Mittwoch, 21. Mai 2008

Auf der Flucht (Teil 1)



Wolf hat die Augen geschlossen und spürt die klebrige Hitze wie ein Gewicht auf seinem Körper. Am anderen Ende des Pools hört er zwei Thais palavern, in dieser Sprache, die das Ohr sanft umschmeichelt; er könnte stundenlang zuhören, ohne ein Wort zu verstehen. Nie wird ihm langweilig dabei, er liebt die Melodie und den Klang dieser Sprache so, dass er keine Inhalte dazu braucht, keine Bedeutung, oder sich selbst eine zusammenfantasieren kann, wobei er sich denkt, dass in dieser Sprache nichts Verletzendes, aber auch nichts Direktes gesagt werden kann; die Unterhaltung der beiden kommt ihm vor wie das Gemauze zweier Katzen, die um einen heissen Brei herumschleichen …
Es beruhigt ihn, diese Stimmen in dieser Sprache reden zu hören. Es enthebt ihn noch mehr der Wirklichkeit. Er ist müde, aber auch sehr wach, euphorisiert, was einerseits mit dem Jetlag zu tun hat und der Tatsache, dass er in dieser Nacht überhaupt nicht geschlafen hat, andererseits aber auch mit dem Druck und der Anspannung zusammenhängt, die nun plötzlich von ihm gewichen ist. Das ist immer so nach einem gelungenen Hände-Hoch-Job oder einer Einkaufstour mit der Neun-Millimeter-Kreditkarte. Dem Adrenalin-High folgt ein kleines Burn-out – das ist normal. Plötzlich hat er Lust auf einen Drink, Gin mit dem Saft frischer Limetten, obwohl es noch früh am Morgen ist, vielleicht acht oder neun, aber in Deutschland ist es eben trotz der blendendhellen thailändischen Vormittagssonne erst zwei oder drei Uhr in der Nacht. Zwei oder drei Uhr in der Nacht ist doch eine hervorragende, ja die beste Zeit für einen Drink.
Er weiss nicht, warum er als Unterkunft immer noch dieses einfache, aber bequeme Mittelklass-Hotel in einer ruhigen Seitenstrasse zur Petchburi-Road wählt, obwohl er sich doch jetzt sogar das «Oriental» leisten könnte – wahrscheinlich ist das die Macht der Gewohnheit. Bangkok ist ein Geschwür, keine Stadt, eine Anhäufung von zehn Millionen Menschen und Gebäuden in einer unermesslichen Ebene, ohne Zentrum und mit dem sich seit 1990 im Bau befindlichen Baiyoke Tower als einzigem visuellem Anhaltspunkt, der wie ein überdimensionierter Obelisk in den blassblauen Smoghimmel über der Stadt ragt. Bangkok mit seinen legendären, vom Verkehr verstopften Strassen, der dreckigen Luft und dem feuchtheissen Klima ist ein Alptraum, in Bangkok als Ganzem gesehen kann man sich nur verlieren. In einem Quartier wie diesem aber stösst man unverhofft immer wieder auf Inseln der Ruhe und des Friedens, wenn man in die Seitenstrassen einbiegt. Kurz: Das Opéra ist für Wolf sozusagen ein Stück Heimat.

Er öffnet die Augen und zündet sich eine Zigarette an. Drüben am Pool schwatzen die beiden Thais immer noch zusammen, wobei ihr Gespräch manchmal von kehligem Lachen untermalt wird. Der eine ist Kellner im Opéra und kein ganz junger Boy mehr, während der andere nicht älter als neunzehn oder zwanzig sein kann – wobei das natürlich nie mit Sicherheit zu sagen ist. Thais sehen nun mal meist jünger aus als sie sind.

Der Junge ist nicht die klassische Schönheit, dazu hat er ein zu eigenwilliges Gesicht und zu grosse Segelohren. Diese Segelohren und der unverschämte, herausfordernde Ausdruck in den Augen, dazu die langen schlanken Beine, die in einen aufreizend gerundeten Arsch übergehen, der haarlose gut geformte Körper mit der samtenen braunen Haut – bemerkenswert. Die Gier nach diesem Körper überfällt Wolf schlagartig, unerwartet heftig und ziemlich überraschend. Er will diesen Jungen. Er will ihn von der Scheitel bis zur Sohle, und dabei keinen Quadratzentimeter auslassen. Mehr noch: er will ihn auffressen, genüsslich verspeisen mit Haut und Haar.

