Donnerstag, 8. Mai 2008

Unheilige George



George II. von England

Nach zwei weiteren Gläsern Bier mit Schorsche im Club verabschiedet Felix sich. Er ist in Hochstimmung und zieht aus, sich zu betrinken. Erst im «de Pul», mit einem Pärchen, er besoffen und voller Weltschmerz, nicht unsympathisch, sie sehr nett. Sie verschwinden dann mit dem Taxi in den Red-Light-Distrikt, während Felix in einem indonesischen Restaurant etwas isst. Dann in eine andere Kneipe. Später erfährt Felix vom Amerikaner Stephen, dass dies eine der Kneipen ist, in welchen «freie» Stricher anzutreffen seien – und die mitzunehmen gefährlich sei. Felix leuchtet in dieser Kneipe das halb holländische, halb surinamesische Gesicht seines zweiten Georges an diesem Tag entgegen. Der hat eine sehr fleischliche Erscheinung, geile Lippen. Felix ist etwas angesoffen und sie kommen ins Gespräch. Worüber sie sprechen? Wir wissen es nicht, dürfen aber vermuten, dass es sich dabei kaum um viel Geistreiches handelt. Jedenfalls kommt George dann mit Felix ins Hotel, wo sie schmusen und sich gegenseitig einen blasen und George von Felix 100 Gulden bekommt. Ausserdem verabreden sie sich für den nächsten Tag im «De Pul».

Anderntags besucht Felix den Zoo – zuerst den botanischen Garten, wo Felix Fotos macht, die er wenig später aber samt Fotoapparat verliert, dann kommen ihm beim Anblick der tropischen Pflanzen Tiere wie Tiger, Schimpansen, Krokodile und Papageien in den Sinn und er geht in den Zoo, wo er tatsächlich auf Schlangen, Affen, Löwen und natürlich Elefanten, seine Lieblinge, trifft. Nachher in der Sauna vergisst er die Zeit und taucht deshalb später als mit George II abgemacht im «De Pul» auf, unter anderem auch deshalb, weil seine Uhr stehengeblieben ist. In der Sauna gibt’s Sauna, sargähnliche, mit rotem Samt ausgeschlagene Liegen, in denen Männer liegen und in trübem Licht Bier trinken. Schliesslich raucht er wieder einen Grasjoint für fünf Gulden im Coffieshop, trinkt Wasser mit Bubbles und lässt sich von der Musik entführen, ist insgesamt mehr sinnliche Empfindung – und etwas Angst – als Gedankenwelt. Im Hotel versucht er etwas zu lesen, schreitet aber mehrheitlich im Zimmer auf und ab. Plötzlich ist Felix wieder im indonesischen Restaurant mit dem charmanten Kellner. Plötzlich ist er wieder, die kleinen, kaum ins Gewicht fallenden Biere trinkend, in einer Bar. Gegen Mitternacht, angenehm benebelt, auf dem Heimweg in die Kerkstraat. Vor seinem Hotel steht George II. und erwartet unseren Helden offenbar. Dieser ist eher unangenehm überrascht. Der junge Mann erscheint Felix jetzt ein wenig bedrohlich, aber um nichts weniger sinnlich anziehend. George nimmt eine Dusche, sie trinken Fruchtsaft. George holt den Schwanz von Felix raus und beginnt ihm sanft einen zu blasen, Felix wird wider Willen sehr scharf. George küsst Felix sehr intensiv, und dieser holt sich einen runter dabei. Die Lippen, der Mund des dunklen Mannes! Felix liebt ihn und fürchtet sich sehr davor, später. George «operiert» Felix eine Warze im Gesicht weg, von blosser Hand, mit brutaler Gewalt, es ist eine ziemlich blutige Sache – er liebe es, das zu tun, sagt George. Wie George der Erste ist auch dieser George im Sternzeichen der Zwillinge geboren. Später, gegen drei, will Felix ihn bezahlen, nachdem er nicht weiss, ob er will, dass George bei ihm schläft. «I hold you in my arms, you know», sagt George. Aber Felix weiss nicht, wie immer, er kennt George nicht, George wirkt sehr sanft und etwas bedrohlich und sehr verladen. Als Felix ihn bezahlen will, sind etwa 250 Gulden aus seinem Portemonnaie verschwunden, Felix weiss nicht, wie und wann. George II. hatte keine Gelegenheit, Felix etwas zu klauen, soweit Felix weiss, sie waren im Zimmer ja immer zusammen. Zudem ist sonst alles noch drin, Kreditkarten und so. George schwört, dass er nicht der Dieb war. Vielleicht stimmt es ja. Vielleicht hat Felix das Geld ja verloren. Felix kann ihm nur noch zwanzig Franken, dreissig Mark und zwanzig Gulden geben. Die Stimmung wird seltsam, beide fühlen sie sich betrogen oder sind sich jedenfalls nicht sicher, ob sie vom anderen betrogen worden sind. Sie reden nur noch wenig. Schliesslich geht George. Scheisse.

Montag, 5. Mai 2008

Vom Wesen der Poesie



«Jeden Abend legt er sich hin, die Stirne sorgenvoll gefaltet. Er kneift die Augen zusammen, alles kommt ihm hoffnungslos vor, er stöhnt, dann fangen die Sorgen an aufzusteigen, verändern ihre Gestalt, dehnen sich, ziehen sich zusammen, drehen sich um sich selbst, blubbern an die Oberfläche seines Körpers, zerplatzen da und entschweben, während er tiefer und tiefer sinkt bis auf den weichen, dunklen Grund seiner selbst, wo er sich verliert. Am nächsten Morgen sammelt er sich wieder, die Sorgen lassen sich erneut auf ihm nieder, er ordnet sie, lässt sie in sich eindringen, eine nach der anderen, bis er prallvoll ist von ihnen und fast erstickt, dann ist es wieder Abend, er legt sich ins Bett, stöhnt, die Sorgen steigen empor und entweichen. Schön. Dichter, die für Jahrhunderte sprechen, formen daraus Reime.»
Matthias Zschokke, Maurice mit Huhn, Ammann Verlag, 2006.

Montag, 28. April 2008

Die Zeit der Stubenfliege




Eine Fliege, heisst es – wir müssen das irgendwo aufgeschnappt haben – kann man deshalb nicht gut fangen – na ja, was heisst hier fangen, nennen wir das Kind doch unverblümt beim Namen: Eine Fliege kann man also deshalb nicht gut erschlagen, weil sie in einem anderen Zeitmass lebt. Eine Fliege lebt zwar nur einen Tag oder so, aber für sie dauert dieser Tag etwa zwölf Mal so lang wie für uns Menschen, das heisst, wir Menschen leben mithin in einer Zeit, die zwölf Mal schneller verrinnt als die Zeit der Fliege, mindestens zwölf Mal so schnell, sie durchlebt also im auch nicht gerade üppigen Zeitrahmen von 12 Fliegentagen ihre ganze Entwicklung von der Geburt bis zum Greisentum und bis zum Tod, was ja eigentlich auch bemerkenswert wäre und zum Nachdenken Anlass gäbe, aber das ist ein anderes Thema. Weil die Fliege die Zeit zwölf Mal langsamer erlebt als wir, können wir sie nicht erschlagen, oder sie müsste schon sehr unaufmerksam sein, damit wir sie erschlagen könnten, denn unsere Bewegungen, wie wir den mörderischen Arm mit der Zeitung oder der Fliegenklappe gegen sie erheben, erscheinen ihr als geradezu lächerlich langsam, wie in Zeitlupe, weshalb sie unseren Versuchen, sie zu eliminieren, im Allgemeinen gelassen entgegensehen kann, es sei denn, sie sei, am Ende ihres einen Menschentages oder ihrer – mindestens – zwölf Stubenfliegentage, alt und schwach und krank geworden, und dann kann man geradezu von einem Gnadentod sprechen, aber auch das ist wieder ein anderes Thema, denn wir wollen uns hier nicht auch noch mit dem brisanten Thema der aktiven oder passiven Sterbehilfe befassen, sondern mit der Zeit oder vielmehr mit der Relativität unserer Wahrnehmungen. So lasen wir doch letzthin auch, dass die Wissenschaft bewiesen habe, Zeitreisen seien möglich, in die Zukunft sowieso, das können wir auch aus subjektiver Erfahrung bestätigen, reisen wir doch mittlerweile schon seit mehr als fünfzig Jahren in die Zukunft, und ein Astronaut würde in dieser Zeit sogar noch einige Sekunden weiter in die Zukunft gereist sein, fragen Sie uns nicht warum, es hat etwas mit Albert Einstein und seiner Relativitätstheorie zu tun. Nein, es sei ebenfalls möglich, in die Vergangenheit zu reisen, theoretisch sowieso, aber möglicherweise bald auch praktisch, wenigstens ein paar Sekunden lang, auch wenn man sich dann fragen muss, was