Sonntag, 21. Februar 2010

Traurige Jäger (23)

Sancho tippte in den Labtop: «Misericordia ist formell eine parlamentarische Demokratie. Allerdings konstituiert die oberste Regierung des Landes, die Exekutive, sich selbst: gelebte Aristokratie als Herrschaft der Besten. An der Spitze des Staatsgebildes steht der Oberstchefarzt, vergleichbar einem Ministerpräsidenten in anderen Ländern. Es ist dies seit über zwanzig Jahren bereits der ehemalige Schönheitschirurg Prof. Dr. Dr. Johannes Becker-Wegerich. Ihm unterstellt sind sechs Chefärzte, die de facto den Rang eines Ministers innehaben, welche den sechs Departementen Pharmazie (vergleichbar mit einem Volkswirtschaftsdepartement), Venerologie (Aussenministerium), Hygiene (Erziehung), Allgemeine Chirurgie (Landesverteidigung), Spezielle Chirurgie (Justiz, Polizeiwesen, innere Sicherheit), Hals-/Nasen-/Ohren (Geheimdienst), Psychiatrie (Bildung) und dem Departement für moralische Gesundheit vorstehen. Als Aussenstehender ist es am Anfang schwierig, die Organisation des Staates Misericordia, ja der ganzen Gesellschaft zu verstehen und in ein Begriffssystem zu übersetzen, das uns geläufig ist. Misericordia ist in vielerlei Hinsicht seine ganz eigenen Wege gegangen und hat sich so – in unseren Augen – zu einem Exotikum, vielleicht zu einem Modellfall entwickelt. Die oben angeführten Vergleiche der Departemente in Misericordia mit Ministerien in einem uns geläufigen Sinn sind deshalb mit Vorsicht zu geniessen. Ein Beispiel: Die Kompetenzen des Departements für moralische Gesundheit, welches in vielen Bereichen die Funktionen einer Kirche übernommen hat, decken sich in manchen Punkten mit den Kompetenzen des Polizeiwesens in unserem Sinn, das heisst, dass das Departement für m.G. über polizeiähnliche Organe verfügt.

Den Chefärzten unterstellt sind Oberärzte verschiedener Grade, welchen Staatssekretäre und Beamte der höheren Kader entsprechen, aber auch höhere Wirtschaftsfunktionäre und Militärs. Da die gesamte Wirtschaft von der Pharmazie kontrolliert wird und diese wiederum monopolisiert ist, besteht in Misericordia de facto Planwirtschaft. Etwas überspitzt gesagt, funktioniert Misericordia wie eine Mischung aus Nordkorea und der Schweiz.

Nur ein kleiner Teil der enormen Produktion an misericordianischen Pharmazeutika verbleibt im Land. Da die Misericordianer, wie bereits gesagt, das gesündeste Volk der Welt sind, herrscht hier natürlich wenig Bedarf an Arzneimitteln. Deshalb wird der grösste Teil der hergestellten Produkte exportiert, was den Misericordianern natürlich sehr viel Geld bringt.

Die mittleren Kader werden in Misericordia von den Ärzten der verschiedenen Grade gebildet. Frauen findet man bis etwa in die Position von Oberärztinnen, es mögen vereinzelt weibliche Chefärzte vorkommen, zurzeit ist das jedoch nicht der Fall. Das Gros der Menschen in Misericordia wird von Pflegern und Krankenschwestern, Hilfspflegern und .Schwestern, Unterhilfspflegern und –schwestern gestellt. Daneben gibt es aber noch eine grosse Gruppe von so genannten Kastenlosen, die den Bodensatz der misericordianischen Gesellschaft bilden. Jene, die in das Gesundheitswesen Misericordias eingebunden sind, lassen sich aber nur ungern auf diese nicht klassifizierbaren Bevölkerungsschicht ansprechen. Einige streiten sogar rundweg ab, dass es sie gibt.

Das Primat des Gesundheitswesens lässt sich nur schon rein optisch wahrnehmen an der Farbe der «Uniformen», die in Misericordia natürlich weiss ist. Natürlich gibt es Nuancen, Moden und Stile, die aber nur für das geübte Auge wahrnehmbar sind.

Was in Misericordia auffällt, sind Sauberkeit, Ruhe und Ordnung. Speise und Trank sind ausgewogen, bekömmlich und gesund (freilich ist nicht ganz klar, ob die gesunde Ernährung in Misericordia eher auf der naturnahen oder auf der gentechnologischen Bühne tanzt oder gar auf beiden ein bisschen). Alkohol wird in Gaststätten nicht ausgeschenkt, und selbstverständlich ist Rauchen überall strengstens verboten. Dies ist das offizielle Bild, das Misericordia vermitteln will: Die Menschen machen einen frischen, ausgeruhten Eindruck, es sind im Allgemeinen Menschen von einer natürlichen Schönheit. Keine Bettler, Krüppel und Müssiggänger lärmen und johlen in den Strassen, schon vor Mitternacht sind die Strassen selbst einer grossen Stadt wie Misericordia City wie leergefegt. Dass der Schlaf vor Mitternacht der gesündeste sei, das ist hier kein leeres Wort. Natürlich gibt es auch keine Prostitution, keine Sexshops und keine perversen Laster in Misericordia.

Trotzdem gibt es in den grösseren Städten des Landes ein reichhaltiges kulturelles Leben, Konzerte (etwa der berühmten Sanitas-Philharmoniker oder der Menssanaincorporesano-Brassband), Theateraufführungen meist gesundheitspädagogischen Inhalts, vor allem aber wissenschaftliche Vorträge zu medizinischen Themen und verwandten Gebieten, etwa der Prophylaxe.»

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