Montag, 3. März 2008

Ein reizender Herr aus Anderswo




Als er aus der Kühle der Bahnhofshalle ans blendende Licht trat, warf sich die Hitze des Tages wie ein feuchtes schweres Tuch über ihn. Er stellte fest, dass er viel zu warm angezogen war für diesen Sommertag. Es lag am geschlossenen Jackett. Er gab viel auf ein gepflegtes Äusseres, und da galt es eben, Konzessionen zu machen und zu leiden.
Man schrieb den 29. Juni 1899, und der hoffnungsvolle junge Schriftsteller, der erst vor kurzem seine erste Novelle veröffentlicht hatte und jetzt an einem grossen Roman arbeitete – er sollte «Buddenbrooks» heissen – befand sich auf einer kurzen Urlaubsreise aus München in Zürich. Er hatte einfach mal wieder wegfahren, ausreissen müssen. Das Fernweh, ja, das Fernweh war schuld daran, dieses ziehende, lockende, zerrende Gefühl in der Brust. Auch hatte er gehört, dass es in der schweizerischen Stadt an der Limmat ungewöhnlich viele Künstler und sensible Männer gebe. Denn er wusste, dass er selbst im Grunde genommen einer dieser sensiblen Männer war, ein heimatloser Herr aus Anderswo. Vor anderen hätte er das natürlich nie zugegeben. Er gab es nicht mal vor sich selbst gerne zu. Das Unberechenbare, das mit der Neigung der Sensiblen verbunden war, machte ihm Angst: er empfand es als Strudel, als verschlingendes Chaos, hielt es für unlebbar. Und doch gab es Momente wie diesen: im viel zu warmen Jackett vor dem Bahnhof in einer fremden Stadt, mit dieser wilden Sehnsucht in der Brust. Er überlegte, wohin er seine Schritte wenden sollte. Es war erst früher Nachmittag, aber er war viel zu müde, um die Stadt zu erkunden. Er war ja auch nicht als Tourist hierhergekommen. So liess er sich einfach treiben, die Bahnhofstrasse hinunter und durch den Rennweg die Fortuna-Gasse hinauf auf den Lindenhof. Hier, auf diesem Platz über der Stadt mit den breitausladenden Bäumen, wollte er ausruhen. Er setzte sich auf eine der roten Bänke und fühlte sich völlig erschöpft. Er hatte die letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen. Wie im hohen Fieber hatte er Bilder von unaussprechlicher Laszivität halluziniert, ausgelöst von einer Beobachtung am Vortage, als er von seinem Schreibtisch aus – er versuchte, an «Buddenbrooks» zu arbeiten – einen jungen Tischler oder Zimmermann, wahrscheinlich noch ein Lehrbube, bei der Arbeit beobachtet hatte. Der Anblick des schlanken, muskulösen Mannes mit den jungenhaften Gesichtszügen und dem schwarzglänzenden Haar hatte ihn fast verrückt werden lassen. Einmal, so schien es ihm jedenfalls, hatte der Handwerker seinen Blick erwidert und ihn sogar verwegen angegrinst. Doch vielleicht hatte er sich das auch bloss eingebildet. Auf jeden Fall war er mit seinem Roman um keine Zeile weitergekommen. Und jetzt sass er im Lindenhof in Zürich und fragte sich, was er hier überhaupt wollte.