Der Junge hat natürlich sofort gemerkt, dass Wolf aufgewacht ist. Er schaut ihm direkt in die Augen, auffordernd und eindeutig. Aber Wolf reagiert nicht auf diesen Blick, obwohl er merkt, dass eine gewaltige Erektion seine Badehose bläht. Er zieht diskret das Badetuch über den Unterleib, winkt den Kellner herbei und bestellt Gin mit Limetten. Aus den Augenwinkeln bemerkt er die Frustration des Jungen, der ihn wütend anstarrt, die Augen noch weiter aufreisst und mit einer ungeduldigen Bewegung die Schultern hochzieht. Wolf muss innerlich grinsen, als er die Augen wieder schliesst. Er lässt den Jungen zunächst ins Leere laufen und hofft, dass er ihn später wieder trifft. Er ist sich fast sicher, dass er ihn später erneut treffen wird.

Seine Beute befindet sich in einem Metallkoffer, und dieser Metallkoffer steht nun in seinem Hotelzimmer im Schrank. Das ist vielleicht ein bisschen leichtsinnig, das ist ziemlich sicher sogar sehr leichtsinnig, aber er kann das Geld – ungefähr 120000 DM dieses Mal – ja nicht gut im Hotelsafe deponieren, und immerhin würde in einem gewöhnlichen Schrank in einem drittklassigen Hotel wohl niemand solche Summen vermuten. Später würde er einen Teil der Beute vorerst einmal auf die verschiedenen Konten seines thailändischen Freundes bei der Thai Farmers und der Bangkok Bank deponieren. Wolf hat den vagen Plan, ein Haus oder eine Bar zu kaufen oder beides: ein Haus in Pattaya und eine Openair-Bar auf Ko Samet und natürlich eine Wohnung in Bangkok und natürlich einen robusten Geländewagen. Aber zunächst will er sich ein bisschen erholen von den Anspannungen der vergangenen Wochen. Das Leben geniessen. Auf Phuket Motorrad fahren. In den Riffs vor den Phi-Phi-Inseln tauchen. Von Mae Hong Song aus das Grenzgebiet von Myanmar erkunden. In den Dschungel und die Tempelwelt eintauchen. Stippvisiten nach Hongkong, Bali, Kambodscha und Vietnam machen. Den gewaltigen Sternenhimmel auf sich wirken lassen. Immer wieder die scharfen thailändischen Gerichte kosten, von denen man soviel essen kann, wie man will, und trotzdem nicht dick wird. Mit jungen Polizisten flirten. Ganze Scharen hübscher thailändischer junger Männer verführen – oder sich vielmehr von ihnen verführen lassen. Er weiss, dass er bei den Thais sehr gut ankommt. Erstens: Wolf ist ein Farang und hat Kohle. Zweitens: er ist immer noch ziemlich jung – um genau zu sein, wird er in Kürze 37 – und er sieht gut aus, ist schlank, muskulös, hat einen sinnlichen Mund und ein nicht unbeträchtliches Stück in der Hose. Und er ist blond mit erst wenigen, kaum sichtbaren grauen Stellen im Haar. Er glaubt zudem zu wissen, wie man mit den Thais umgehen muss. Seit zwei Jahren hat er einen «festen» Thai-Freund, der ihn jeweils mitnimmt in das Dorf seiner Eltern in Zentralthailand. Dort ist zwar nichts los, aber es gibt Wolf die Gelegenheit, sich mit den Sitten und Gebräuchen dieses Menschenschlags vertraut zu machen. Er nimmt sich vor, dieses Mal etwas mehr Thai zu lernen.

