Montag, 5. Mai 2008

Vom Wesen der Poesie



«Jeden Abend legt er sich hin, die Stirne sorgenvoll gefaltet. Er kneift die Augen zusammen, alles kommt ihm hoffnungslos vor, er stöhnt, dann fangen die Sorgen an aufzusteigen, verändern ihre Gestalt, dehnen sich, ziehen sich zusammen, drehen sich um sich selbst, blubbern an die Oberfläche seines Körpers, zerplatzen da und entschweben, während er tiefer und tiefer sinkt bis auf den weichen, dunklen Grund seiner selbst, wo er sich verliert. Am nächsten Morgen sammelt er sich wieder, die Sorgen lassen sich erneut auf ihm nieder, er ordnet sie, lässt sie in sich eindringen, eine nach der anderen, bis er prallvoll ist von ihnen und fast erstickt, dann ist es wieder Abend, er legt sich ins Bett, stöhnt, die Sorgen steigen empor und entweichen. Schön. Dichter, die für Jahrhunderte sprechen, formen daraus Reime.»
Matthias Zschokke, Maurice mit Huhn, Ammann Verlag, 2006.

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