Samstag, 17. April 2010

Traurige Jäger (28)

Tausenderlei bunte Vögelein auf den Bäumen begannen zu trillern und schienen mit ihrem mannigfaltigen frohen Gesängen Willkomm und Gruss zu bieten der frischen Morgenröte, die bereits an den Pforten und Erkern des Ostens die Reize ihres Angesichts enthüllte und aus ihren Locken eine unzählige Menge feuchter Perlen schüttelte, in deren süssem Nass sich die Pflanzen badeten und nun aus ihrem Schosse weissen feinen Perlenstaub auszustreuen und nieder zu regnen schienen. Die biegsamen Weiden tröpfelten erquickliches Manna, das Brünnlein lachte plätschernd, die Bäche murmelten, die Wälder wurden heiter, und die Wiesen schmückte reicher der Glanz des kommenden Morgens.

Sancho dehnte und reckte sich, dann öffnete er das linke Auge, dann ganz schnell das rechte. Er war überzeugt davon, tot und gestorben zu sein, gefressen von den kannibalischen Urmenschen; aber als er an sich hinunter schaute, war alles noch da, sogar sein dicker Wanst. Dann glaubte er für einen Moment, dieser Wanst sei vielleicht ein ätherischer und er befinde sich im Paradies oder sonst einer Art Überwelt, aber dann knurrte dieser Wanst ganz unätherisch und unesoterisch, und da wusste er, dass er sich noch in irdischen Gefilden befand, was aber nicht weniger erstaunlich war, als wenn er sich Harfe spielend auf einer Wolke sitzend wieder gefunden hätte.

Denn er konnte sich ganz und gar nicht erklären, wie er aus den Zähnen der Urmenschen so ganz und gar unbeschadet hatte hervor- und herausgehen können. Gewiss: es hatte in seinem Leben nun schon genug Wendungen gegeben, die nicht zu verstehen waren. Nicht mit dem Verstand, wenn man von eher durchschnittlicher Intelligenz war wie Sancho. Wenn er rekapitulierte: zuerst war da der Wachsaal mit der schlafenden Schwester gewesen (wie war er überhaupt in diesen gekommen? Er hatte sich ganz und gar nicht krank gefühlt), dann die Sache mit den Cerberanern, des Weiteren das Intermezzo als Weltdiktator, die schrecklich leeren, hell erleuchteten Strassen in der Nacht, Amerika und das Bermudadreieck des Fortschritts, die Schwester des Sheriffs und der Hund Idefix, der nur kurz seine Lebensbahn gekreuzt hatte, leider, Misericordia City, dieser Wahnsinn von einer Stadt, an die es nur ungern und mit Scham zurückdachte, die Schattenengel, das «Café Universum», ein Morde, den man auch als Sachbeschädigung verstehen konnte, die hungrigen Urmenschen und Urahnen – wenn man das alles so überblickte, dann war die momentane Situation an Harmlosigkeit und Heiterkeit gar nicht mehr so zu überbieten.

Sancho schaute sich um, ob er irgendwo seinen Herrn entdecken könne. Und richtig, nicht weit entfernt lag Don Quichotte mit weit offenem Mund im Gras, nur bekleidet mit einem Hemd, das ihm allerdings bis zu den Kniekehlen reichte, so dass man nur gerade die hageren und haarigen Unterschenkel sehen konnte, und schnarchte. Oben schaute sein Antlitz heraus mit leicht gekrümmter Adlernase, tief liegenden, jetzt geschlossenen Augen, lückenhaftem Gebiss und grossem melancholischem Schnurrbart, der noch ziemlich schwarz war und deshalb im Kontrast stand zu dem schütteren, ergrauten Haupthaar. Ein Gesicht, selbst jetzt, im Schlaf, voll feierlichem Ernst, und so hohlwangig, so wenig Backenzähne waren ihm verblieben, dass die Wangen einander im Innern zu berühren schienen.

Neben dem Ritter lag im Gras seine Kleidung: Ein Wams aus chamoisfarbenem Leder, an dem die Knöpfe entweder fehlten oder nicht zueinander passten, befleckt mit jenem Rost, den Regen und Schweiss auf dem löchrigen Panzer hinterlassen. Die enge braune Kniehose von lohfarbenen Flicken verunziert, die grünseidenen Strümpfe nur mehr ein Gitterwerk aus Laufmaschen. Und dann ein Sammelsurium aus Harnisch und Waffenzeug, eine von Schimmel befallene schwarze Ritterrüstung, der goldene Helm Mambrins in Form eines Bartbeckens, Schild, Lanze, Schwert.