Inzwischen ist der Junge mit den Segelohren verschwunden. Das findet Wolf einerseits schade, denn er hätte es gerne sofort und auf der Stelle mit ihm getrieben, andererseits aber weiss er, dass eine kleine Verzögerung, ein bisschen Katz- und Mausspielen das Vergnügen ungemein erhöht. Wolf wird den Jungen bestimmt wieder sehen, entweder hier vor dem Hotel oder später in der Nacht in der Telephone-Bar oder in der DJ-Station, einer beliebten Disco in einem der Vergnügungsviertel der Stadt. Wolf trinkt langsam seinen Gin und schaut zwei japanischen Mädchen beim Schwimmen zu. Ein weiterer Gast des Hotels, ein alter Engländer, sitzt mit seinem jungen Thai-Freund an einem der von Sonnenschirmen geschützten Tische am Pool; sie spielen Karten. Wolf bestellt sich einen weiteren Gin, eine Nudelsuppe und ein Omelett. Die japanischen Mädchen schwimmen und kichern; der junge Thai, der sich als äusserst knackig erweist in seinen knappen orangefarbenen Badehosen, springt jetzt ebenfalls in den Pool. Als er auf der anderen, Wolfs Seite des Pools angelangt ist, lächelt er Wolf an. Dieses Mal lächelt Wolf zurück, denn er will diesen Jungen nicht verführen; es ist nicht sein Ding, anderen ihre Freunde oder Lover oder Begleiter auszuspannen.
Trotzdem kommen die beiden miteinander ins Gespräch, misstrauisch beäugt von dem englischen Gentleman. Der Junge, erfährt Wolf zu seinem äussersten Erstaunen, ist kein junger Boy mehr, sondern älter als er selbst. Er ist, wie offenbar alle Einwohner von Bangkok, auf dem Land aufgewachsen, in einem kleinen Dorf im Nordosten des Landes, im Isan, in der Nähe der Stadt Roi Et.

Plötzlich fühlt sich Wolf sehr müde. Später will er sich dann erfrischt ins Nachtleben stürzen.



Wolf schläft unverzüglich ein. Er träumt, in einem Flugzeug zu sitzen. Das ist völlig normal. Aber etwas stimmt trotzdem nicht. Was ist es nur? Wolf denkt in seinem Sessel in der Business-Class angestrengt nach. Die Fluggeräusche deuten auf nichts Ungewöhnliches hin. Die MD 11 der Thai Airways gleitet völlig ruhig durch die Nacht – smooth as silk, wie die Werbung es ja auch verspricht. Keine Luftlöcher sind zu spüren, keine Turbulenzen zu verzeichnen. Plötzlich wird es Wolf bewusst: Er ist der einzige Fahrgast in der Business Class. Das irritiert ihn. Er steht auf und öffnet den Vorhang, der die Business Class von der Economy abtrennt: aber auch diese ist leer. Kein einziger Fahrgast befindet sich im Flugzeug. Unglaublich. Dabei ist dies doch ein gewöhnlicher Linienflug. Was aber noch beunruhigender ist: es zeigt sich auch niemand von der Crew. Zunehmend nervöser werdend, geht Wolf auf das Cockpit zu. Kalter Schweiss tritt ihm auf die Stirn. Keine Passagiere, keine Crew. Nein, das kann nicht sein. Er öffnet die Tür zum Cockpit. Nur die Lichter der Armaturen, das Flimmern der Bordcomputer. Er befindet sich allein an Bord der Maschine, die ruhig durch die Nacht fliegt, smooth as silk. Gerade dies, die Tatsache, dass nichts Dramatisches passiert – noch nichts Dramatisches passiert –, verstärkt das Grauen, das Wolf zunehmend empfindet. Das Schlimmste an dieser Situation aber ist: Er kann nichts tun! Er ist dem allem einfach ausgeliefert. Früher oder später wird das Flugzeug abstürzen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, spätestens dann, wenn der Maschine der Sprit ausgeht. Und er kann nichts tun! Ausser warten, abwarten, ausser sich selbst in dieser Situation aushalten, was schier unerträglich ist, um dann im abstürzenden Flugzeug zu sitzen, ganz allein. Als wäre er der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der letzte, der übrig geblieben ist. Warum nur haben sie ihm das angetan? Und wer sind sie, wenn er der letzte Übriggebliebene ist? Diese Fragen, auf die es keine Antwort gibt, erfüllen Wolf mit einer Bitterkeit, wie er sie bisher noch nicht gekannt hat.

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