das bringt, denn schliesslich möchte man, wenn schon, denn schon, richtig in die Vergangenheit reisen, ins Mittelalter etwa oder ins China der Ming-Dynastie oder in die Zeit der Dinosaurier (oder zu den Dinosauriern, Jurassic Park lässt grüssen, doch vielleicht lieber nicht). Und dann ist da noch das Problem mit dem so genannten Grossvater-Paradoxon, das darin besteht, dass ich in der Vergangenheit zumindest rein theoretisch Gefahr laufe, meinen Opa zu erschlagen, womit dann die Kacke am Dampfen wäre. Sie sehen, meine Damen und Herren, das Ganze beisst sich in den Schwanz. Deshalb behauptet die Wissenschaft, man werde, sollte man zukünftig theoretisch und vielleicht bald auch praktisch für ein paar Sekunden in die Vergangenheit reisen können, nicht imstande sein, die Vergangenheit zu verändern, also den Grossvater zu erschlagen, weil man ihn nämlich lediglich von einem Paralleluniversum aus werde beobachten können, denn ja, es gebe eine unendliche Anzahl von Paralleluniversen, in denen jede Möglichkeit der Wirklichkeitsentwicklung durchgespielt werde, also einmal Grossvater lebendig, einmal Grossvater tot, einmal heiratet er seinen Schulschatz, einmal nicht (und in diesem Fall gibt es mich dort drüben logischerweise nicht, aber auch meinen Grosvater gibt es natürlich in den meisten Paralleluniversen nicht, denn die Möglichkeiten der Nichtexistenz übersteigen natürlich die Möglichkeiten der Existenz gewaltig), und so weiter und so fort, es schwindelt einem, wenn man nur schon alle möglichen Schicksalsentwicklungen und -möglichkeiten eines einzelnen Menschen in Erwägung zieht, und erst recht, wenn man sich all diese Möglichkeiten für alle die rund sieben Milliarden Menschen vorstellt, die momentan auf unserem Planeten leben, und dann noch für all jene, die jemals auf diesem Planeten gelebt haben, seit 100'000 oder einer Million Jahren, wie viele sind das wohl? Das wurde auch noch nie zusammengezählt und zusammengerechnet, soviel wir wissen, aber es müssen genug sein, dass, jetzt im christlichen Sinn, der Himmel und die Hölle ziemlich übervölkert sein müssen, sozusagen, wobei die Hölle womöglich noch etwas mehr als der Himmel (doch die Unendlichkeit schluckt das natürlich alles). Dazu kommen dann noch alle zukünftigen Generationen. Aber damit nicht genug: Wenn man nun bedenkt, dass es in unserem Universum oder All womöglich noch ungezählte weitere Sonnensysteme mit von Lebewesen bewohnten Planeten gibt, wird die Vorstellung erst recht geistig nicht mehr fassbar. Und dann ist auch die Abfolge, also das Vorher und das Nachher, alles andere als gesichert. Wer sagt uns, dass die Vergangenheit nicht die Zukunft ist? Wer sagt uns überdies, dass es keinen umgekehrten Determinismus gibt, dass also die Folgen die Ursachen sind und nicht umgekehrt, oder gar sowohl als auch? Schliesslich kann man mit Teleskopen in die Vergangenheit schauen und das Licht von Sternen auftauchen sehen, die es am Ort ihrer Entstehung gar nicht mehr gibt. Vielleicht werden wir ja gar nicht erst geboren, sondern sterben ins Leben hinein, oder es ist die Zeit ganz und gar eine Illusion, eine Wahrnehmung, die vollständig abhängig ist von der Struktur unseres Hirns, eine Art Halluzination, wie unter dem Einfluss von LSD, eine Form der Farbenblindheit, die uns eine lineare Entwicklung bloss vorgaukelt?