Und richtig: Unter einem Baum weidete ein Pferd, hager und langhalsig wie sein Herr, man errät es, Rosinante, und neben ihm der Graue, sein liebes Eseltier.

Da machte Sanchos Herz einen Riesensprung. Ja, nun war man endlich daheim! Sofort musste er den Don wecken, um ihm die ungeheuerliche Tatsache dieser letzten und endgültigen Verwandlung vor Augen zu führen.

Don Quichotte richtete sich kerzengerade auf, als er von Sancho an den Schultern geschüttelt wurde, und schaute sich mit einem vom Schlaf noch etwas irren Blick um. «Wo sind wir?» Zum ersten Mal zeigte sein Gesicht einen Ausdruck von Unsicherheit und Verwirrung. «Aber mein Don!» rief Sancho da begeistert aus, «erkennen Sie denn unser gutes altes Spanien nicht wieder? Daheim sind wir, endlich wieder daheim, in unserem guten alten Buch!»

Don Quichotte liess sich indes von der Begeisterung seines Knappen nicht anstecken. Mit Befremden schaute er auf die im Gras liegenden Kleidungs- und Ritterstücke.

«Aber erinnern Sie sich denn nicht, mein lieber Herr?» insistierte Sancho, «Sie sind ein fahrender Ritter, die Blüte und der Spiegel des fahrenden Rittertums! Beschützer der Jungfrauen, der Witwen und Waisen, derjenige, der kein Gesetz anerkennt ausser jenem, das ihm die ritterliche Ehre diktiert, ein Löwe an Kraft und vor allem an Mut – und nicht zuletzt natürlich ein ergebener Diener der Dame seines Herzens, der schönen und edlen und nicht zu überbietenden Dulcinea von Toboso!» – «Was schwätzt er da für einen Unsinn, Sancho? Ich glaube fast, das, was wir in letzter Zeit an Verzauberungen über uns ergehen lassen mussten, hat ihm das letzte Restchen Verstand geraubt! Ein fahrender Ritter soll ich sein, angetan mit diesem verlumpten Karnevalszeug?! Willst du einen Narren aus mir machen? Wohl bin ich ein Streiter; und mein Kampf ist Handlung zwar ohne Zweck, nicht aber ohne Sinn. Gestritten einzig deshalb weil das Schicksal, das ich Cerberus nenne, den Höllenhund, es so will und man dem Schicksal gerade dadurch, dass man sich ihm zu entziehen versucht, erst recht in die Arme läuft. Denn, Sancho, wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um. Es ist ein Paradox und eine tiefe Wahrheit, die du aber nicht verstehst, Sancho, dass man den Verstrickungen des irdischen Daseins nur dadurch entkommen kann, dass man sich bewusst in sie fügt. – Und geh mir weg mit deiner Dame Dulcinea, die die Dame meines Herzens und aus Toboso sein soll! Sancho, Sancho, wer hat dir das nur eingeredet! Auf Toboso, diesem Stern jenseits der Hoffnung, gibt es keine Damen mehr, gibt es keine Trennungen mehr, weder nach Geschlecht, Ansehen, Aussehen, Alter, Einkommen, noch nach Hautfarbe, Rasse, Gerissenheit, Bosheit und Macht wie in dieser jämmerlich verkommenen Menschenwelt. Toboso ist das Element, in das man eintaucht wie der Tropfen in den Ozean, um ununterscheidbar eins mit ihm zu werden, erlöst von der Vereinzelung und verbunden mit Allem.»

Sancho betrübte sich sehr, als er diese eigenartige Rede von Don Quichotte, seinem lieben Herrn, hören musste. Er hatte sich so gefreut darüber, wieder einmal auf festem Boden zu stehen, mit seinem Herrn in ganz normale Abenteuer zu geraten, in handfeste Prügeleien mit handfesten Menschen, die währschafte spanische Küche und dazu einen handfesten Schluck aus der Bota zu geniessen. Hätte doch nur sein Herr geglaubt, ein fahrender Ritter zu sein! Das wäre doch viel normaler als diese Hirngespinste hier!

Nur war immer noch alles so schwankend wie eh und je, erbarmungslos verwirrend, gnadenlos fremd. Wie gerne wäre Sancho Pansa einfach heimgekehrt auf das kleine Bauerngut zu seiner Frau Teresa Pansa und seiner Tochter Sanchita und seinem Sohn Sanchito. Aber dieser Weg, so ist zu fürchten, war ihm ein- für allemal versperrt. Der Mensch weiss zuviel und zuwenig: Das ist seine Qual. Wer sich einmal in den Zeiten umgetan hat, findet nicht mehr zurück in eine einfach, unkomplizierte Gegenwart.

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