Freitag, 5. Juni 2009

Jugend, das ferne, fremde Land




Es war einmal ein alter Mann, der lebte in einem grossen dunklen Haus, das in einem grossen, verwilderten Garten am Rande der Stadt stand. Da lebte er und wartete – und wusste eigentlich nicht, worauf er wartete. Auf den Tod? Nein, auf den Tod braucht man nicht zu warten, der kommt von allein. Auf die Königin? Wohl möglich, aber die Königin war aus einem Märchen und er ein alter Mann, kein Prinz. Obwohl er also nicht wusste, worauf er wartete, waren seine Sinne doch innerlich stets gespannt auf ein noch unbekanntes Ereignis, das, wie er wusste, ohne Zweifel irgendwann eintreten musste.

Er vertrieb sich die Zeit des Wartens damit, dass er Zeitungsbilder sammelte und sorgfältig in grosse schwere Alben einklebte, Bilder von ineinander verkeilten Autowracks, sich küssenden Staatsoberhäuptern, zerbombten Häuserzeilen, strahlenden Schönheitsköniginnen, Feuerwehrleuten am Unfallort beim Abtransport beschädigter Fässer mit chemischen Substanzen und so weiter.

Das war der einzige Kontakt des alten Mannes mit der ihn umgebenden Welt. Schon seit Jahren war er nicht mehr aus Haus und Garten herausgekommen. Ein Diener, der fast ebenso alt war wie er und zudem taub, sorgte für sein leibliches (und wohl auch ein bisschen für sein seelisches) Wohl. Die beiden, Diener und Herr, kannten sich so gut, dass sie in ihrem gegenseitigen Verkehr auf Worte verzichten konnten.

Wie der alte Mann in das grosse dunkle Haus überhaupt gekommen war und damit zu seiner abgeschiedenen Lebensweise, das wusste er selbst nicht mehr recht, das lag wie in einem Nebel weit hinter ihm zurück. Und jenes ständige untergründig lauernde Warten auf das nicht zu benennende Etwas, das er kommen fühlte, drängte das Vergangene oder die Erinnerung an das Vergangene wohl noch weiter in diesen Nebel hinein.

Wenn man ihn nach diesen Dingen gefragt hätte – nach dem Woher und Warum –, dann hätte er wohl geantwortet, dass das Schloss, wie er das grosse Haus für sich nannte, der Königin gehört habe, die Königin aber längst gestorben und mit ihr jeder Glanz der Welt verschwunden sei. Seither sei alles wie tot und leer. Er wolle nur noch in diesem Haus leben, weil hier das reich der Königin, in immer enger und enger werdenden Kreisen, ihre letzte und höchste Konzentration gefunden habe, bis die Königin ins Nichts verschwunden sei. Und dann, nach dieser ungewohnt langen Rede, hätte sich der alte Mann erneut mit der Lupe über die aufgeschlagenen Zeitungen und die grossen Alben gebeugt, ab und zu einen Schluck von dem Wein nehmend, den der alte Diener vorsorglich in einer Karaffe bereitgestellt hat.

Eines Tages, der Diener hatte ihm soeben einen neuen Stapel Zeitungen gebracht, sass er wieder an seinem Tisch und blätterte und schaute, aber nur ganz obenhin, denn er war heute noch tiefer als sonst in den alt bekannten Zustand des Wartens versunken. Er schaute wie aus einem tiefen Brunnen aus sich heraus. Im Hintergrund des Zimmers tickte die Standuhr lauter als sonst.

Der alte Mann hält mit Blättern inne. Einem ganzseitigen Inserat vor seinen Augen gelingt es, die in dem tiefen Brunnen des Innern hockende Aufmerksamkeit des alten Mannes hervorzulocken. Da heisst es in fetten Lettern: BESUCHEN SIE DAS LAND DER JUGEND; DAS FERNE FREMDE LAND. Darunter ist in fast fotografischer Genauigkeit das Bild eines nackten Kindes zu sehen, das vom Betrachter weg auf das Meer zu rennt, der riesigen rotgedunsenen Abendsonne entgegen. Nähere Auskünfte, stand da noch, erhalten Sie in einem unserer Büros der Firma «Abenteuerreisen für Jedermann».


Der alte Mann schüttelt den Kopf, schneidet dann aber doch mit seiner grossen Schere das Inserat aus der Zeitung heraus und hält es es eine Weile unschlüsssig in der Hand. Er weiss nicht, wo er es einkleben soll. Schliesslich legt er das Blatt einfach vor sich auf den Tisch und trinkt den letzten Rest Wein aus dem Glas.


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In dieser Nacht hat der alte Mann einen ungewöhnlichen Traum. Es beginnt wie immer mit den Bildern aus den Zeitungen, die sich aus ihrer Erstarrung lösen und mit Leben zu füllen beginnen und an seinem innern Auge vorbeiziehen wie ein Film. Und dann langt er im Traum bei dem Inserat mit dem nackten Kind an, das er zwar herausgeschnitten, dann aber nicht, wie es seine Gewohnheit ist, in eine Ordnung gebracht, sondern unerledigt hat liegen lassen.

Und nun sieht er sich im Traum seit langem zum ersten Mal wieder durch die Strassen der Stadt gehen und nach dem Reisebüro suchen. Aber niemand, den er fragt, kennt die Firma «Abenteuerreisen für Jedermann». Der Alte findet das Gehen durch die Strassen sehr anstrengend. Die Stadt hat sich, seit er sie das letzte Mal gesehen hat, ziemlich verändert, hat grössere und gröbere Dimensionen angenommen, ist bunter und lauter und schneller geworden und hat einen intensiven, wenig angenehmen Geruch angenommen.

Da steht er aber plötzlich in einem angenehm dämmrigen Raum und die Geräusche der Stadt ebben zurück. Der alte Mann steht still, fühlt, wie ein kühler Hauch den Schweiss von seiner fiebrigen Stirn trocknet. Vor ihm sitzt in einem grossen Sessel ein Mann mit langem weissem Bart, dessen Gestalt in ein weites, rotes Gewand gehüllt ist. Sankt Nikolaus oder der Liebe Gott. «Was willst du, mein Sohn?» hört er aus dem bärtigen Gesicht eine gütige Stimme sprechen. Aber der alte Mann weiss nun nicht mehr, was er gewollt hat, er steht nur da und fühlt sich endlich, endlich von diesem dumpf untergründigen Gefühl des Wartens befreit. Wie wenn man sich nach einer Wanderung der Last eines schweren Rucksacks entledigt und nur noch den Gegendruck, mit dem man sie bewältigte, wahrnimmt, spürt er die Abwesenheit dieses Gefühls, und die plötzliche Leichtigkeit des Seins ist schier unerträglich. Er fühlt sich von Wirbeln gepackt und in die Luft gehoben, jetzt sieht er die Stadt und auch das Schloss am Rande der Stadt von oben und von weit weg, als würde er durch ein verkehrt gehaltenes Fernrohr blicken. Und wird kleiner und kleiner, bis alles verschwunden und nichts mehr übrig geblieben ist.


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Als er erwacht, liegt er in einem grossen, weichen Bett, und seine kleine Hand liegt vor ihm auf dem rot karierten Kopfkissen. Sein Haar ist noch immer nass vor Angst, aber die Mutter, die Königin, sitzt bei ihm und sagt: «Es ist ja alles gut, mein kleiner Engel, du hattest Fieber und einen schlechten Traum. Hier, trink den Tee, ich habe ihn dir mit Honig gemacht, dann wirst du wieder bald gesund.» Und sanft streicht sie dem Knaben übers Haar.

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