Er beobachtete drei alte Männer, die im Kies ein Spiel mit glänzenden Kugeln spielten. Eine Mutter mit ihrem kleinen Kind. Er fühlte sich schläfrig und ihm war, als könnte er ewig hier so sitzen. Gedämpft drangen von weit her die nachmittäglichen Geräusche der Stadt an sein Ohr, und für eine Weile wusste er nicht mehr, ob er wach war oder schlief. Aber dann, ganz unverhofft, tauchte eine Gestalt in seinem Blickfeld auf, deren Anblick ihn auf einen Schlag hellwach werden liess. Es war ein kleiner, zierlicher, sehr hübscher Bursche dunkler Hautfarbe, sehr fremd und unerwartet an diesem Ort, ein malaiischer oder indochinesischer Typ, wie er vermutete. Wie kam dieser Mensch in diese Stadt, fragte sich der Dichter, und wieso war er so seltsam angezogen? Der Bursche blieb etwa fünf Meter vor ihm einfach stehen und lächelte ihn an. Wie gelähmt sass der Dichter auf seiner Bank und konnte seinen Blick nicht von dieser Erscheinung lassen. Der Bursche trug dunkle Sonnengläser, so dass der Dichter seine Augen nicht sehen konnte, aber er war sicher, dass der Junge den Blick auf ihn gerichtet hatte. Er konnte es geradezu körperlich fühlen: ihm schien, als richte sich jedes Härchen auf seinem Körper auf. Der Junge war eigenartig angezogen, überhaupt nicht der Mode der Zeit entsprechend, aber diese Bekleidung – eine Art Unterhemd, blendend weiss auf der braunen, samthäutigen Haut, ohne Ärmel und so eng am Körper, dass man die kleinen, aufgerichteten Brustwarzen sehen konnte, eine hautenge, blaue Hose aus derbem Stoff, Schuhe mit hohen Absätzen, wie er sie noch nie gesehen hatte, dazu trug er ein goldenes Kettchen um den Hals und einen goldenen Ring im Ohr – war nicht nur eigenartig, sondern auch sehr erotisch, denn sie liess den schlanken, kräftigen, unbehaarten Körper des fremden jungen Mannes unter dem Stoff mehr als erahnen. Wie eine Woge ergriff den gesamten Organismus des Dichters eine niegekannte Erregung, die jene des Vortags beim Anblick des Handwerkers noch um ein Vielfaches übertraf. Beschämt nahm er zur Kenntnis, dass seine Männlichkeit nicht nur stand wie eine Eins, sondern dass seine Eichel bereits feucht wurde vor Lust.

Während sich der Junge ihm näherte, lächelte dieser ihn womöglich noch breiter an. Schliesslich ergriff er seine Hand und streichelte sie kurz. «Hallo», sagte er in einem komischen Englisch, «I am Nui from Thailand. I make holiday here. I can show you a place. Very interesting for you. Come!»
Diese Aufforderung duldete keine Widerrede. Als der Dichter aufgestanden war, wurde ihm schlagartig bewusst, dass jedermann seine Erektion deutlich sehen konnte. Er schämte sich sehr, aber der dunkle Bursche zog ihn schon an der Hand den Lindenhof hinab, ausserdem war es inzwischen bereits dunkel geworden, worüber sich der Dichter nach allem aber auch nicht mehr allzusehr verwundern mochte. Der Junge führte ihn durch Gassen und Gässchen und an lärmigen Kneipen und Menschengruppen vorbei, die der Dichter nur verschwommen wahrnahm. Schliesslich standen sie vor der offenen Tür eines sehr alten Hauses – der Dichter hatte längst die Orientierung verloren – und der Junge sagte, indem er auf die Treppe deutete, die nach unten führte, und auf das rötliche Licht, dass von unten heraufdrang: «Go down here. Bye bye darling. See you maybe again in another life.» Der Dichter war zu perplex, um etwas zu sagen, und als er endlich seine Sprache wiedergefunden hatte, war der schöne junge Mann bereits im Dunkel der Nacht verschwunden.

