Freitag, 4. Juli 2008

Auf dem Salzhügel




Meldung der Associated Press ap, 1. November 2007: «Paul Tibbets, der 1945 die erste Atombombe über Hiroshima abwarf, ist im Alter von 92 Jahren gestorben. Er erlag einer längeren Krankheit, wie ein enger Freund mitteilte. Tibbets flog am 6. August 1945 als Pilot der ‹Enola Gay› nach Japan, wo die 14-köpfige Besatzung die fünf Tonnen schwere Bombe ‹Little Boy› abwarf. Bei der Detonation kamen in Hiroshima zwischen 70'000 bis 100'000 Menschen ums Leben, unzählige weitere erlitten schwerste Verletzungen.
Tibbets verteidigte seinen Einsatz zeitlebens als seine ‹patriotische Pflicht› und verbat sich Kritik daran. ‹Ich bin nicht stolz darauf, dass ich 80.000 Menschen umgebracht habe – aber darauf, dass ich mit nichts angefangen habe, es plante und dass es dann so perfekt funktionierte›, sagte er 1975 in einem Interview. Man müsse berücksichtigen, dass sich das Land damals im Krieg befunden habe. ‹Ich schlafe jede Nacht gut›, beschied er Fragen nach Schuldgefühlen.
Zum 60. Jahrestag des Bombenabwurf sagte er 2005, er sei sich, als er den Befehl erhalten habe, bewusst gewesen, dass dies eine ‹emotionale Sache› sein werde. ‹Wir wussten, dass es links und rechts Menschen töten würde. Aber mein Hauptinteresse war dabei, bestmögliche Arbeit zu leisten, damit wir das Töten möglichst schnell beenden konnten›, sagte er der Zeitung ‹The Columbus Dispatch›.
Drei Tage nach Hiroshima wurden bei einem weiteren Atombombenabwurf rund 40'000 Menschen in Nagasaki getötet. An dieser Mission war Tibbets nicht beteiligt. Am 15. August kapitulierte Japan, und der Zweite Weltkrieg war zu Ende.
Tibbets verfügte, dass es für ihn keine Trauerfeier und keinen Grabstein geben solle. Damit wollte er Demonstrationen verhindern und keine Pilgerstätte für mögliche Gegner des Atombombenabwurfs schaffen. Er wolle verbrannt werden, und seine Asche solle über dem Ärmelkanal verstreut werden, denn dort sei er immer gerne geflogen, sagte er 2005. Tibbets ging 1966 als Brigadegeneral der Luftwaffe in den Ruhestand. Danach betrieb er bis 1985 einen Luft-Taxi-Dienst, bevor er sich endgültig zur Ruhe setzte. Seine Rolle als Pilot des ersten Atombombenabwurfs brachte ihn jedoch bis zuletzt immer wieder ins Licht der Öffentlichkeit.»

In der Bucht von Galway herrscht ein wunderschönes Licht und alles ist in die unwahrscheinlichsten Farben getaucht, bald geht die Sonne unter, die unbarmherzige Herausforderin von Felix, dem die immer heisser werdenden Sommer ein Gräuel sind. Das Land ist flach und Felix hat einen Rundblick – hätte er, wenn er auch hinten und auf der Seite Augen besässe. Er ist hundemüde. Reisen findet er immer noch anstrengend – das ist wohl der Grund, warum er, als heimlicher Masochist, überhaupt reist, und erst noch im August (der nicht gerade sein Lieblingsmonat ist). Heute ist Sonntag, und Irland feiert Bank Holiday (Zufall, dass diese Feiertage gerade mit dem 50-Jahre-Gedenken an den A-Bomben-Abwurf auf Hiroshima zusammenfallen, weshalb die «Irish Times» denn auch einen minutiösen Ablauf der damaligen Ereignisse veröffentlicht hat) und alle Bewohnerinnen und Bewohner der Insel sind zusammen mit Felix in Galway gelandet. Felix hat die Ruhe gesucht und ist vor den mitteleuropäischen Hundstagen geflüchtet – und im heissesten Sommer gelandet, den Irland seit dreissig Jahren erlebt. Trotzdem ist es hier natürlich nicht im mediterranen Sinn heiss, die Sonne hat aber doch eine irreführende Kraft (eine durch den kühlenden Meerwind irreführende Kraft), und Felix holt sich während eines Spazierganges auf den Klippen von Howth (noch in der Nähe von Dublin) einen kleinen Sonnenstich, jedenfalls ist er heute morgen mit gigantischen Kopfschmerzen erwacht (am Bier kann es nicht gelegen haben, so viel getrunken hat Felix nicht). Nach einer Nacht also, in der Felix im viel zu kleinen Zimmerchen in Frankies Guesthouse schlecht geschlafen hat, kommt ihm die goldige Idee, dass es vielleicht doch besser wäre, ein Zimmer in Galway vorzureservieren (was man auf der Tourist-Information tun kann). Felix eilt also in Dublin aufs TI-Büro und hat noch genau eine Stunde Zeit bis zur Abfahrt seines Zugs, aber die Nummer 83 gezogen, und jetzt ist erst die Nummer 62 dran oder so und nach zwanzig Minuten sind sie erst bei der Nummer 66, das kann ja heiter werden. Felix wird ein bisschen nervös, hat dann aber das Glück, einem Deutschen, der zwei Nummern gezogen hat, die Nummer 67 abzuschwatzen, nein: geradezu abzufordern. Und da bekommt Felix dann eben die Auskunft, dass wegen Bank Holiday in Galway schon alles ausgebucht sei, dass es aber im Warwick Hotel in Salthill, einem Vorort von Galway, noch freie Zimmer habe. Und so ist Felix nach drei Stunden Zugfahrt hier auf dem Salzhügel gelandet.