Aber nicht nur die Zeit ist relativ, sondern auch unsere Vorstellung vom ganz Grossen und vom ganz Kleinen. Gross, das leuchtet ein, gibt es nur im Vergleich mit etwas Kleinem. Kürzlich waren wir zum Beispiel in Zermatt in den Ferien, da gab es einige hervorragende Beispiele für diese banale Tatsache. Das Matterhorn, etwa, erscheint gross, aber nur deshalb, weil wir selber so klein sind. Die Wissenschaft nun behauptet wiederum, dass sich die Linien des ganz Kleinen und des ganz Grossen von diesem völlig willkürlichen Standpunkt, den wir als subjektive Betrachter einnehmen, sozusagen in beide Richtungen ins Unendliche fortpflanzen. Will sagen: Der Mensch ist klein, der Berg ist gross. Aber beide befinden sich auf dem Planeten Erde, Teil des Sonnensystems. Der Berg ist klein, der Planet Erde gross. Der Planet Erde ist klein, die Sonne gross. Die Sonne ist winzig klein im Verhältnis zu unserer Milchstrasse. Die Milchstrasse ist klein im Verhältnis zu, sagen wir, dem von uns überblickbaren Teil des Alls. Das ist die eine Richtung der unendlichen Linie. Unser ganzes Universum ist bloss ein winziger Baustein im System eines grösseren Universums. Planeten sind Atome, Atome sind Planeten: die andere Richtung. Die Materie, die unseren Körper bildet, ist auf einer anderen Ebene ein Universum, das unserem Universum perfekt gleicht. Und so weiter und so weiter und so weiter, immer ins noch Kleinere und noch Grössere hinein, das ist der Spiegel im Spiegel im Spiegel im Spiegel und letztlich wieder: Unendlichkeit. Materie und Zeit sind zwei Seiten der gleichen Medaille.

Was sagt uns das? Wie können wir diese letztlich für unseren Geist unfassbaren Grundlagen unserer Existenz in unser alltägliches Leben integrieren? Die Antwort: Wir können es nicht. Wir können gar nichts tun. Wir können daraus keine praktischen Erkenntnisse ableiten, wir können daraus keine Lebenshilfe beziehen. Wir müssen die Waffen strecken. Wir müssen akzeptieren, dass wir letztlich nichts wissen, nichts verstehen können. Wir müssen zugestehen, dass es vielleicht einen Gott gibt, vielleicht aber auch nicht, oder dass es völlig irrelevant ist, ob wir von der Existenz eines Gottes ausgehen oder nicht – Existenz, ha! Auch so ein Menschenwort, eines Gottes völlig unangebracht –, dass wir aber allenfalls nicht einmal ein Zipfelchen von diesem Gott mit unserem Geist erfassen werden. Religionen, heilige Bücher? Alles Kinderkram! Wir nehmen uns einfach zu wichtig. Wir haben den Mut nicht, uns unsere Bedeutungslosigkeit zuzugestehen. Dabei könnten wir es uns in dieser Bedeutungslosigkeit ganz bequem einrichten, und vielleicht liegt darin sogar unsere einzige Möglichkeit zum Glück. Wenn wir leiden, dann an unserer Selbstüberschätzung und unserer Hybris und nicht an unserer Bedeutungslosigkeit. Die Tiere leiden nicht, die Bäume leiden nicht und das Gras leidet auch nicht. Nein, wir müssen nicht wichtig sein. Es spielt keine Rolle, dass die Sonne nicht um die Erde kreist und der Mensch nicht der Mittelpunkt des Universums und die Krone der Schöpfung ist – das sollte uns weder beleidigen noch in Verzweiflung stürzen.

Sonntag, 20. April 2008

Zitat des Monats

"So wie Europa eine Entchristianisierung erlebt hat, so dürfte es in der muslimischen Welt zu einer Entislamisierung kommen. Wir reden in unserem Buch deshalb von einer 'Begegnung der Kulturen'. Damit wollen wir nicht sagen, dass das Christentum und der Islam nur verschiedene Wege zu Gott seien, dass es also unter diesen Religionen eine grosse Brüderschaft gebe, oder geben müsse. Das Gemeinsame bei den Welrreligionen liegt darin, dass sie alle ihre soziale Bedeutung verlieren werden."

Emmaneul Todd im Interview in der heutigen "NZZ am Sonntag". Und hier noch der entsprechende Buchtipp
Emmanuel Todd/Youssef Courbage: Die unaufhaltsame Revolution. Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern. Piper-Verlag

Eine unbequeme Wahrheit

Wir sind alle dumm, wir Menschentiere, mehr oder weniger, wobei dieses Mehr oder Weniger angesichts der Unendlichkeit dessen, was wir alles nicht wissen, eigentlich unerheblich ist und nur insofern ins Gewicht fällt, als die etwas Klügeren zwar auch nicht klug genug sind, um die richtigen Antworten zu finden, aber immerhin imstande sein sollten, die richtigen Fragen zu stellen. Ich wage nicht zu entscheiden, wer von den beiden tendenziell glücklicher ist, der Dumme oder der etwas weniger Dumme. Ich vermute, dass es der Dumme ist, denn er ist es, der allenfalls mit Gewissheiten leben kann, während sich der etwas weniger Dumme wohl mit dem Stachel des Zweifels zufriedengeben muss.