Dienstag, 16. Juni 2009

Traurige Jäger. Die neuen Abenteuer der Don Quichotte und Sancho Pansa. Ein Fortsetzungsroman



Prolog

Die Nacht ist dick und schwarz und samtig warm. Ich habe die Ränder der Stadt hinter mir gelassen, bin den Sicherheitskräften der Gesundheitsbehörden noch einmal entkommen. Ich befinde mich jetzt auf einer Wiese oder in einem Park, ab und zu lassen sich die Umrisse von Büschen und Sträuchern erahnen. Vielleicht fünfzig Meter vor mir duckt sich eine Hütte, ein Schuppen oder ein Stall in eine Senke hinein. Mein Hirn ist ganz leer: Ich fühle keine Angst mehr und keine Wut. Nur diese lähmende Müdigkeit, die mich an allen Gliedern in die Erde hineinzuziehen versucht. Ich muss ein wenig schlafen, eine Stunde nur. Da kommt mir die Hütte wie gerufen. Steht da wie ein Geschenk Gottes und hat die ganze Zeit auf mich gewartet, fünfzig Jahre oder hundert Jahre, seit sie erbaut worden ist. Wie tröstlich. Jemanden oder etwas zu haben, das auf einen wartet, ist bei aller Reisegewandtheit, Weltbürgerlichkeit, Ungebundenheit doch etwas Schönes. Es müssen ja nicht immer die knastähnlichen Spitäler, die zellenähnlichen Krankenzimmer der Gesundheitsbehörden von Misericordia sein. Der Gott dieser Wiese wird es nicht zulassen, dass mein Schlaf vom Licht der extrapotenten behördlichen Taschenlampen brutal entzweigerissen wird. Der Schlaf sei ewig, das Erwachen gewiss. Die Nebelfetzen wachsen in meinen Kopf hinein. Ich taste mich an den Wänden der Hütte entlang, um die Tür zu finden.

Ich lasse mein Feuerzeug anschnappen. Das Innere der Hütte ist im Schein der flackernden Flamme leer bis auf ein undefinierbares Bündel, das in der Mitte des Raumes auf dem Boden liegt. Eine halbvolle Flasche, gefüllt mit einer irgendwie gearteten Flüssigkeit, rotem Wein zum Beispiel, wie das rubinrote Aufblinken im Flammenschein nahe legt. Einen Kerzenstumpf. Ein paar Zeitungsblätter, die verstreut herumliegen. Das wird nun also mein Bett sein in dieser Nacht, mein Prokrustesbett. Ich setze die Flamme an den Kerzendocht. Mache mich daran, Bündel und Flasche einer Prüfung zu unterziehen, denn im sonst leeren Raum sind liegendes Bündel und stehende, mit einer rot blinkenden Flüssigkeit gefüllte Flasche natürlich eine Sensation. Ich berühre das Bündel und rieche an der Flasche. Ich rieche am Bündel und berühre die Flasche. Ich lege an beides, Bündel und Flasche, mein Ohr. Das Bündel ist warm und bewegt sich jetzt. Ausserdem beginnt es zu sprechen, das heisst zu murmeln und undeutlich zu fluchen. Ich erstarre vor Schreck.
«Was willst du hier?» höre ich fragen. «Warum lässt du mich nicht schlafen?»
«Verzeihung», antworte ich, «aber der Zufall, ich schwöre es, hat mich zu dieser Hütte geführt. Oder die Versuchung. Es schien mir nämlich so, als würde die Hütte mich erwarten. Wunschvorstellung auf der Flucht, was solls.» Ich seufze.
Im Kerzenschein zeigt sich jetzt das ausgemergelte Gesicht eines jungen Mannes, der mich mit grossen Augen betrachtet.
«So, hinter dir sind sie also auch her», sagt er befriedigt.
««Ach, bin ich kaputt», antworte ich.
«Da, nimm einen Schluck, das wird dir gut tun.»
Ich trinke gehorsam. Die rubinrote Flüssigkeit schmeckt tatsächlich wie roter Wein. Billiger roter Wein.
«Die Welt», sagte der junge Mann, der dem Bündel entstiegen ist, «ist komisch – komisch im Sinn von seltsam und komisch im Sinn von lustig oder zum Lachen reizend. Und wir hocken auf ihr wie die Flöhe im Fell eines Affen. Oder vielmehr einer Äffin. Die Flöhe können der Äffin nichts anhaben: höchstens sind sie manchmal ein wenig lästig. Allerdings geben sie auch Anlass zu dem köstlichen Vergnügen, sich vom Lieblingsaffen lausen und flohen zu lassen. Oder selber den Lieblingsaffen zu lausen und zu flohe, wobei man als Dessert dann erst noch die Opfer der Jagd genussvoll verspeisen kann. Wobei ich natpürlich nicht behaupten will, dass Läuse und Flöhe besonders gut schmecken.»
«Und wir», will ich wissen, «sollen die Läuse und Flöhe im Fell der Äffin sein? Aber ich bitte dich, das ist doch lächerlich! Haben wir nicht die Naturgewalten gebändigt, das Atom gespalten, sind wir nicht in die Weiten des Alls gereist? Waren wir nicht wahrhaft biblisch und haben uns die Pflanzen und Tiere untertan gemacht, auf dass sie sich in – amerikanisch – saftige Steaks oder – französisch – ein Baron d’agneau de lait oder – indonesisch – ein Ayam campur verwandelten? Das ist Kultur, Mann! Dass am Schluss dann alles wieder zu Scheisse wird, liegt in der Natur der Sache. Das Fäkalische ist nun mal die Kehrseite des Kulinarischen.»
«Das hast du schön gesagt. Wir bleiben aber trotzdem die Flöhe und die Läuse im Pelz der Äffin, das lässt sich mit aller Kultur nicht ändern. Ist ja auch nicht weiter schlimm. Wir haben das Glück unserer Hormone. Und das Glück unserer Vergesslichkeit. Manchmal ist uns im Fell der Äffin auch ganz einfach warm. So richtig gemütlich. Dass uns dereinst der Lieblingsaffe lustvoll runterschmatzt – was solls? Das dient schliesslich auch dem Nahrungskreislauf.»

Es bleibt eine Weile still. Dann greifen wir beide gleichzeitig nach dem Hals der inzwischen nur noch zu einem Viertel vollen Flasche. Der anerzogene Höflichkeitsreflex ist stärker als die Gier, beide ziehen wir die Hand zurück. Ein peinliches Spiel. Ich bemerke, wie ungewollt ein verlegenes Lächeln auf meinem Gesicht erscheint. Er lächelt gepeinigt zurück. Unsere Hände nähern sich in regelmässigem Rhythmus der Flasche, zucken vor ihrem Hals, als wäre der elektrisch geladen, zurück. Schliesslich geben wir es auf, die Flasche bleibt, noch einmal unbetrunken davongekommen, gewissermassen, stehen, wo sie ist.

Der Film zerfliesst, die Gegenwart ist kein Gefängnis mehr, dem man nicht entrinnen kann. Die Mauern der Vergangenheit und der Zukunft öffnen sich, von meinem Bauch aus macht sich siedendheiss eine überwältigend allgemeine, grund-lose Trauer in mir breit, greift wie eine Welle wie über mich hinaus. Ich weiss, dass diese Hütte ein Kastell ist; so muss es auf jeden Fall sein, wenn alles seine Ordnung haben soll. Dass ich Don Quichotte bin, obwohl ich keinen Bart und keine Rüstung und keine Bartschüssel als Helm trage, steht ausser Zweifel. Und jener dort ist Sancho Pansa, mein guter schlauer verfressener Sancho. Wunderbar. Jeder weiss, wo er in dieser Geschichte hingehört. Das nenn ich Heimat, das nenn ich Glück.

Der Film beginnt wieder zu laufen, der andere Film, der mit den farbigen Bildern und mit Geräuschen, die jemand erzeugt, der hastig eine Flasche leer trinkt. Der junge, grossäugige Mann wirft die Flasche mit überraschender Kraft in eine dunkle Ecke der Hütte, die Tonspur gibt im passenden Moment ein ziemlich lautes, klirrendes Geräusch von sich. Der junge Mann streckt aggressiv seinen Zeigefinger in meine Richtung.