Felix hat inzwischen das dritte Zimmer im Warwick-Hotel bezogen. Erst nächtigte er in der Nummer 24, dann in der Nummer 62, jetzt in der Nummer 12. Die 24 ging ja noch, aber die 62 war schrecklich, gegen Sonnenuntergang hin gelegen und unerträglich stickig und heiss. Auch sonst war ihm der Raum aus Gründen, die er nicht hätte benennen können, äusserst unangenehm, er wurde direkt hysterisch. Ausserdem war unmittelbar unter dem Zimmer Tanzabend und auch sonst drang Lärm oder so genannte Musik bis tief in die Nacht von unten an seine sensiblen Ohren. Also machte er einen Aufstand und bekam die Nummer 12, mit der er nun ganz zufrieden ist. Hier bleibt Felix, hier lässt er sich nicht mehr vertreiben!

Heute war Felix auf den Cliffs of Mohair, die beeindruckend steil und geradezu dramatisch in den Atlantik abfallen. Natürlich war’s zu sommerlich trivial, nämlich läppisch blauhimmlig statt mystisch vernebelt für den wirklichen Effekt. Trotzdem fand Felix den Ort geradezu ideal für einen dramatischen Abgang, sozusagen die ideale Suizid-Destination für die pathetische Person. Sollte man den irischen Behörden mal als Marketing-Idee vorschlagen. Wenn schon sich umbringen, dann mit einem effektvollen Sprung in diese Tiefe. Natürlich würde sich der Ort auch für Mord ganz gut eignen. Felix hatte für Momente das Bild eines Amokläufers oder vielmehr -stossers vor Augen, der zuerst einige Touristen in die Tiefe befördert, von denen weiss Gott genug hier oben herumstehen, um dann selber runterzuspringen. Das wäre möglich. Aus dem Stoff solcher Anfechtungen entstehen Geschichten – als Ausweg sozusagen.
Natürlich sah Felix noch anderes vom Touristenbus aus heute, Landschaften, Ruinen, historische, um nicht zu sagen: prähistorische Stätten, Menhire oder Druidensteine oder wie der Plunder heisst. Den ganzen Tag hat er kaum ein Wort mit jemandem gesprochen. Ist wohl seine introvertierte Phase these days. Felix ertappt sich immer wieder beim fast panischen Plänemachen für die kommenden Tage, idiotisch. Zurück in Galway entdeckt er, dass er seine absolut unentbehrliche Kappe (in der er zwar saublöd aussieht, Felix ist weder der Kappen- noch der Huttyp, das nun schon gar nicht) verloren hat. Er muss sich sogleich eine neue kaufen, ein noch schrecklicheres Teil als die alte Kappe, er sieht mit diesem Ding auf seinem runden Kopf wirklich bescheuert und irgendwie halslos aus, wie eine Abnormität von einem Pilz. Aber egal. Immer noch besser als ein weiterer Sonnenstich. Dann tröstet er sich mit einer Flasche Apfelwein der Marke Balmers, worauf er sich gestärkt zu Fuss auf den Weg zurück auf seinen Salzhügel macht. Dem folgt ein Bad im Hotel, ein bescheidenes Mal in einem Fastfood-Restaurant (Reis mit Hühnchen an Currysauce), ein Pint Bier in einem Pub, ein Film im Provinzkino mit dem Titel «Bad Boys», nochmals zwei Pints in verschiedenen Lokalen. So sieht das Leben von Felix in Irland aus, meine Damen und Herren!

