Dienstag, 2. Juni 2009

Der goldene Adler



Ich träume.
Vor dem Hintergrund eines dunklen Waldes oder im Wald selbst auf einer Lichtung kommt es zu seltsamen Verwandlungen, deren Ergebnis schwer definierbaren Figuren sind; aber die Verwandlung scheint immer im Gang und nie vollendet zu sein, Vögel entwachsen den Zweigen, Raubkatzen dem Gebüsch, Hunde dem Erdboden, indes die Frauengestalt in Strauchwerk und Baum übergeht.
Ein Zustand ohne Leiden, ohne Freude, ohne Schmerz, ohne Ziel, ohne Warten.
Der Mutterboden der Existenz, gross und weit und warm und fraglos richtig.
Ich seh die Landschaft, Ufer des Flusses, Hügel und Ebenen, aus irgendeinem verlassenen Raum heraus, allein mit nichts als ein paar übrig gebliebenen Geräten ohne Funktion: Heimat meiner Kindheit. Stets wechselnde Landschaft unter einem wechsellos blauen Himmel, und sie erscheint mir immer wieder neu, als sähe ich sie zum ersten Mal, unbetretbar ist sie und voll tiefer Melancholie.
Ich wechselte ständig die Orte, immer alles zurücklassend, Bilder, Vergangenheit, Bruchstücke des Schicksals, Ballast, wie sollte ich das alles mitschleppen, die Bilder vergass ich in Ausstellungen abzuholen, oder die Conçièrge behielt sie zurück für ausstehende Miete, der Wirt für Schulden in der Kneipe. Ich wollte nirgendwo hin, nur fahren, in Bewegung sein, Bahnhöfe übten eine magische Anziehung auf mich aus. Ich mietete mich in jeder Stadt, wenn es ging, in der Nähe des Bahnhofs ein. Abends ging ich in meinem zerschlissenen schwarzen Anzug in die Bahnhöfe, um mir die Züge anzuschauen, und etwas Geld in der Tasche genügte oft, der Versuchung nicht zu widerstehen, weg zu fahren. Das, was ein Ausflug hatte werden sollen, wurde ein Jahr oder mehr irgendwo in der Fremde, und die Fremde ist überall.
Nachts ging ich durch Paris, durch die Strassen von Montparnasse, immer im selben schwarzen Anzug, meist ohne Geld, scheu, kaum ansprechbar, sass in dem oder jenem Café, Select, Café du Dome, La Coupôle, und trank ein einziges Glas Pernod – oder zwei -, um wieder zu verschwinden, zurück in mein billiges Zimmer, zurück zum Bett, zum Tisch, zum Stuhl, zum Ofen, zur Lampe, zur Staffelei.
Später lebte ich in einem Gartenhaus, drei mal drei Meter im Quadrat, mit dünnen Wänden, unheizbar, ich hätte auch gar keine Kohlen gehabt. Eis glitzerte an den Wänden. Ich malte mit fast erforenen Fingern, peinlich exakt, Strich für Strich, die Hand auf den Malstock gestützt, Bilder, die ich dann für ein Butterbrot oder eine Flasche Schnaps verkaufte, oder die ich wieder zerstörte.
Zurück beförderte in den anthropomorphen Mutterboden, aus dem sie aufgestiegen waren.
Nie war ich jemandem zu Diensten, nie habe ich eine andere Autorität anerkannt als meine eigene Erfahrung.
Die Wahrnehmungsfähigkeit meines goldenen Adlers.
Bisweilen bin ich so hoch in die Lüfte gestiegen, wie es nur möglich war. Es ist köstlich, mit anderen Sinnen wahrzunehmen. Die Wahrnehmung des Adlers ist Gelassenheit. Die Wahrnehmung des Adlers ist Tod. Die Wahrnehmung des Adlers ist Trance.
Ich wäre arm dran ohne meinen goldenen Adler.
Die Welt des Menschen ist anders. Wenn aus den versteinerten und unbetretbaren Wäldern, aus den erstarrten Wassern und Pflanzen Schädelstätten werden, wenn sich Geröll und Gewölk zu undefinierbaren Massen verdichtet, wenn in den Felswänden Taubenköpfe, Lammköpfe, Hundsköpfe mit erschreckten kreisrunden Tieraugen und abbröckelnde Habichtprofile erscheinen, so sieht uns aus ihnen eine aufgestörte und abgewiesene, zurück gestossene und unerlöste Gegenwart an, die nicht zur Ruhe gekommen ist und uns nicht zur Ruhe kommen lässt.
Die ganze Welt, so glaubt er manchmal, hat in einem kleinen Koffer Platz. Auf dem Koffer klebt zur Bezeichnung des Reiseziels eine Etikette mit der Aufschrift «Wirklichkeit». Dem Bild vor mir auf der Staffelei entsteigt etwas mit mächtigen Schwingen und beschattet für einen Moment mein Gesicht.

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