Mittwoch, 24. Oktober 2007

Going Nowhere. Ein Reisejournal




Schreib dein Leben auf ein Stück Papier und warte/bis die Zeit vergeht
Spliff, Déja vu (1982)


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Berge der Heimat

Ich habe den Instinkt
aller Trinker: die Gier
nach mehr.
Nach Meeren des Vergessens und
Bergen erträumter Lust:
Dort angekommen, werde ich
still sein
(für einen Moment)



Für Philosophen und religiöse Denker, Dichterinnen und Filmemacher ist das Reisen, das Unterwegssein seit jeher ein Sinnbild für das Leben schlechthin gewesen. Der Weg, den wir zurücklegen zwischen Geburt und Tod, ist eine Reise durch die Zeit, eine Reise ins Unbekannte. Es gibt zwar Zwischenstationen – nennen wir sie Herbergen oder Gasthäuser, in denen wir für eine Weile einkehren und vielleicht sogar ein wenig heimisch werden können –, aber dieser Weg hat kein endgültiges, definitives, sicheres Ziel. Wir wissen nicht, woher wir kommen, und wir wissen nicht, wohin wir gehen. Gewiss, es gibt Erklärungsversuche, Theorien; es gibt Theologinnen und Gurus, Reinkarnationstherapeutinnen und Nahtodspezialisten, Leute, die uns ihre Vermutungen als Gewissheiten verkaufen wollen. Aber wir, die Autoren dieses Berichts, haben jedenfalls noch nie einen Menschen getroffen, der uns glaubwürdig aus eigener Erfahrung von dem grossen unbekannten Land hätte erzählen können, das vor dem Tor der Geburt oder hinter dem Tor des Todes liegt.
Das Leben ist und bleibt also eine abenteuerliche Reise ins Ungewisse, denn niemand – jedenfalls niemand, den wir kennen – kann in die Zukunft sehen (ausser natürlich Uriella, aber die täuscht sich manchmal auch, jedenfalls, was das Datum des Weltuntergangs angeht). Einen Blick in die Zukunft erhaschen – das tönt zwar verlockend. Aber wer möchte als Zwanzigjähriger denn schon wirklich wissen, wie er als Fünfundvierzigjähriger sein wird? Oder als Fünfzigjähriger, wie er als Achtzigjähriger denken und fühlen wird? Kennt er dann den Zwanzigjährigen überhaupt noch, der er einmal war?
Unser Leben gleicht der Reise oder ist eine Reise durch die Zeit. Ein Mathematiker würde diesen Trip vielleicht als eine vektorielle Reise bezeichnen, weil es nur in eine Richtung geht, nämlich vorwärts; auf jeden Fall erscheint uns das so, obwohl wir uns auch in diesem Punkt nicht ganz sicher sein können. Ein Stachel des Zweifels bleibt, ob die Abfolge von Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft eine zwangsläufige sei. Vielleicht handelt es sich dabei um eine Art Wahrnehmungsstörung, wie bei vielem, was wir für Realität halten, weil die Illusionsmaschine in unserem Kopf es als plausibel erscheinen lässt. Dass das Leben eine Reise sei, ist also nur ein Bild – lassen wir es dabei und fangen nicht schon am Anfang dieses Berichts damit an, Haare zu spalten.
Die so genannte Lebensreise ist allerdings eine Reise, die wir eher zu Fuss als mit dem Düsenjet unternehmen. Sicher gibt es manchmal Phasen der Beschleunigung, dann ist es auf dieser Wegstrecke eben eine Reise mit dem Düsenjet, aber meistens brauchen wir unsere Zeit, bis wir merken, welche Distanz wir zurückgelegt haben – bis aus den aufeinander folgenden, gewissermassen willkürlichen Momenten unseres Daseins so etwas wie eine Geschichte geworden ist.

Das Leben als Roadmovie zu begreifen, hat einen therapeutischen Aspekt, weil es bedeutet, sich immer wieder dem Fremden und Anderen auszuliefern, sich vom Unbekannten faszinieren zu lassen, das Ungewisse zu ertragen, nichts als selbstverständlich zu betrachten, Grenzen zu überschreiten, neuen Horizonten entgegenzugehen. Der bewusst Reisende hat das, was im Buddhismus «Anfängergeist» genannt wird, die unvoreingenommene Sichtweise eines Kindes, das der Welt noch ohne Vorurteile und fixe Vorstellungen begegnet. So wie das Kind im Märchen «Des Kaisers neue Kleider» als einziges auszusprechen wagt, was eigentlich alle sehen könnten, nämlich dass der Kaiser splitterfasernackt einherstolziert, so wird auch der neugierige Reisende versuchen, das, was ihm begegnet, als Staunender wahrzunehmen wie ein Kind, für das alle Dinge und Ereignisse neu und einmalig sind. Reisen – das ist vielleicht viel mehr eine Frage der inneren Haltung als der zurückgelegten Kilometer.

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