Gestern Nachmittag war ein erster Höhepunkt seiner Reise, nach der ärgerlichen, schlaflosen Nacht in der stickigen, unsympathischen Nummer 62. Aus Ärger und Panik hatte er da wirklich zuviel Bier getrunken («A pint of Lager», sogar ein Guinness, obwohl er dieses ölige schwarze Zeug eigentlich gar nicht mag) und war obendrein wieder mit Kopfschmerzen erwacht. Doch dann geht’s ab auf die Aran-Inseln. Die Busfahrt zum Hafen von Rossaveal wird ihm bitter versüsst durch die Gesellschaft eines europäischen und eines japanischen Jungen, die Felix zwar nicht beachten, die dafür aber von Felix umso genauer beobachtet werden. Die beiden machen ihn besessen, er fantasiert sie als ein Paar. Vielleicht sind sie es ja, wahrscheinlich aber nicht. Felix verfolgt sie geradezu, den ganzen Tag, richtig süchtig, wehmütig, sehnsüchtig, traurig. Er hat ein Abschiedsgefühl dabei, das Gefühl, dass er so etwas (oder so etwas Ähnliches) nie mehr erleben wird in dieser Felix-Existenz.

Durch die Überfahrt mit dem Schiff wird Felix euphorisiert. Mit dem Schiff zu reisen vermittelt ihm ein extremes Wohlgefühl – er findet es beruhigend und befreiend. Mit allen anderen Verkehrmitteln reist man, um irgendwo anzukommen – mit dem Schiff kann man auch nirgendwohin fahren. Going nowhere, wie es in einem Song von Pink Floyd heisst. Etwa ein Dutzend Delphine begleiten zeitweise das Schiff, zum Greifen nah. Sie sind schneller als das Schiff, schwimmen in einem irrsinnigen Tempo direkt vor dem Bug, sie scheinen mit dem Kahn zu spielen. Was für Wesen!

Überhaupt ist es ein Tag der Tiere für Felix, und ein Tag der Tiere ist, wenn es sich bei diesen nicht gerade um bissige Hunde oder giftige Schlangen oder so was handelt, normalerweise ein guter Tag. Als Felix sich in einer Bucht auf dieser verrückten, baumlosen Insel in den Schatten eines Mäuerchens legt, um ein wenig zu rasten, ist da auch ein herrenloser, offenbar alter und nicht gerade schöner, aber glücklicherweise ganz und gar friedlicher Hund, der seine Nähe sucht, scheu, zutraulich, selbstverständlich. Mit vollendeter Freundlichkeit macht der Hund einen Annäherungsversuch, lässt sich ein wenig streicheln und kraulen, und dann liegen die beiden, Felix und Hund, eine Weile einfach nebeneinander im Schatten des Mäuerchens im Gras und dösen, bis Felix mit seinem oder vielmehr dem gemieteten Fahrrad gemächlich weiterfährt. Es hat aber auch Kühe, die in dieser völlig abgehobenen Landschaft wie in einem Song von Pink Floyd herumgrasen, einen Muni, Pferde. Kaum vorstellbar, dass an einem Tag wie diesem eine Atombombe vom Himmel fallen könnte. Auf der höchsten Klippe steht ein prähistorisches Ford. Felix hat, wie gesagt, ein Fahrrad gemietet und radelt den ganzen Tag ziemlich weit herum. Abends auf der Rückfahrt dann wieder der Japaner und sein Freund. Zurück im Hotel etwa um zehn ist Felix, der seit dem irischen Frühstück nichts mehr gegessen hat, so hungrig, dass er das kulinarisch an sich völlig unattraktive Mahl (Fisch, Chips, Erbsen, Salat, die irische dient wie die englische Küche zur Hauptsache der Kalorienzufuhr), mit Hochgenuss verspeist und seiner Mutter wieder einmal recht geben muss, die sagt, Hunger sei der beste Koch. Dazu schmeckt auch das Bier dem ausgedörrten Gaumen ganz wundervoll, so dass man ergänzen möchte: und Durst ist der beste Braumeister. Aber so was würde die Mutter von Felix natürlich nie sagen.

