Freitag, 24. Oktober 2008

Ich erkenne meine Grenzen, also bin ich




An einem der Freitage beim Spazieren kam mir der folgende Satz in den Sinn: «Ich bin das, wozu mich meine Erfahrungen gemacht haben. Aber weshalb habe ich gerade diese Erfahrungen gemacht?» Dieser Frage möchte ich in einem Text nachgehen. Wenn ich beispielsweise 50 oder 100 Jahren früher geboren worden wäre, hätte ich wahrscheinlich nie und nimmer junge Männer aus Thailand und Indonesien getroffen und mein Leben wäre ganz anders – wahrscheinlich weitaus weniger glücklich, aber wer weiss? – verlaufen. Die Geschichte meines Lebens ist insofern bedeutend und spannend, weil in ihr auf einzigartige Weise Umstände und Zufälle gebündelt sind, ein Zusammentreffen von Faktoren stattfindet, das sozusagen einmalig ist – einmalig, aber aus nahe liegenden Gründen auch wieder symptomatisch. Was ist Wirklichkeit? Vielleicht ist eben doch alles nur ein Traum? Was bleibt von der Vergangenheit, von vergangenen Geschichten? Meine eigene Vergangenheit, meine eigene «Geschichte» kommt mir genau so irreal vor wie die Geschichte überhaupt. Was empfinde ich, wenn ich an die Zeiten von Breschnew oder Nixon denke? Ich sehe vor meinem geistigen Auge fast gespenstische Filmsequenzen in komischen Farben von Menschen mit seltsamen Frisuren und in seltsamen Kleidern. Mich streift genauso ein Gefühl der Irrealität, wie es mich früher, in der Erinnerung, als Kind oder junger Mann streifte, wenn ich an das Jahr 2008 dachte. Das war Science Fiction für mich!
Ich konnte mir als Jugendlicher nie und nimmer vorstellen, 40 zu werden. Und jetzt bin ich, ein nach Feng-Shui-Gesetzen in dieser Welt ausgerichtetes oder auch eingerichtetes Dickerchen, drauf und dran, 53 zu werden. Das ist doch ungeheurlich! Und ich hätte nie gedacht, dass das Älterwerden dermassen viele amüsante Aspekte haben könnte. Tatsache! Ich habe noch nie so viel gelacht wie in den letzten paar Wochen und Monaten. Als ich Ende dreissig eine etwas ausgedehntere Midlife-Krise endlich hinter mich gebracht hatte, offenbarten mir die menschlichen Obliegenheiten immer mehr ihre komischen Seiten. Klar, diese menschlichen Angelegenheiten und Sachen und Verhältnisse und Bewandtnisse und Beziehungen haben natürlich nicht nur diese komische Seite, es gibt weiss Gott auch die dämonische Dimension des hominiden Lebens, das ist ja das Verwirrende. Gerade das kann man als junger Mensch so wenig begreifen und so schlecht akzeptieren. Als junger Mensch willst du Ordnung haben, willst dir ein ordentliches Weltbild schaffen, glaubst noch, dass das möglich ist, gibst dir Mühe, unterteilst in «gut» und «bös», bist guten Willens, wenn dabei auch manchmal übermütig, öfters betrübt, immer mal wieder zornig, ab und an depressiv, fast immer hoffnungslos verwirrt – aber irgendwann gibst du dieses Bemühen auf, erkennst, dass es völlig nutzlos ist, lässt die Widersprüchlichkeiten widersprüchlich sein und Gott einen lieben Mann und Fünfe gerade, erkennst, wie befreiend das Paradoxe ist. Brauchst alles nicht mehr so todernst zu nehmen, vor allem nicht dich selbst. Es gibt nichts Angenehmeres und Befreienderes, als über sich selbst zu lachen. Das kannst du dir als junger Mensch noch nicht leisten. Da musst du erst noch etwas erreichen, was auch immer, ein Lebensziel und so, eine Karriere durchziehen, ein Künstler sein, reich sein, erfolgreich sein, schön sein. Irgendwann ist das gegessen. Ist die jugendliche Schönheit dahin, entfällt auch die Notwendigkeit, gefallen zu müssen. Irgendwann erkennst du, dass du es nie und nimmer schaffen wirst, alle Bücher zu lesen, alle Länder zu bereisen oder alle Herzen zu erobern und erst recht nicht alle Länder zu erobern und alle Herzen zu bereisen. Irgendwann wird dir bewusst, dass das letzte Hemd tatsächlich keine Taschen haben wird. Gibst du dich mit dem zufrieden, was dir zu-fällt, fällt plötzlich eine Menge Stress von dir ab und deine Schultern werden leicht, wenn auch dein schwerer und runder gewordener Bauch zu verhindern weiss, dass du abhebst. Pflicht weicht immer mehr der Kür. Und, so paradox das klingt, der bedrohlich näher rückende Tod verleiht dem Leben eine besondere bittere Süsse. Gerade das Bewusstsein der Begrenztheit der Zeit, die man auf dieser Erde zur Verfügung hat, zwingt einen schon fast in die Gegenwart hinein, in ein Erleben des legendären Hier und Jetzt – ganz ohne Yoga oder bewusstseinerweiternde Drogen. Die relativierende Wirkung dieser zunehmenden Todesnachbarschaft schärft das Gefühl für den Lebensgenuss – und für die Absurdität des menschlichen Seins, oder vielleicht des Seins überhaupt. Ich erkenne meine Grenzen, also bin ich. Wie soll ich irgendetwas begreifen, wirklich erkennen, begreifen – das Wesen der Zeit, das Leben, die Wirklichkeit, den Tod – und dann erst Gott! Religion, die vorgibt, Gott zu begreifen, zu verstehen, erklärbar zu machen, ist die wohl allergrösste denkbare Überheblichkeit, die schlimmste und unheilbringendste Hybris, überhaupt denkbar ist. Ein lächerlicher Kinderversuch, absolut unreligiös im Grunde.

Keine Kommentare: