Sonntag, 2. Januar 2011

Ein Tag wie jeder andere (2)

Es dauerte eine Weile, bis Oesch sich begann, an seinen neuen Zustand zu gewöhnen oder ihn zumindest als Realität zu akzeptieren. Am Abend eines Tages, den Oesch weitgehend untätig verbracht hatte – er hatte ein wenig an seinem Computer herumgespielt, Golf Solitaire und Two of a Kind, ein wenig am Fernseher herumgezappt, hatte eine indonesische Nudelsuppe gekocht und gegessen, war von einem Zimmer ins andere gegangen, hatte sich dabei ertappt, wie er laut mit sich selber sprach – entdeckte Oesch, dass er der neuen Situation momentan beinahe etwas abgewinnen konnte. Das war aber allerdings erst, nachdem er eine Flasche Weisswein und eine halbe Falsche Roten intus hatte. Er hing vor dem Fernseher auf der Couch und sah sich die erste Folge der „Herr der Ringe“-Trilogie ab DVD an. Das plötzliche Gefühl des Wohlbehagens ging von dem (wahrscheinlich trügerischen) Bewusstsein aus, dass es absolut nichts und vor allem niemanden gab, der oder das ihn nun stören konnte – der Kern dieses Wohlbehagens war das (ganz bestimmt trügerische) Gefühl einer absoluten Freiheit. Er konnte tun und lassen, was er wollte – wer sollte ihn dafür kritisieren, wer ihn daran hindern? Höchstens seine eigene Erziehung oder Prägung oder Konditionierung oder wie man das nennen wollte. Er war frei! Niemand beobachtete ihn (ausser er sich selbst).

Nachdem er auch die Flasche Rotwein geleert hatte und eine zweite zur Hälfte geleert war, verflüchtigte sich sein Wohlbehagen allerdings rapide. Er konnte dem Film nicht mehr folgen; kalte Schauer jagten über seinen Rücken, sein Unterleib zog sich zusammen. Vielleicht wurde er krank? Ja, und dann? Es gab jetzt nicht nur keinen Aluk mehr, der ihm notfalls Tee kochte, ihm den Rücken mit Tigerbalsam einrieb und ihn tröstete, es gab auch keine Ärzte und Krankenschwestern mehr und keine 24-Stunden-Permanence-Praxis im Hauptbahnhof und keine Notfallstationen in den Spitälern, das heisst, die Notfallstationen gab es schon noch, einfach ohne Ärzte und Krankenschwestern und Patienten (nahm et jedenfalls an, gecheckt hatte er es ja noch nicht), notfalls musste er in eine Apotheke oder eine Praxis einbrechen, aber was hiess in diesem Fall schon einbrechen, juristische Tatbestände waren in der Welt, wie sie jetzt war, ganz irrelevant und nichtexistent geworden (denn es gab ja auch keine Polizisten und keine Richter mehr, wenngleich auch noch Polizeistationen und Gerichte), er, Oesch, musste also in Apotheken oder Arztpraxen einbrechen und sich Medikamente besorgen. Allerdings war sein medizinisches und pharmazeutisches Wissen beschränkt, sehr beschränkt. Dabei fiel ihm ein, dass er sich dann gleich mit ein paar Sachen aus dem Giftschrank versorgen konnte, die ihm dieses elende Leben hier ein wenig erleichtern konnten, zum Beispiel Valium oder Morphium, und überhaupt musste er daran denken, seinen Alltag zu organisieren. Er musste sich mit Lebensmitteln versorgen. Also zuerst einmal in einen Supermarkt einbrechen (aber was hiess da einbrechen?), das konnte er gleich morgen früh tun. Er könnte sich auch Geld beschaffen, aus der Ladenkasse oder vielleicht auch in einer Bank, was davon abhing, wie stark das Geld gesichert war. Geld hatte in den letzten Jahren seine materielle Seite sowieso zusehends verloren und zwar zum reinen Zahlenspiel verkommen. Sich Geld zu beschaffen machte momentan überhaupt keinen Sinn, aber da er natürlich durchaus damit rechnete, dass der momentane Zustand irgendwann ein Ende haben würde, war die Frage der Geldbeschaffung, sozusagen im Hinblick auf eine allerdings höchst ungewisse Zukunft, durchaus einen Gedanken wert. Der kluge Mann sorgt vor, sagte Oesch laut und lachte unfroh. Es wäre auch durchaus nicht ohne Reiz, in fremde Wohnungen einzusteigen und sich da ein wenig umzusehen. Er konnte morgen gleich bei seinen Nachbarn beginnen, die er noch nie besucht hatte; er hatte sich schon lange gefragt, wie die wohl eingerichtet waren.

In den Laden, eine Filiale der österreichischen Spar-Kette gleich via-à-vis von seinem Haus, brauchte er gar nicht einzubrechen. Der Laden war zwar ebenfalls menschenleer, aber beleuchtet und offen. Auch die Kühlregale funktionierten tadellos, wie Oesch feststellen konnte. Die Energieversorgung war also trotz allem, was passiert sein mochte, nicht oder noch nicht zusammengebrochen. Sogar das Brot war, wie Oesch sich überzeugen konnte, noch einigermassen frisch oder sozusagen frisch. Ziemlich wahllos stopfte Oesch Lebensmittel in die mitgebrachten Taschen. Zu bezahlen brauchte er ja nicht. Er konnte gar nicht bezahlen. Trotzdem fühlte er sich unwohl bei seinem Tun. Streng genommen war die Aktion, die er hier vollzog, Ladendiebstahl, aber der Begriff verliert, wie überhaupt jede Moral, sozusagen jeden Sinn, wenn man schätzungsweise der einzige noch vorhandene Mensch auf dieser ganzen gottverdammten seelenlosen Erde ist. Das wusste Oesch natürlich nicht, musste aber immer mehr davon ausgehen, da sich bisher auch medienmässig kein menschliches Wesen aus der Zeit nach dem 10. Dezember zu Wort gemeldet hatte oder sonstwie bemerkbar machte.

Nachdem Oesch zu Hause die Lebensmittel im Kühlschrank und im Küchenkasten deponiert hatte, läutete er vorsichtshalber an der Tür seiner Nachbarn, aber es reagierte natürlich niemand und die Tür war verschlossen. Sämtliche Türen, die er im Haus ausprobierte, waren verschlossen, bis auf die Tür, die zu einer der Penthousewohnungen führte. Nachdem er, höflich, wie er nun mal war, aber leider völlig vergeblich geläutet hatte, konnte er das Appartement problemlos betreten. Die Wohnung sah aus, als sei sie eben erst verlassen worden, überall fanden sich Spuren des Alltagslebens, das sich in diesen Wänden abgespielt hatte: abgelegte Kleider, verwelkende Blumen auf dem Tisch, herumliegende Illustrierte, eine angebrochene Cornflakes-Packung auf dem Tisch, eine Tasse erkalteten Tees... Oesch betrat das fremde Schlafzimmer und entdeckte in sich einen Impuls, der ihm sogleich peinlich war: Er hatte das Bedürfnis, in Schubladen zu stöbern und Schränke zu durchwühlen. Doch da liess ihn ein Geräusch aufhorchen: ein Knacken und Schaben, vielleicht auch ein kurzes Schnauben oder Stöhnen... Oesch verharrte reglos, zutiefst erschrocken, schwankend zwischen Hoffnung und Furcht – so blieb er für vielleicht fünf Minuten stehen, war ganz Ohr, atmete nur flach, um ja kein Geräusch zu verpassen – aber nichts rührte sich mehr, und Oesch wollte seine Examination schon fortsetzen, kopfschüttelnd; da war er wohl einer Sinnestäuschung erlegen, einer akustischen Halluzination. Noch während er das dachte, hörte er weit entfernt, weit unten im Haus eine Tür zuschlagen.

Ohne dass er hätte begründen können, warum, war Oesch in höchstem Mass alarmiert. Er eilte über das Treppenhaus in seine im vierte Stock gelegene Wohnung hinunter – den Lift zu nehmen getraute er, der unter Klaustrophobie litt, sich nun, da sich alles so verändert hatte, erst recht nicht mehr, das fehlte noch, dass er im Lift stecken blieb, und kein Alarmknopf der Welt konnte ihn aus dieser Zwangslage befreien – er eilte also zu Fuss zu seiner Wohnung hinunter, seine Wohnungstür, die er offen gelassen hatte – warum auch nicht? – war zu, daher also das Geräusch; wahrscheinlich ein Windstoss, aber woher? Es gab im Inneren dieses gut isolierten Hauses keine geheimen Winde! Und als Oesch seine Wohnung betreten wollte, musste er feststellen, dass die Tür abgeschlossen war.

Zunächst war Oesch einfach nur perplex. Total verblüfft. Der erste Gedanke, der ihm spontan durch Hirn fuhr, galt Aluk: Aluk ist nach Hause gekommen, irgendwie hat sich der Spuk verflüchtigt und alles ist wieder normal. Oeschs Herz pochte und hämmerte. Er läutete an seiner Tür. Nichts rührte sich. Oeschs Hände fuhren in seine Hosentaschen, aber da war nichts, nur ein Papiertaschentuch und ein Feuerzeug und ein nutzloses Handy, aber kein Schlüssel, natürlich nicht, denn der Schlüssel befand sich ja in der Wohnung, aus der er nun ausgeschlossen war. Das konnte doch nicht sein! Oesch hämmerte mit seinen Fäusten an die Tür, rief «Aluk, Aluk!», so lange, bis er, völlig ausser Atem, die offensichtliche Sinnlosigkeit seines Tun erkannte. Er wählte – zum xten Mal seit der rätselhaften Verwandlung der Welt und der Versteinerung der Zeit – auf seinem Handy die Nummer von Aluks Handy und zum xten Mal meldete sich lediglich die Mailbox.

Ganz plötzlich wurde Oesch von einem tiefen Gefühl der Einsamkeit und des Verlusts ergriffen. Die Flut im Meer der Trauer, das auch sonst an die Gestade seiner Seele brandete, stieg ins Uferlose. Diese Trauer galt weniger ihm selbst als Aluk, nicht seiner eigenen Einsamkeit, sondern dem Umstand, dass er Aluk irgendwo allein zurückgelassen hatte. Er empfand ein brennendes Schuldgefühl, so, als habe er Aluk bewusst und willentlich im Stich gelassen. Die Art seiner Gefühle für Aluk war so, dass er Aluk nicht leiden sehen konnte. So, als sei er ihm buchstäblich ans Herz gewachsen, empfand er Schmerz und Verzweiflung seines Gefährten um ein vielfaches verstärkt bei sich selbst. Er wusste, dass das sentimental war, aber er empfand es so, als habe Gott – an den er im Übrigen nicht einmal glaubte – ihm das Schicksal von Aluk persönlich anvertraut. Er verstand das als die Bewährungsprobe seines Lebens – konnte er seinen Bruder tragen? Insofern war die Beziehung zu Aluk für Oesch weit mehr als eine normale Beziehungskiste. Aluk war für Oesch – natürlich in einem übertragenen Sinn – zu einem Teil seiner selbst geworden. Und zwar zum wichtigsten Teil seiner selbst.

Oesch sass auf einer Stufe im Treppenhaus vor seiner abgeschlossenen Wohung, während ein solcher Gefühlsstrum durch seine Brust jagte, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Er sass da, bis er es nicht mehr aushielt. Die Wohnungstür mit Gewalt zu öffnen, schien ihm absolut sinnlos – ohne dass er hätte sagen können, warum. Wie im Traum wusste er, dass ihn in seiner Wohnung alles Mögliche erwarten konnte – so, wie es seit dem ominösen 10 Dezember schliesslich dauernd passierte –, aber sicher nicht Aluk. Was also wollte er in seiner Wohnung? Die Vorstellung, seine Wohnung jemals wieder zu betreten, erfüllte ihn mit Widerwillen, ja Ekel. Eine Wohnung mag in der normalen Welt ein Ort der Geborgenheit sein – in der Welt, in der Oesch sich jetzt befand, war die eigene Wohnung ein Gefängnis oder gar ein Grab.

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