Tags zuvor war Felix am Lough Derrib, dem grössten See Irlands, und in den Connemara-Bergen. Manchmal Gespräche mit älteren, pfeifenrauchenden, rothaarigen irischen Herren. In den Pubs kommt es tatsächlich vor, das nicht nur alle Gäste, sondern auch das Personal aus dem Stegreif ein vielstrophiges Lied zusammen singen, oder nein: einer singt vor und der Rest fällt in den Refrain ein. Bald Vollmond. Felix singt natürlich nicht mit, und schon gar nicht laut. Es gibt sangesfreudige und weniger sangesfreuedige Länder. Irland gehört zweifelsohne zur ersten Kategorie, wie Holland, Italien, Mexiko oder Indonesien, wo sogar der Staatspräsident öffentlich schmalzige Liebeslieder zum Besten gibt (allerdings erst in ferner Zukunft, von heute, 1995 aus gesehen. Bis 1998 wird sich noch der alte Gauner Suharto an der Macht halten, der dann im Januar 2008 sterben wird. Der singende Präsident mit dem schönen Namen Susilo Bambang Yudhoyono kommt dann erst 2004). Die Schweiz gehört nicht zu den besonders sangesfreudigen Ländern, dazu sind die Schweizer zu mundfaul. Höchstens einen Jodler lassen sie sich manchmal entlocken.

Felix findet sich abscheulich hässlich, hat wieder diese Flecken im Gesicht und am Rücken, es ist furchtbar. Natürlich leidet sein ohnehin schon schwaches Selbstwertgefühl darunter, und jetzt, wo er Zeit hat, sich mit sich selbst und seinen Ängsten zu beschäftigen…
Heute in Clifden, mit dem Bus. Schöne Landschaft. Clifden ist besonders jetzt im August sehr touristisch, aber hinter dem Dorf gegen das Meer hin die Bucht entlang gibt es einen ausgesprochen schönen Spazierweg. Irre Wolkenformationen, ein schon fast kühler, angenehmer Wind, manchmal auch etwas Regen – ein Hauch von dem Irland, wie Felix es sich vorgestellt hat. Am Morgen das übliche irische Frühstück (Cornflakes, Toast, Tee, Ei, Würstchen, Speck, Salzbutter und Orangenmarmelade), dann mit dem Bus nach Galway und mit einem anderen Bus durch die Connemara-Berge. In Clifden nach dem Spaziergang trinkt Felix Cidre und dann erneut in Galway, in einem Pub; im Fernsehen wird irgendeine Leichtathletikveranstaltung gezeigt, in Galway findet ein Stadtlauf statt. Felix findet Menschen in Sportklamotten total unerotisch. Zu Fuss zurück nach Salthill, unterwegs in einem Pub trinkt Felix einen Whiskey. Es ist erst halb zehn – Felix wird sich jetzt wohl noch seine Pints genehmigen. Wie gestern; gestern hat es geregnet und Felix war auf einer Flussfahrt (River Corrib) mit alten Ladies aus Amerika und Scotland (Smalltalk), dann in der Kathedrale, wo ein wunderschönes Orgelkonzert gegeben wurde (Requiem?), das ihm die Tränen in die Augen trieb. Überhaupt war Felix seelisch etwas dünnhäutig gestern, obwohl er ja eigentlich immer seelisch etwas dünnhäutig ist, aber gestern war er eben noch etwas dünnhäutiger als sonst. Mittwoch auf Donnerstag, nein Donnerstag auf Freitag war zudem noch Vollmond. Felix wollte ja eigentlich seine Zelte in Salthill abbrechen und weiter nach Sligo, hatte da sogar schon eine Unterkunft gebucht (a very little room, wie die Landlady betonte, da auch in Sligo alles ausgebucht ist), und dann, in der schlaflosen Nacht, rang er sich den Entscheid ab, doch in Salthill zu bleiben, in diesem Zimmer, das ihm sehr behagt (auf einen very little room hat Felix jetzt wirklich keinen Bock). In der Nacht träumt er von singenden Iren mit flammenden roten Haaren und von einem riesengrossen Mond, der nah bei der Erde schwebt, und von der Aare bei Bern, die immer höher steigt, bis sie die Altstadt überschwemmt.

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