dachte Sancho nervös. Sancho hätte jetzt gern ein Bier gehabt, nur ein kleines, gegen die Nervosität und den Kater. Als der Drachen endlich vom Telefonieren zurückkam, sagte sie mit einem Mund, als hätte sie soeben etwas Bitteres gegessen: «Gut, man ist bereit, Sie kurzfristig zu einer Konsultation zu empfangen. Weil Sie ein Gast unseres Landes sind. In zwei Stunden können Sie bei Professor Doktor Ochsenknecht vorsprechen. Er ist ein berühmter Venerologe. Ein Forscher. Er empfängt sonst keine Patienten», fühlte sie sich bemüssigt, in strengem Ton hinzu zu fügen.

Dr. Ochsenknecht war ein kräftiger Mann wie ein Stier, mit breiten Schultern und für eine Kapazität erstaunlich jung. Er hatte sein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und trug enge weisse Lederhosen, die seinen Schritt auffällig betonten. Als Sancho zu sprechen anfangen wollte, hiess der Doktor ihn mit einer gebieterischen Geste zu schweigen. Noch während er von dem schweigsamen Arzt auf das Gründlichste untersucht wurde, wusste Sancho, dass er diese Untersuchung ebenso gut hätte bleiben lassen können. Es gab nichts auf der Welt, das ihm seinen Seelenfrieden hätte zurück bringen können. Die Frage, ob er krank war oder nicht, schien auf dieser Ebene plötzlich absurd.

«Sie sind vollkommen gesund», waren die ersten Worte des Arztes, «so gesund, wie man sein kann bei dem Lebenswandel, den Sie führen. Aber das wissen Sie wohl selbst. Es gibt bei uns in Misericordia wirklich keine unheilbaren Krankheiten mehr. Misericordia ist zwar noch nicht das Paradies auf Erden, aber in diesem Punkt sind wir dem Paradies immerhin ein gutes Stück näher gerückt. Krankheiten sind Schnee von gestern. Wir beschäftigen uns längst mit anderem: mit der physischen Unsterblichkeit, der ewigen Jugend, der endgültigen Beseitigung von Angst, Schmerz und Unlust. Das ist alles eine Frage der Hirnchemie. Alle Probleme und Spannungen fallen von Ihnen ab. Sie fühlen sich leicht und frei. Alles ist gut.»

Nach der Konsultation eilte Sancho sofort in den Keller, denn wenn er sich jetzt auch ganz leicht und frei fühlte und alles gut war, so brauchte er jetzt doch immer noch ein kleines oder mittleres Bier gegen die Nervosität und den Kater. Auch hegte er die wahnwitzige Hoffnung, noch einmal auf seinen gestrigen Gesprächspartner zu stossen. Aber es war überhaupt niemand in dem Lokal, ausser natürlich dem lakonischen Barkeeper. Das enttäuschte Sancho auf übertriebene Weise, wie er selber fand; er fühlte sich wie ein Kind, dem man seine Weihnachtsüberraschung vorenthält. Diese Enttäuschung und Verlorenheit liess sich auch mit ein paar Bieren nicht wegspülen. Er versuchte, sich an dem tröstlichen Gedanken empor zu ranken und aufzurichten, dass er dann Misericordia morgen schon weit hinter sich gelassen haben, mit seinen Freunden in der «Merkur»-Bar sitzen und auf das Ganze wie auf einen absurden Alptraum zurück blicken werde. Aber gleichzeitig schien es ihm, als ob das unmöglich, Misericordia auch anderswo und überall sei. So, wie auch Don Quichotte überall war, in jeder Welt, in die sich Sancho verirrte. Überhaupt, Don Quichotte! Sancho begann, seinen hageren Freund zu verstehen. Don Quichotte hatte Heimweh nach Toboso, seinem Planeten. Auch er, Sancho, hatte Heimweh, nur war dieses nicht benennbar, weil er sein heiliges Land noch gar nicht kannte und es dieses vielleicht noch nicht einmal gab. Also war dieses Heimweh vielleicht doch eher ein Fernweh, gegen das es einmal mehr anzutrinken galt.

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