«Es geschieht dir übrigens recht, dass du in dieser elenden Hütte gelandet bist, ein Verfolgter der misericordianischen Behörde bei einem Verfolgten der misericordianischen Gesundheitsbehörde. Du bist an allem, was dir passiert, selber schuld.»

Ich mag darauf nicht antworten. Ich bin müde.

«Denn vielleicht», fährt er rücksichtslos weiter, «warst du ja in der so genannten Vergangenheit ein Monster: die Verkörperung der Boshafftigkeit. Eine Drecksau. Ein Scharfrichter. Ein Folterer, ein Massenmörder, ein Schlächter, ein Nazi, ein Diktator, ein Verräter, ein Tyrann. Oder aber einfach nur ein mieser kleiner Ganove und Verbrecher, ein Hlefershelfer und Scharfrichter, ein Befehlsempfänger und lakai, ein Feigling, ein Denunziant, ein Opportunist und Profiteur. Und die stecken alle noch in dir wie die Puppen in der russischen Puppe. Ja, so wird es sein.»

Die grossen Augen des jungen Mannes glänzen befriedigt. «Und an all dem bist ja vermutlich nicht einmal selber schuld. Es ist das Regiment deiner Instinkte, deiner Gene, das aus dir spricht.» Hätte ich ihn doch nur in seinem Bündel gelassen, denke ich ärgerlich. Ich bemerke, dass ich friere.

«Du denkst wohl, er werde einmal abgetragen sein, der Berg aus Schicksal, den du mit dir herumschleppst? Weit gefehlt! Es gibt nämlich auch ein Karma, das aus der zukunft in die Vergangenheit wirkt. Du leidest jetzt für Untaten, die du erst noch begehen wirst. Ziemlich gemein, oder? Zeit und Raum und wir, die wir in Zeit und Raum geworfen sind, und Ursache und Wirkung, das alles bildet einen Klumpen, eine komplexe Einheit. Wir meinen zu fliehen. Wir meinen, dem entgegenzurennen, was wir als scheinbaren Streifchen Horizont am Himmel interpretieren, weil wir es so ersehnen, erhoffen oder weil wir vielmehr die Hoffungslosigkeit nicht ertragen. Aber die Hoffnungslosigkeit ist genau so irreal wir die Hoffnung, ein reines Hirngespinst wie fast alles, was der Mensch als bare Münze zu nehmen sich herausnimmt.»

Ich bin müde, so müde. Die Reden des Irren erschrecken mich nicht, sie langweilen mich bloss und schläfern mich ein. Wie lange ist es jetzt schon her, seit ich die Grenzen Misericordias passiert habe und seither ganz ohne Schlaf auskommen musste? Natürlich, ich bin selbst schuld, an allem selbst schuld, von mir aus. Ist mir doch scheissegal. Ich schliesse die Augen.

Vielleicht bin ich tatsächlich nur Gedanke im Hirn eines Gottes, oder Traumfetzen, aber was heisst da schon Gott, Hirn, Gedanke, Traum; und vielleicht ist dieser «Gott» auch wieder nur ein Gedanke oder Traumfetzen im Hirn eines anderen Gottes, oder vice versa. Und vielleicht werden auch aus meinen Traumfetzen und Gedanken Welten geboren, vielleicht sind auch sie wieder Götter, die neue Kinder gebären, ganz aus sich selbst heraus. Sie fallen aus dem weichen Mutterschoss ins leere All, ein Klümpchen Kraft in einer immensen Leere.

Ich lege mich nieder, flach auf den Boden, fröstelnd. Meine Gedanken verselbstständigen sich, werden zu einer Musik, absichtslos, aber unendlich tröstlich, der Moment des Einschlafens ist wie Heimkommen, eine kleine Erlösung. Bevor das Licht der Kerze erlöscht, sehe ich, wie der junge Mann wieder zu einem Bündel auf einem Boden wird. Ich wollte es erkunden mit meinen Sinnen, ertasten mit meinen Händen, erlauschen mit meinem Ohr. Doch jetzt ist es nur ein leeres Bündel auf dem Boden, ein schwarzes Ding in einem schwarzen Ding…

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