Mittwoch, 26. Januar 2011

Ein Tag wie jeder andere (4)

In diesem Moment erwachte Oesch; es dauerte lange, bis er sich daran erinnerte – oder zu erinnern glaubte – wo und in welcher Zeit er sich befand. Er befand sich in einem Bett, soviel war schon mal klar; und das Zimmer, in welchem das Bett stand, kam ihm auch nicht gerade unbekannt vor. Geweckt worden war er vom Piepsen eines Weckers. Er befreite sich von der Bettdecke und wankte ins Badezimmer: modern, Stil frühe Neunzigerjahre.

So etwas wie ein leises Erschrecken suchte ihn heim, als er in den Spiegel blickte. Das Gesicht kam ihm, genauso wie das Zimmer, nicht unbekannt vor – das war zweifellos er, dieses Gesicht trug zweifellos den Stempel seiner Identität, nur war es ein zu junges Gesicht. Er schätzte es auf 35, höchstens 38 Jahre. Das Gesicht war zwanzig Jahre zu jung für seinen Geschmack – oder vielmehr für sein Selbstverständnis. Beim Erwachen hatte er sich als 55-Jährigen in Erinnerung, aber das mochte der Nachhall eines Traums gewesen sein, der schon erheblich verblasst war. Ist doch schön, dachte er flüchtig, wenn man plötzlich zwanzig Jahre jünger ist, wer wünscht sich das nicht. Manch einer erwacht aus einem Alptraum, in dem er sich als Greis träumte, und nimmt erleichtert war, dass er wieder der Jüngling ist, als den er sich wähnte. Aber bei ihm war es eben nicht so. Bei ihm fühlte es sich eher so an, als würde der Alptraum hier und jetzt beginnen. Er erinnerte sich daran, dass er im Traum etwas gesucht hatte, etwas oder jemanden, und dass er auch etwas gefunden hatte, etwas oder jemanden, aber keinesfalls das oder den, das oder den er gesucht hatte. Er schüttelte den Kopf. Er begann sich bereits an sein vermeintlich neues, aber vermutlich altes, das heisst jüngeres, Ego zu gewöhnen. Er war ein Mann, der sich auf das mittlere Alter zu bewegte, nicht mehr ein Jüngling, bewahre, der Bonus der Jugend war längst schon verspielt, aber doch noch weit entfernt von der statistischen Mitte des Lebens. Obwohl er sich nicht wirklich fit fühlte heute morgen. Wahrscheinlich hatte er gestern Abend etwas zu intensiv ins Rotweinglas geschaut, das kam ja nicht eben selten vor. Klar, er wohnte im Zürcher Kreis 5, allein in einer recht geräumigen Zwei- oder Zweieinhalbzimmerwohnung, ein bisschen junggesellenhaft eingerichtet und ungeputzt, aber ganz bequem. Klar, er war beim Hilfswerk angestellt, seit Kurzem erst, als Redaktor einer Fachzeitschrift und eines Jahrbuchs für Jugendliche und als Assistent der Verlagsleitung. Ein idealer Job für Oesch, in dem er bei einem anständigen Gehalt nicht eben überfordert wurde und seine Freiheiten hatte. In eine Bank hätte Oesch nicht gepasst, genauso wenig wie in eine Werbeagentur. In einer Werbeagentur hatte er kurz gearbeitet, aber da gingen ihm die ewigen Bezeugungen der Mitarbeitenden, wie toll sie alle waren, und dass man wenigstens so tun musste, als wäre man permanent im Stress – der Tag hat 24 Stunden, die Woche sieben Tage – schon bald gehörig auf den Kecks. Nein, das gemächliche traditionsreiche Hilfswerk, das zudem über ein komfortables finanzielles Polster verfügte, passte da schon besser zu ihm. Oesch war nicht faul, aber er war wahrscheinlich weiter davon entfernt, ein Workaholic zu sein, als von der Faulheit. Und Oesch war auch nicht sehr ehrgeizig – er war wiederum weiter vom Ehrgeiz entfernt als von der Bequemlichkeit, genauso, wie seine Natur im Raum zwischen Askese und Genusssucht weit näher bei der Genusssucht als bei der Askese angesiedelt war. Das alles kam Oesch in den Sinn, als er sich rasierte. Ob er wohl regelmässig von solchen Phasen der Selbsterkenntnis heimgesucht wurde. Dabei fiel ihm auf, à propos Genusssucht, dass sein Bauch weit weniger dick war, als er ihn in Erinnerung hatte – er war eigentlich kaum ein Bäuchlein und hatte nicht viel gemeinsam mit dem Bild der Wampe, das ihm im Kopf herumspukte. Wenn ich mich tatsächlich als 55-Jährigen geträumt habe, dann muss ich vielleicht in Zukunft etwas auf mein Gewicht achten, dachte er, ohne dass es ihm wirklich ernst damit war. Auch das Pissen fiel ihm übrigens überraschend leicht. Wieder schüttelte Oesch den Kopf.

Er machte sich auf den Weg zur nächsten Tramstation, den nördliche Teil der Langstrasse entlang, die am Limmatplatz endete, wo er mit dem Vierertram Richtung Bahnhof und dann den Limmatquai hinunter bis zum Bellevue und dann zur Tramhaltstelle Opernhaus fahren musste, wo er das Tram zu verlassen hatte, wenn er rechtzeitig an seinem Arbeitsplatz erscheinen wollte.

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