Das Herz des Dichters war schwer, als er langsam die Treppe hinunterstieg. So kurz die Begegnung auch gewesen war, so sehr hatte sie ihn seiner Sehnsucht bewusst werden lassen. Nie würde sich diese namenlose Liebe für ihn erfüllen, nur im Traum oder in einem Moment der Trunkenheit liess sich diese Erfüllung erahnen.
Die Treppe führte hinunter zu den Katakomben der Stadt. Der Untergrund war sozusagen die Stadt unter der Stadt, und in dieser gab es ein geheimes Leben. Nachdem ihm ein wohlwollender, stummer Butler das Jackett abgenommen hatte – denn es war auch hier unten angenehm warm, und hier war Anderes als in der «Oberwelt» comme il faut – tauchte der Dichter ein in diese alternative Welt, in der alle Regeln der Logik auf den Kopf gestellt schienen. Dass er mit einem jugendlichen Oscar Wilde, der übrigens sehr feminin wirkte und äusserst elegant, aber auch extravagant aufgemacht war, ein Glas Champagner trank und dieser ihm erzählte, wie es mit Bosie wirklich war und was er in Reading so alles erlebt hatte – das meiste war fürchterlich, aber es gab auch einige erregende Momente – ging ja noch an, denn Wilde war immerhin ein (noch) lebender Zeitgenosse, auch wenn er auf dieser Party ganz und gar nicht wie ein fünfundvierzigjähriger, gebrochener Mann wirkte und auch immer wieder von kommenden Zeiten redete, in denen für sensible Männer alles anders und die mannmännliche Liebe auch in der Oberwelt quasi legitimiert, auf der anderen Seite dadurch aber auch zu etwas Gewöhnlichem werde, und das könne man ja auch nicht wünschen, nicht wahr? Aber da gab es auch andere Gestalten, solche aus der Vergangenheit – der dicke Shakespeare etwa und der kahlköpfige, knollennasige Sokrates, der jedem hübschen Jüngling, dem er begegnete – denn solche gabs natürlich haufenweise, und für Sokrates war auch ein vierzigjähriger Bierbauch ein hübscher Jüngling – mit gierigen Wurstfingern an den Hintern griff – und solche aus der Zukunft – zum Beispiel ein äusserst leutseeliger, netter Herr, der zwar etwas verklemmt auf seinem Stuhl sass, aber mit äusserster Empathie in sein Gegenüber geradezu hineinkroch. Er nannte sich Alfred, Alfred Biolek («Du kannst Bio zu mir sagen»), und er trat im Fernsehen auf. Ein Fernseher sei ein Kasten mit einer Scheibe, die wie ein Spiegel bunte, bewegte Bilder zeige und Töne von sich gebe, und in diesem Kasten trete dann und wann eben auch der nette Herr auf. Das war für den Dichter nur schwer vollstellbar, bis er später solche Kästen in anderen Räumen des Labyrinths tatsächlich zu Gesicht bekam. In ihnen war allerdings gerade nicht der nette Herr zu sehen, sondern ein exzentrischer junger Engländer mit grünen Haaren, einem grellrot geschminkten Mund und wundervoll gekleidet, der sang ein Lied zu einer barbarischen Musik und wurde Boy George genannt. Natürlich gab es auch frauenliebende Frauen da unten: er wurde der Dichterin Mercedes de Acosta vorstellt, trank einen Kaffee mit der Schauspielerin Inge Meysel und rauchte ein Pfeifchen Haschisch mit Gertude Stein. Die Dichterin Sappho hatte er erst gar nicht erkannt.

Es war eine sinnliche, aufregende und verwirrende Welt, in die er da geraten war. In dieser Welt wurde getanzt, geliebt und gelacht. Da gab es laszive Jünglinge und lederbekleidete Muskelmänner, feinsinnige Intellektuelle und vom Bacchus besessene Saftwurzeln, selbstverliebte Egomanen und hingebungsvolle Weltverbesserer, lustige und traurige Gestalten und solche, die über die Tragik des Lebens Bescheid wussten. Da gab es Männer und Frauen und solche, die zwischen den Geschlechtern standen. Und alle, alle waren sie anders. Das vereinte sie. Sie gehörten nicht zur Oberwelt, und sie genossen das.

Als er wach wurde – von einem Schmerz im Kreuz, wahrscheinlich verursacht durch die unbequeme Sitzposition auf der harten Bank –, merkte er nicht bloss, dass er das alles nur geträumt hatte, sondern auch, dass er nicht Thomas Mann war und schon gar nicht ein vierundzwanzigjähriger Thomas Mann, der soeben an seinem ersten Roman «Buddenbrooks» schrieb, sondern ein vierundvierzigjähriger gewöhnlicher schwuler Mann. Und man schrieb mitnichten den 29. Juni 1899. Immerhin stimmte, dass er auf einer Holzbank im Lindenhof sass und auf die Limmat und das Limmatquai hinunter sehen konnte. Auch die boule-spielenden alten Männer existierten, die Mutter mit dem Kind. Es war nicht mehr oder noch nicht Nacht, und die frühsommerliche Sonne filterte ihr Licht durch die Kronen der Bäume. Und nun tauchte sogar der junge Asiate wieder auf, blieb zwanzig Meter von ihm entfernt stehen. Doch, es war genau derselbe wie im Traum. Er hatte dasselbe herausfordernde Grinsen im Gesicht, und trotz der Sonnenbrille war der ältere Schwule auf der Bank sich sicher, dass der schöne Junge seinen begehrenden Blick erwiderte.

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